Verwunschene Gedanken XII.
Am Pranger
Was aber ist das? Ein tiefes Stöhnen klingt durch die Mittagsglut. »Wasser!« Leise Worte aus ausgedörrter, rauer Kehle dringen vom Südportal der Kirche her. »Bitte Wasser, bitte!«
Spröde aufgesprungene Lippen schaffen es kaum, Worte zu formulieren. Auf dem kreisrunden Granitblock neben dem Kirchenportal sitzt eine junge Frau. Um ihren Hals ein Eisenring mit einem schweren Schloss. Von einer Krampe in der Wand nebenan führt eine eiserne Kette zu diesem Halsring. Die Kleidung der jungen Frau ist ärmlich, ein grob gewirkter grauer Rock, eine ebensolche Bluse, die vielfach geflickt und gestopft ist. An den Füßen grobe Wollstrümpfe und Holzpantinen. Seit Sonnenaufgang sitzt sie nun schon auf diesem Steinblock, es ist noch weit bis zum Sonnenuntergang! Was war ihr Verbrechen, dass sie zu solch einer Strafe verurteilt wurde? Wir kennen die Anklage nicht.
Aus historischen Quellen jedoch ist bekannt, dass ledige Frauen und Mädchen, die ein Kind geboren hatten, zu dieser Kirchenstrafe verurteilt wurden! Die Kinder, Bastarde, wie man sie nannte, wurden in Waisenhäusern untergebracht. Und die Väter der Kinder? Es ist nicht bekannt, dass auch nur ein Einziger von ihnen jemals bestraft wurde!
Grausames Schicksal von Frauen, die oft nichts anderes wollten, als Zuneigung und ein wenig Liebe, vielleicht auch etwas Hilfe zum Überleben? Dann jedoch wurden sie als große Sünderinnen abgestempelt. Welch eine Welt, voller kirchlicher und religiöser Vorurteile, voller Ressentiments gegenüber all jenen, die nicht in das Schema passten
Stunden später sitzt die junge Frau immer noch auf diesem Pranger. Durch Sonnenbrand und Schweiß hat das Halseisen ihren Hals vollkommen aufgeraut, jede Bewegung des Kopfes schmerzt unsäglich. Unerträglicher Durst hat schließlich dazu geführt, dass sie fast bewusstlos auf dem Prangerstein zusammengesunken ist, nur die jetzt straff gespannte Kette verhindert ein Umfallen des Körpers.
Zwei Friedhofsbesucherinnen mittleren Alters gehen gegen Abend am Kirchenportal vorbei. »Na Gesa? Hast endlich genug von‘ne Hurerei?« Boshafte Worte fliegen zu der Sünderin:
»Mein'n Mann lässt du jetzt sicher in Ruh, nich?«
»Wasser!« flüstert die Frau auf dem Stein mit rauer Stimme, »bitte, bitte Wasser!«
»Nu hol dir doch wat, da is doch der Brunn!«
lästert die eine Frau und spuckt dem Menschenkind am Pranger ins Gesicht. Höhnisch kichernd und gackernd entfernen sich die beiden. Bald geht die Sonne unter. Dann wird der Büttel die junge Frau von ihren Qualen erlösen. Aber das seelische Leid wird erst richtig anfangen! Ganz gewiss.
Wie bin ich doch froh, dass es seit Mitte des 19. Jahrhunderts keinen Pranger mehr gibt, niemand muss sich noch öffentlich demütigen lassen, ob nun schuldig geworden oder nicht, ob Delinquent oder Familienangehöriger. Keiner wird heute mehr an den Pranger gestellt, wir leben alle in einem Rechtsstaat!
Oder? Kann es sein, dass die Pranger von heute die sogenannten 'sozialen' Netzwerke sind? Darüber sollte man vielleicht einmal nachdenken!
© by H.C.G.Lux
Kommentare (5)
Welch ein Graus !
Welch unbegreifliche Ungerechtigkeiten gab es doch zu jener Zeit.
Vor allem seitens der Kirche.
Ungerechtigkeiten aller Art gibt es auch heute noch, und wie von Dir erwähnt, in den sog. sozialen Netzwerken, aber ...
Unvergessen in unserer Nähe das alte Kloster für "gefallene" Mädchen.
Bei diesen Gedanken schaudert es mich nur.
Weitere Worte erspare ich mir, sage aber
Danke für diesen Beitrag.
@Muscari
Oh ja, an so eine Einrichtung kann ich mich auch noch erinnern. Wenn ich mit dem Fahrrad vom Internat nahe Münster nach Hause fuhr, führte die Strecke in Mauritz daran vorbei.
Ich fand es immer schrecklich, dass es so etwas gab.
Es ist ja schon insofern anders als damals, dass die ledigen jungen Mütter heute Hilfe erfahren können. Aber die Männer, die ja nicht ganz unschuldiig an der Situation ihrer Kinder sind, tun auch heute oft noch so, als ob sie das Leben ihrer "Kurz-Partnerin" und der gezeugte Nachwuchs nchts anginge ...
Heute genügt es offenbar immer noch, die eigene Tochter beim Jugendamt zu verunglimpfen, statt ihr zu helfen, damit die junge Mutter - wenn überhaupt - wenigstens das Nötigste an Hilfe zum Leben für sich und das Kind bekommt.
Vor der Hochzeit hatte sie gearbeitet, der Ehemann war spielsüchtig, machte ihr das Kind und ließ die Zwei sitzen. Mit Hartz IV kommt man auch nur so gerade über die Runden.
Es genügt der lesbischen Mutter bzw. Oma und ihrer Lebensgefährtin, der nun verlassenen Tochter und dem Enkel das löchrige Dachstübchen als Unterkunft zu geben. 50 Euro werden hämisch hingelegt, womit sie das Dach selbst dicht machen soll ...
Leben heute - Menschlichkeit und Liebe geht anders!
Die Ratsprotokolle der Stadt Kaiserslautern aus den Jahren 1566-1798 (nachzulesen auch in "Chronik der Stadt Kaiserslautern" von Julius Küchler) dokumentieren auch noch zynisch solche Fälle. Keine "sozialen Netzwerke", sondern amtliche Aufzeichnungen.
Diese Art von "Pranger" hatten wir schon im Netz!
Da wurde jemand beschuldigt, ein Kinderschänder zu sein.
(ohne jede Bewahrheitung), ein Aufruf bei Twitter brachte über
300 Symphatisanten an dem entsprechenden Wohnort zusammen.
Die Polizei konnte Schlimmeres abwenden - aber wie heisst es doch?
"""Etwas wird schon dran sein!"""
Was macht das mit den Betroffenen - ich mag es mir nicht ausdenken ...