Wer ist Paul?

1981 arbeitete ich in einer kirchlichen Kindertagesstätte als Leiterin. Wir hatten Krippe, Kindergarten und Hort. Die Kita lag in einem Arbeiterbezirk mit einem schwierigen Klientel. Da ich selbst in solch einem Bezirk aufgewachsen bin, fiel es mir nicht schwer, je nach Situation vom Hochdeutsch in den bekannten Berliner Jargon umzuschalten.

An einem Tag um 17 Uhr schloss ich das Haus ab, da saß am Bordstein ein völlig verdreckter etwa 5-Jähriger, er heulte und paffte eine Zigarette, sein Bein blutete. "Wie heißt du?" fragte ich, schweigen.. "Sag mir, wo du wohnst!" Schulterzucken. Ich guckte mir sein Bein an, er musste zum Arzt. Ich ging zurück in die Kita und rief die Feuerwehr, die auch wenige Minuten später vor Ort war.
Freundliche Leute fragten nach Namen, Adresse des Kindes und was passiert sei. Ich konnte nur sagen: "Ich kenne das Kind nicht, habe ihn gefunden." Mehr wusste ich nicht. Im Feuerwehrauto nahm er meine Hand und sagte: "Ick bin Paule, Feuerwehr fahren ist dufte!" Mehr sprach er nicht.
Im Krankenhaus dauerte es lange, über nichts konnte ich Auskunft geben, aber sie mussten ihn behandeln. Ich hinterließ meinen Namen, Adresse und Tel. Nr. Ich bestellte ein Taxi und fuhr mit ihm zum Fundort zurück. "Paul, zeig mir dein Haus!" Humpelnd trottete er, meine Hand nicht loslassend, neben mir her. Ich fragte an jedem Haus, wohnst du hier? Am 5. Haus zog er mich in den Hausflur und klingelte Parterre. Es war inzwischen 21 Uhr.
Die Tür wurde aufgerissen, ich fragte nach der Mutter? "Die liecht in Bett und da is ooch noch der Klaus bei ihr, aber der is besoffen." Chaos, insgesamt 5 Kinder zwischen etwa 2 und 12 Jahren. Und dann kam sie aus dem Schlafzimmer, nur mit Höschen und Hemd bekleidet, packte mich am Arm, schob mich aus der Wohnungstür und brüllte mich an: "Kümmern se sich um ihren eigenen Scheiß und lassen se uns in Ruhe, ick brauch keen Jugendamt!" und knallte die Tür zu. Ratlos fuhr ich nach Hause.
Am nächsten Tag hatte ich einen Zettel vorbereitet, auf dem stand: "In der Kita nebenan habe ich 5 Plätze für ihre Kinder, ich werde kein Jugendamt einschalten!" Ich warf ihn in den Briefkasten und ging.
3 Tage später kam sie in mein Büro, fragte: "Nehmen se wirklich alle?" "Ja Mutter, wenn ick wat verspreche, denn mache ick det och, aber sie müssen im Krankenhaus anrufen." "Nee, nee", meinte sie, "dann schicken die mir gleich det Jugendamt, det machen Sie ."
Am nächsten Tag hatte ich 5 neue Kinder, gewaschen, frisch angezogen und eine Mutter, die mir zum Dank 3 Äpfel mitbrachte. Die Kinder, anfangs chaotisch, entwickelten sich erstaunlich gut, und Mutter Klara setzte sich mit Herz und Schnauze bei den anderen Eltern durch und gehörte bald zu den engagiertesten Müttern. Auch die größeren Kinder besuchten regelmäßig die Schule. Oft kam Klara zum Klönen einfach mal auf einen Kaffee vorbei mit selbstgebackenem Kuchen, brachte getragene Kinderkleidung oder Spielzeug, das wir für unser Sommerfest auf dem Basar verkauften.


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Kommentare (8)

ehemaliges Mitglied

Bei dieser Geschichte muss ich direkt schlucken und meine Augen wischen!!!

Liebe Malina, 1981 und im reichen Deutschland, wenn auch damals im noch eingeschlossenen Berlin, einfach unglaublich. Aber Du hast Dein Herz auf dem rechten Fleck und offensichtlich nicht nur dem Paul, sondern auch seinen Geschwistern und der Mutter geholfen! Auch sie hat wohl aus ihrer bestimmt vorhandenen Verzweiflung herausgefunden?!

Toll,  so viel tätiges Mitgefühl

denkt Uschi

malina

@nnamttor44  Füe mich ist es eine Selbstverändlichkeit, in so einer Situation zu handeln. Wozu haben wir Augen, Ohren und ein Herz. Wir müssen mehr Wärme in diese Welt bringen, sonst erfrieren wir alle. Lieben Gruß, Brigitte

ehemaliges Mitglied

@malina 

So sehe ich das auch, liebe malina! Ich kämpfte - leider recht alleine - vor 40 bis 49 Jahren gegen die Uneinsichtigkeit der Lehrer, des Schulwesens gegenüber der Legasthenie - heute seit drei Jahren unterstütze ich meine Tochter im Kampf gegen diese immer noch herrschende Ignoranz für betroffene KInder.

Was das für Leid mit sich bringt, wenn diese Kids als dumm auch in der Klasse von Lehrern hingestellt werden, die sich zwar wundern, wie sich so manches dieser Kind regelrecht "elegant" ausdrückt, dafür aber kein Verständnis aufgebracht wird für das Nicht-lesen-können von zerbröselten, zerhackten Buchstabenreihen = Text ...

Das ist auch heute noch in der Grundschule von oberster Stelle schon Mobbing vom Feinsten. Wenn man dann bei Praktikant*innen das Ergebnis solchen 10 Jahre andauernden Unterbutterns erleben darf, könnten wir das Ko.... kriegen! Meine Tochter hat gestern per Post ihr 2. Diplom als Legasthenie- sowie als Dyskalkulie-Trainerin mit Auszeichnung erhalten. Zumindest für meinen Enkel sowie für drei, vier weitere Kinder wird sich ihre Schullaufbahn ein wenig erfolgreicher gestalten!!

Auch das ist HIlfe an angebrachter Stelle meint

nnamttor44

indeed

Liebe Malina,

dieses ist wirklich eine besondere Geschichte mit viel Tiefgang. Es macht doch Mut, dass man immer wieder auf Menschen trifft, die mit Mut und Tat sich so positiv eingesetzt haben und es immer noch tun. Die Kinder sind, wie sicherlich jeder weiß, unsere Zukunft und wie schön ist es dann, wenn man Kindern und in diesem Fall eine Mutter mit ihren fünf Kindern auf einen positiven Weg verhelfen konnte.
Syrdal hat recht, das könnte auch eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte sein. Aber wir wissen auch, dass Weihnachten im Sinne der Mitmenschlichkeit jeden Tag sein sollte.
Nicht jeder hat den Mut und du hast ihn bewiesen. Chapèu 
Danke dir, habe gerne gelesen und schicke liebe Grüße zu dir.

indeed

malina

@indeed  Danke dir für deinen Kommentar, es ist für mich ganz selbstverständlich, in solchen Situationen tätig zu werden, Wozu haben wir unsere Augen, unsere Ohren und unser Herz? Wir sind doch soziale Wesen,

Muscari


"Da hattest Du ja unglaublichen Erfolg. Sogar seine Mutter Klara hat all das schließlich akzeptiert und sich in eine engagierte Mutter verwandelt.

Chapeau ! würde ein Bekannter jetzt dazu sagen."
Das sage auch ich.
Andrea

Syrdal


...es könnte gut und gerne eine anrührende Weihnachtsgeschichte sein.

Liebe Grüße
Syrdal

Globetrotter

Eine wirklich schöne Erfolgsgeschichte


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