Als der Großvater die Großmutter nahm

Autor: ehemaliges Mitglied



Karl Mende erblickte einige Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg in einem kleinen Riesengebirgsdorf das Licht der Welt. In der würzigen Gebirgsluft wuchs der Sohn des Häuslers Paul Mende unter der Obhut der aus Breslau stammenden Mutter Martha, geborene Heidenreich, zu einem gesunden Jüngling heran. Nach seiner Schulentlassung trat er in seinem Heimatdorf bei einem tüchtigen Meister die Lehre an, um das Tischlerhandwerk zu erlernen. Er war ein aufgeweckter und gelehriger Junge. Wenn auch in diesen Jahren dem Lehrherrn dann und wann mal die Hand "ausrutschte", so war diese zünftige Handlung keineswegs dazu angetan, den Lehrling zu verdrießen. Vielmehr gehörte dieses althergebrachte Recht zum festen Bestandteil der Lehrzeit. Der Mende-Karl nahm seinerseits alle in der Werkstatt auftretenden Kümmernisse geduldig hin und tröstete sich mit dem bekannten Sprüchlein: Lehrjahre sind keine Herrenjahre!

Nach bestandener Gesellenprüfung öffnete sich für den jungen Handwerksburschen das Tor zur weiten Welt. Hatte er doch jetzt sein festes Einkommen, was ihm gestattete, größere Wanderungen zu unternehmen. Kreuz und quer durchwanderte er das herrliche Riesengebirge. Von ihm aus hätte die Welt nicht größer sein brauchen: Seine Heimat war seine Welt!

Der naturverbundene Mende-Tischler lernte seine Riesengebirgsheimat von Tag zu Tag immer mehr schätzen und lieben. Sein Wanderstab führte ihn ins schöne Bober- und Queistal. Auch das Isergebirge blieb ihm nicht fremd. Über die kühle Iser erfuhr er, dass diese einen Sand führte, der aus zerfallenem Granit bestand, aus welchem vor Zeiten Gold herausgewaschen wurde. Selbst den imposante Breslauer Dom hatte er von außen und innen zu sehen bekommen und hatte dort in friedvoller Stille mit seinem Schöpfer Zwiesprache halten können. Ja, was waren das doch damals für opferfreudige Christen, die dem Herrgott ein solches Haus zu Ehren und Verherrlichung erbaut hatten! So hatte ihm die schlesische Heimat manches Schöne und Erhabene zu bieten.

Es kam aber die Stunde, von welcher an es ihn mit aller Macht nach Hirschberg zog. Das "Warum" mochte er selbst nicht zu ergründen. Eines guten Tages schnürte er sein Bündel, verließ sein Elternhaus im Landkreis Löwenberg und klopfte einen Tag später bei einemHirschberger Tischlermeister an mit der Bitte, ihm in seiner Werkstatt Verdienst zu geben, soweit für einen weiteren Gesellen genügend Arbeit vorhanden sei. Der Meister sah sich das "Bürschen" vom Scheitel bis zur Sohle kritisch an, meinte dann aber, dass noch für einen tüchtigen Gesellen an der Hobelbank Platz gemacht werden könne. Oh, tüchtig und fleißig wollte der Mende-Tischler schon sein! Das gefiel dem Meister, und so durfte er sein Handwerkszeug in der Werkstatt auspacken. - Bald schon war Karl Mende in Hirschberg heimisch geworden, und wegen seiner humorvollen Freundlichkeit, war er bei seinen Kollegen beliebt.

Von Hirschberg aus war das Riesengebirge leicht zu erreichen. Aber war es wirklich das, was ihn wie ein Magnet in diese Stadt gezogen hatte? Oder war es noch etwas anderes, noch im Verborgenen schlummernd?

Es war ein schöner Sonntag. Die Sonne stand hoch am Firmament und empfing die aus der Gnadenkirche kommenden Gottesdienstbesucher mit ihren warmen Strahlen. Der Himmel war blau, die Luft rein und klar. Wie gerne wäre jetzt ein jeder auf der Schneekoppe gewesen, um den Blick weit über Gottes schöne Welt schweifen zulassen.

Karl Mende blieb einen Augenblick stehen, schob das Gesangbuch in die Jackentasche und überlegte, ob er geradewegs nach Hause gehen solle oder nicht. Sofort nach Hause? Nee, das wäre bei einem solchen herrlichen Sonntag wohl doch ein bisschen zu viel verlangt! Mit dem Mittagessen hatte er ohnehin noch ein wenig Zeit. Also schlenderte er durch die Straßen Hirschbergs. Ach ja, es war ein schönes und sauberes Städtchen. Als er sich eingestand, dass diese Stadts o ganz nach seinem Herzen war, stand er plötzlich vor dem alten Burgturm. Das war ja ein mächtiges Mauerwerk! Hatte wohl in Kriegszeiten auch allerhand aushalten müssen.

Zur gleichen Zeit schenkte auch ein bildschönes Mädchen dem Turm seine Aufmerksamkeit. Dieses Bauwerk, das an ein Stück interessanter historischer Geschichte Hirschbergs erinnert, war schon eine eingehende Betrachtung wert.

Wie der Tischler, war auch das um drei Jahre jüngere Mädchen hier fremd. Dass es in der Stadt für längere Zeit als Feriengast sein durfte, hatte es seiner verwitweten Tante zu verdanken, die hier ein größeres Kleider- und Modegeschäft ihr Eigen nannte. Die furchtbare Einsamkeit in den Abendstunden hatte die alte Dame zur Feder greifen lassen, um einen Brief an ihren Bruder, den Apotheker Heinrich Schubert, zu schreiben. - Weil auch Bianca, seine Tochter, ihm schonlange mit einer Reise zur Hirschberger Tante in den Ohren gelegen hatte, war er bereit gewesen, den Bitten der beiden zu entsprechen. So war es gekommen, dass vor einigen Tagen die Postkutsche die Apothekertochter in die Stadt am Riesengebirge gebracht hatte. - Nun stand sie hier am Burgturm und ließ längst vergangene Zeiten an ihren inneren Augen vorbeiziehen. Dem jungen Tischlergesellen gefiel das sehr. Einemsolchen Mädchen war er noch nie in seinem jungen Leben begegnet: diese Schönheit, dieser Gang! War dieses Mädchen nicht der Traum seiner Träume?

Der Mende-Karl konnte den Blick nicht von dem Mädchen wenden. - Oh! Da hatten sich unerwartet ihre Blicke getroffen. Welch ein Pech: nun war er doch ertappt worden! Obwohl unkundig im Umgang mit Mädchen, wie dieses zweifellos eins war, fand er doch den Mut, ihm lächelnd zuzunicken. Und was er nie für möglich gehalten hätte: Es dankte freundlich zurück! Sie kamen sogar ins Gespräch! Dem Mende-Karl war es ums Herz, als hätte er auf einen Schlag Millionen im Lotto gewonnen. Selbst auf dem Nachhauseweg durfte er an der Seite dieser Schönen sein. Wie es schien, war sie mit ihm zufrieden. Vor einemGeschäftshaus blieb sie stehen, reichte ihm zum Abschied die Hand und sagte leise: "Ich bin zu Hause. Auf Wiedersehen!"

Darf ich das Wiedersehen auch wörtlich nehmen?" wollte der Tischler wissen. Ja, er durfte es; nur nicht hier vor dem Haus, sondern wieder am Burgturm, und zwar am nächsten Sonntag zur gleichen Zeit.

Weder Karl Mende noch Bianca Schubert konnten in dieser Nacht Schlaf finden. Die für beide neu entstandene Situation wollte nach allen Richtungen hin beurteilt sein. Leider bin ich - so dachte der Tischler in seinem wurmstichigen Bett - kein hoher Herr, der hoch zu Ross vor der Apotheke in Biancas Heimatort erscheinen könnte, wenn es gilt, den verehrten Herrn Vater um die Hand seiner Tochter zu bitten. Was er dem klugen und hübschen Mädchen zu bieten hatte, das war ein liebend Herz sowie einen ehrlichen und guten Charakter. Würde er aber damit vor einem Apotheker bestehen können? - Auch die 18jährige Bianca Schubert versuchte mit dem Problemfertig zu werden. Starren Blickes sah sie gegen die Zimmerdecke, als könne sie dort all die Bilder des vergangenen Tages wieder sichtbar werden lassen. War es doch ihre erste Bekanntschaft mit einem jungen Burschen, die ihr Herz warm und weit werden ließ. Er schien ein kluger und aufrichtiger Mensch zu sein. Und das es Liebe auf den ersten Blick sein könnte, hatte schon etwas zu bedeuten! Mit achtzehn Jahren konnte man das ja wohl schon beurteilen. Und sein Beruf? Ihr jedenfalls würde es genügen, eine Frau Meisterin zu sein. Mit vereinten Kräften würden sie schon zeigen, was mit Fleiß und Ausdauer zu schaffen sei.

Je öfter sich das junge Paar traf, je mehr gelangten sie zu der Überzeugung, dass der Herrgott sie füreinander geschaffen hat. Darum sollte sie nichts in der Welt trennen können.

Dann aber kam die Zeit, im welcher sie vo9r ein schweres Problem gestellt wurden: Die Tante war hinter das Geheimnis der beiden Liebenden gekommen. Da sie glaubte, es ihrem Bruder schuldig zu sein, auf seine Tochter gut aufzupassen, schrieb sie ihm einen Brief.

Auch in der Apotheke hatte man eine andere Vorstellung von einem zukünftigen Schwiegersohn! Als der Brief aus Hirschberg den Bruder erreichte, schlug man die Hände über dem Kopf zusammen schritt unverzüglich zur Tat: Bianca musste zurückkommen.

Am Tag des Abreise gab es am Burgturm ein trauriges Abschied nehmen. Sowohl Karl, der Tischler, wie auch Bianca waren sich darüber im Klaren, dass ihr junges Glückauf schwachen Füßen stand. Grau und verhangen lag die Zukunft vor ihren Augen. "Du musst jetzt stark sein, Bianca", ermunterte er die Geliebte und tupfte ihr mit seinem Taschentuch behutsam die Tränen aus den Augen. "Wie einfach würde alles für uns sein, wenn Du aus meinem Stande wärst", seufzte er.

"Wir müssen halt sehen, dass wir trotzdem den Ehebund miteinander eingehen können", tröstete sie zuversichtlich.

Das waren die letzten Worte, eine Stunde später stieg Bianca, von der Tante begleitet, in die Postkutsche und ließ den von ferne winkenden Karl einsam und verlassen zurück.

Monate vergingen, in welchen sie sich die schönsten Liebesbriefe schrieben, ohne dass Bianca dabei ertappt worden wäre; denn sie erhielt die Post von ihrem lieben Karl unter "postlagernd". Aber auch diese Zeit nahm ein Ende. Wenn auch ihre Liebe über schier unversiegbare Quellen verfügte, so musste sich die Tochter doch eines Tages dem Willen der Eltern beugen und einen Mann heiraten, den sie ausgewählt hatten. Das war für Bianca sehr bitter. In den letzten Briefen hatte ihre ganze Seelennot ihren Niederschlag gefunden. Offen und ehrlich, wie sie war, hatte sie dem Tischler nichts verschwiegen; vielmehr flehte sie ihn in ihren Zeilen um Hilfe an. Wie aber sollte er ihr helfen können? Gegen den Willen der Eltern war nichts auszurichten. So musste seine Bianca dem anderen ihr Ja-Wort geben.

Von Stunde an war es dem Tischler anzumerken, dass ihm die Sonne untergegangen war. Blass und still war er geworden; selbst das geliebte Riesengebirge erschien ihm fremd und trostlos.

Soviel der Meister auch reden mochte; der Mende-Karl war nicht mehr in Hirschberg zu halten; er wollte wieder zurück in sein Heimatdorf. Bevor er die Stadt verließ, lenkte er seine Schritte noch einmal zum alten Burgturm, wo er Bianca kennenlernte und wo sie sich in der Freizeit immer wieder getroffen hatten.

Der alte Lehrmeister in KarlMendes Heimatdorf hatte zu dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Es war ihm sehr recht, dass der "Kolle" wiederbei ihm arbeiten wollte. Gesellen vom Schlage Karl Mende gab es leider wenig. Am meisten begrüßte es aber die Frau Meisterin, dass der Karl wieder zurückgefunden hatte, denn nebenher machte er für sie in der Stadt alle Einkäufe. Weil er schneller als der Meister am "Kratschen" vorbei fand, verstand sie es stets so einzufädeln, das der Karl nach Löwenberg zum Beschläge-Einkauf ging.

Wieder einmal hat der Herrgott so einen schönen Sommertag werden lassen, wie damals, als der Tischlerin Hirschberg Bianca kennengelernt hat. Die Bienen summten lustig über den Dorfstraßen. Es ging auf Mittag zu. Nur noch ein kurzer Fußmarsch, dann hatte er Löwenberg erreicht..

Zuerst musste er zum Fleischer und für die Frau Meisterin eine "Knoblichwurst"b kaufen. Von hier aus ging es dann ins Stadtinnere, wo er die weiteren Aufträge gewissenhaft erledigte. Als er gerade den Marktplatz überqueren wollte, fuhr im leichten Trab eine offene Kutsche an ihm vorüber. Rein zufällig warf er einen Blick auf das junge Paar, das hinter dem Kutscher saß. Nach seiner Seite hin saß die Dame, die ihn unverwandt ansah. Sieht aus wie Bianca; zum verwechseln ähnlich, dachte der Tischler. Nachdem die Kutsche an ihm vorüber war, sah sich die junge Dame unauffällig nach ihm um und nickte ihm kaum merklich zu. Bianca! Durchfuhr es ihn, und das Blut stockte ihm in den Adern. Wie vom Schlag gerührt blieb er stehen. Er schüttelte den Kopf. Es sah aus, als beugten sich seine schmalen Schultern. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte er die Kutsche, die in Richtung katholische Kirche fuhr. Wie war es möglich, dass er sie nicht früher erkannt hatte? Er wusste es nicht. Eines aber wusste er: Den Weg nach Löwenberg würde er in Zukunft noch lieber und froheren Herzens gehen als bisher.

Ein Jahr nach dem anderen versank im Meer der Ewigkeit. Vergeblich hatte er gehofft, Bianca noch einmal in Löwenberg zu begegnen. Aber so sehr er auch Ausschau hielt, er sah sie nicht wieder.

Gevatter Tod hat noch zu keiner Zeit einen Unterschied zwischen arm und reich gemacht. Er machte es auch in der Apotheke nicht. Mit knöchernem Finger klopfte er eines Tages dort an und hieß den Apotheker mitkommen. Auch den Schwiegersohn holte er kurzerhand von der Seite Biancas und machte sie, noch jung an Jahren, zur Witwe.

Als die junge Witwe die Trauerfarbe abgelegt und auch dieses Leid überwunden hatte, flammte die Jugendliebe zu Karl Mende wieder mit großer Macht in ihr auf. Jeder ihr abermals entgegengebrachter Widerstand wurde schon in den Anfängen gebrochen. "Ich bitte zu bedenken, dass ich heute kein unmündiges Mädchen mehr bin. Von wem ich mich diesmal freien lasse, bestimme alleine ich!" erklärte Bianca ihrer Verwandtschaft kurz und bündig. Diese Meinung änderte sich auch nicht, als man ihr damit drohte, dass ein Ehebündnis mit einem Tischler zugleich Bruch mit dem Elternhaus wie auch der Verwandtschaft bedeutet.

Als Bianca die Postkutsche ins Löwenberger Land bestieg, gab es niemand, dem sie hätte "Auf Wiedersehen" sagen können. Auch das war schwer für sie. Aber sie wusste auch, dass Karl ihr alles hundertfältig entgelten werde. Sie hatte ihm geschrieben, wusste, dass er unverheiratet geblieben war und jetzt auf sie wartete.

Nun war sie am Ziel ihrer Reise, am Ziel ihres Lebens. Glückstrahlend fielen sie sich in die Arme. "Wie lange habe ich auf Dich gewartet, und nun bist du hier!" stammelte der Tischler. "Karl, ich bin ja so glücklich! Vergib mir bitte; ich konnte doch damals nicht anders", weinte Bianca an seiner Brust. Da strich ihr der Karl behutsam über den Kopf und flüsterte ihr ins Ohr: "Geliebte Bianca, ich habe Dir nichts zu vergeben; ich habe dir aber unendlich viel zu danken!" "Ach, Karl….", erwiderte sie kaum hörbar und ließ ihren Tränen freien Lauf. Liebevoll geleitete er sie ins Haus, wo sie von seinen Eltern mit großer Freude empfangen wurde. Es war rührend, wie die alten Leute um das "Madl" besorgt waren. All die Zuneigung, die sie auch von den übrigen Dorfbewohnern erfuhr, ließ das gequälte Herz bald gesunden.

Im Alter von 29 Jahren führte der Mende-Tischler seine über alles geliebte Bianca nun doch noch zum Traualtar. - Ein Mädchen und drei Jungen gingen aus dieser sehr glücklichen Ehe hervor. Glück und Frieden waren ständige Hausgenossen. Und auch das Riesengebirge erstrahlte dem Meister und der Meisterin wieder in alter Pracht und Herrlichkeit.

"…Du meine liebe Heimat Du!"

Nach einer wahren Begebenheit von Otto Hahndorf

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