Verschollen in Paraguay - Die Geschichte von der abenteuerlichen Flucht eines Nazi-Gegners


Weshalb die deutschen Wähler dem Österreicher Adolf Hitler im Jahre 1933 zu fast unbeschränkter Macht über sich und ihren Staat verhalfen, dazu gibt es vielerlei Erklärungen und - weil die Sache schließlich schief ging - natürlich auch ein paar Ausreden. Allerdings hatten H. und seine Gefolgsleute längst ehe sie im Sattel saßen keinen Zweifel daran gelassen, mit jedem kurze Prozess zu machen, der nicht nach ihrer Pfeife tanzen würde.

Menschen, auf denen diese Drohung gemünzt war, gab es damals auch in dem Dorf K. im ehemaligen Kreis Wetzlar Einer davon war der damals 36-jährige Ludwig Sch., der mit Frau und drei Kindern hier ein eigenes Haus bewohnte. Das heißt, seine Familie wohnte dort, er hingegen hetzte nach der NS-„Machtergreifung“ von Versteck zu Versteck, um dem Zugriff seiner politischen Feinde zu entgehen. Um den Unbotmäßigen trotzdem aufzuspüren, haben die Schergen des neuen Regimes seine Wohnung "mehrmals auf den Kopf gestellt", wie sich noch viel später eine seiner Töchter gut erinnerte.

Sch., der den 1. Weltkrieg als Matrose der kaiserlichen Kriegsmarine überlebt hatte, war ein "Roter", schlimmer noch, er war ein Kommunist. Mit dieser Gesinnung mischte er in der Kommunalpolitik mit, gehörte den Freien Turnern an und agierte sogar als Amateurschauspieler. Derartige Aktivitäten wurden von den Nazis, soweit sie nicht in deren Sinne waren, auch in K. nicht länger geduldet. Wer sich dem widersetzte, war fortan höchst gefährdet. Die Denunzianten lauerten überall. Einem solchen verdankte es unser Protagonist denn eines Tages schließlich auch, dass die Jagd nach ihm glückte und er hinter Schloss und Riegel geriet. Das und wie es ihm gelang, den Kopf wieder aus der Schlinge zu ziehen, die ihm ein ehrenwerter Mitbürger bereitet hat, und was an Wenigem (und zuweilen Ungenauem) über sein weiteres Schicksal bis zu seinem mysteriösen Verschwinden in Südamerika bekannt ist, davon soll hier berichtet werden.

Das Verhängnis beginnt für Ludwig Sch. zu einer Zeit, als Hitlers „Drittes Reich“ zwar schon etabliert war, in Deutschland trotzdem noch immer beträchtliche Arbeitslosigkeit herrschte. Einer der Arbeitslosen, die sich Woche für Woche auf den Weg machten, um sich in K. ihr „Stempelgeld“ abzuholen , war Ludwig B. aus einer anderen Kreisgemeinde. Der war bei Antritt der Naziherrschaft aus einer Stellung in K. entlassen worden und hatte zudem sein Ehrenamt als Bürgermeister seines Heimatortes verloren. Dass dieser Sozialdemokrat 20 Jahre später Landwirtschaftsminister des Bundeslandes Hessen sein würde, hätte sich der jetzt Arbeitslose und Verfemte vermutlich damals kaum auszumalen gewagt.

Jener Ludwig B. nun machte sich mit den paar Mark in der Tasche, die ihm soeben in der „Stempelstation“ ausbezahlt worden waren, zu Fuß wieder auf den Heimweg. Und dabei musste er dem ihm bekannten Kommunisten Sch. begegnet sein. Denn die Begegnung der beiden beobachtete der Lehrer Adolf R., der, wie andere seiner Kollegen in K. das Dritte Reich von Anfang bis Ende glühend unterstützte. Es ist davon auszugehen, dass dem Lehrer die Umtriebe des Kommunisten bekannt waren, er also bei dessen Anblick besonders aufmerksam hinsah. Das tat er diesmal nicht vergeblich, steckte der Verdächtige doch dem arbeitslosen B. einen Zettel zu, den dieser in der Jackentasche verschwinden ließ.

Das war die Stunde des eifrigen Schulmannes. Ohne lange zu zögern, marschierte er zu der nur wenige Meter von seinem Anwesen entfernt gelegenen Polizeistation und meldete die verschwörerische Zettelübergabe dem Ortspolizisten Richard W. Der schwang sich auf sein Leichtmotorrad und fuhr dem Empfänger des corpus delicti hinterher. Was ihm denn der Sch. soeben für einen Zettel übergeben habe, wollte der Ordnungshüter wissen. Wie hätte B. auf diese Frage reagieren sollen? Leugnen? Vermutlich war ihm ohnehin sofort klar, dass er das Opfer einer Denunziation geworden ist, Ausflüchte also zwecklos wären, weshalb er ohne langes Zögern dem Beamten das verdächtige Papier aushändigte. Aha, der Polizist erkannte auf den ersten Blick, dass der Lehrer richtig gerochen hatte, der Zettel enthielt tatsächlich aufrührerische Sprüche gegen die Nazis, genauer: die kommunistische Deutung des Reichtagsbrandes. Der Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin am 27. Februar 1933, wenige Wochen nach Hitlers erstem großen Wahlsieg, war von den Nazis zur Jagd auf ihre politischen Gegner benutzt worden, voran natürlich auf die Kommunisten. Die versuchten sich aus dem Untergrund mit Flugblättern zu wehren, wie eines davon der Ortspolizist jetzt in Händen hielt. Mit diesem Zettel besaß er endlich einen handfesten Beleg für die Machenschaften des Hitlergegners Sch. Der freilich war inzwischen längst von der Bildfläche verschwunden.

Hatte er von der Einvernahme B.‘s Wind bekommen? Vermutlich ja, denn noch am selben Tag verkroch er sich unter einen Stapel Holz. In diesem ungemütlichen Versteck jedenfalls spürte ihn der Polizist auf, nahm ihn fest und verbrachte ihn zunächst einmal zum „Spritzenhaus“ der Gemeinde. Ihn in der dortigen Arrestzelle bis zu weiteren Maßnahmen sicher zu verwahren, war die Aufgabe des Ortsdieners Wilhelm W.

"Was", erregte sich der Häftling, als er in Begleitung seines Bewachers die Zelle betrat, "hier soll ich schlafen? Es gibt ja nicht einmal einen Kolter zum Zudecken". Wie der Ortsdiener, dem nachgesagt wird, mit Sch. befreundet gewesen zu sein, auf diese Mängelrüge reagierte und welche Folgen sich daraus ergaben, darüber kursierten noch Jahre später mehrere Versionen. Eine lautete, Wilhelm W. sei, nachdem er das Verließ sorgfältig verschlossen hatte, losgegangen ist, um die vermisste Decke zu besorgen. Als er zurückkehrte, habe der Häftling ihn in eine Ecke der Zelle gestoßen, die Zellentür von außen abgeschlossen und die Flucht ergriffen. Einer anderen Darstellung zufolge habe der Ortsdiener während seiner kurzen Abwesenheit die Zelle überhaupt nicht abgeschlossen und so den Freund indirekt ermuntert, sich davonzumachen. Eine dritte Überlieferung indes besagt, dass Sch. die Gelegenheit zur Flucht wahrnahm, während sein Bewacher die gewünschte Decke unter der Zellenpritsche suchte, ihm also den Rücken zuwandte.

Egal jedoch, nach welchem Schema dem Kommunisten die dreiste Flucht aus dem Spritzenhaus gelang, sie löste eine der größten Suchaktionen aus, die man bis dahin in K. je erlebt hatte.

Schon bald nachdem der Ortsdiener sein Missgeschick eingestanden hatte, rückte ein Trupp auswärtiger SA-Leute ins Dorf ein und sammelte sich zur Hatz nach dem Flüchtigen vor der Polizeistation. Um eben diese Zeit kehrten ein paar junge Männer von einem Abendschoppen aus dem Nachbarort L. zurück. Was denn los sei, wollten sie von einem aus dem braunen Haufen in Erfahrung bringen.

Als der ihnen den Grund des Aufmarsches nannte, verstanden sie sofort: Hier ist ein gutes Werk an dem ihnen politisch nahestehenden Flüchtling zu verrichten. "Den Sch.", behauptete einer der Burschen den fremden SA-Männern gegenüber geistesgegenwärtig, "der ist uns gerade im Wald begegnet", und seine Freunde bekräftigten nickend die Aussage. In Wirklichkeit wusste keiner von ihnen, wo der Gesuchte sich tatsächlich aufhielt, vermutlich aber kaum in dem Wald, den sie soeben ungestört durchquert hatten. Eben dorthin aber zog nun hoffnungsfroh das SA-Kommando, musste jedoch nach stundenlanger intensiver Suche die Aktion ergebnislos abblasen.

Der Ausbrecher nämlich, kaum hatte er das Spritzenhaus verlassen, konnte sich leicht ausrechnen, dass keine gute Zukunft auf ihn wartete. Weder in seiner Heimatgemeinde noch sonstwo in Deutschland würde er seiner Haut mehr sicher sein. Deshalb sah er für sich nur eine Lösung: Er musste weg aus diesem Land. Welche Fluchtwege der nun gänzlich Unbehauste einschlug, ist zwar nicht genau bekannt. Die erste Spur von ihm findet sich in Wetzlar, wo er bei einem Bekannten Unterschlupf fand. Dort in der Kreisstadt soll er sich - auf welche Weise liegt wieder im Dunkeln - eine SA-Uniform besorgt und sich, so getarnt, zu Fuß auf den Weg in Richtung Saarland gemacht haben. Im Saarland nämlich, das damals noch als Beutegut des 1. Weltkrieges zu Frankreich gehörte, sollte seinerzeit ein SA-Aufmarsch geplant gewesen sein. Unterwegs sei es ihm sogar gelungen, von einem SA-Trupp aus Siegen auf dessen Lkw mitgenommen zu werden. Vom Saarland aus muss Sch. ins Elsass übergetreten sein, denn von dort aus nahm er Kontakt zu einem Bekannten aus seinem Heimatort auf, der in der Nähe von Worms Lagerhalter eines Konsums war und ihn über die Grenze hinweg mit Lebensmittel versorgte. In Frankreich, das damals Emigranten auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus noch offenherzig Asyl gewährte, war Sch. einigermaßen vor weiterer Verfolgung sicher. Doch wie sollte es weitergehen?

Da eröffnete sich politischen Aktivisten des linken Lagers im Jahre 1936 eine hoffnungsvolle Perspektive: der spanische Bürgerkrieg. Dem Aufruf, die bedrohte junge Republik gegen den nationalistischen Rebellen Franco zu schützen, folgten tausende aus vieler Herren Länder. Hier, im Heerlager dieser Idealisten, Anarchisten, Ausgebürgerten, Abenteuerer, treffen wir unseren Flüchtling Sch. wieder.

Wer die Geschichte kennt, weiß wie der spanische Bürgerkrieg ausging. Franco siegte, nicht zuletzt mit militärischer Unterstützung Hitler-Deutschlands, und die überlebenden Kämpfer der internationalen Brigaden, die der Republik zur Hilfe geeilt waren, flohen nach Frankreich, wo sie, jetzt freilich keineswegs mehr wohlwollend, zunächst in Sammellagern interniert wurden. Unter den Elendsgestalten, die sich nach der republikanischen Niederlage über die winterlichen Pyrenäen retten konnten, musste auch der Brigadier aus K. gewesen sein. Jedenfalls ist überliefert, dass er in den Genuss der Nansenhilfe kam, einer Organisation, die Odd Nansen, der Sohn des berühmten Polarforschers Fritjof Nansen, 1937 gegründet hat, um vor allem den Gestrandeten des Spanienkrieges wieder auf die Beine zu helfen. Ein Mittel dieser Hilfe war der "Nansen-Pass", der staatenlos gewordenen Spanienkämpfern ihre Identität zurückgab. Dank Odd Nansen verließ Ludwig Sch. nach all den Gefahren, die er überstanden hatte, Europa in Richtung Paraguay. In dem südamerikanischen Land erlebte der Exilant schließlich unbehelligt den 2. Weltkrieg. Und jetzt erst, nachdem der Hitler-Spuk vorbei war, wagte er es, sich in seinem alten Heimatdorf zurückzumelden.

Das geschah in Form eines Briefes aus Paraguay an seinen Halbbruder Karl, in dem er darum bat herauszufinden, ob er im Falle einer Rückkehr überhaupt noch bei seiner Familie willkommen sei. Immerhin ja waren inzwischen mehr als zehn Jahre verstrichen, seit er nach der Flucht vor seinen Häschern alle Brücken zur Familie abgebrochen hatte, seine Ehefrau und die drei Kinder, das jüngste damals gerade erst 6 Jahre alt, so gut wie mittellos zurückgeblieben waren. Die wären vermutlich gänzlich ins Elend geraten, wären sie nicht von einigen Bürgern aus K. unterstützt worden.

Gemäß der Bitte seines Halbbruders im fernen Paraguay machte sich der Empfänger des Schreibens sogleich auf den Weg, um das Gewünschte zu erkunden. Nein, an einer Rückkehr ihres Mannes sei ihr nicht gelegen, war die Antwort der Ehefrau des bis dahin Verschollenen. Sie wollte, wie es ein Gewährsmann ausdrückte, "nichts mehr von ihm wissen".

Ein paar Jahre vergingen, ehe ein weiterer Brief aus Südamerika nach K. gelangte, diesmal gerichtet an Sch.‘s Ehefrau direkt. Als Absender stand ein Frauenname darauf. In diesem Brief nun hieß es, dass Ludwig Sch. nicht mehr lebe. Wie er zu Tode gekommen ist, wusste die Briefschreiberin jedoch nicht genau anzugeben. Einer, der den Brief sozusagen amtlich gelesen hatte, erinnerte sich viele Jahre später an folgende Darstellung: Sch., der in Paraguay auf einer abgelegenen Farm gelebt habe, sei beauftragt gewesen, per Flussschiff in der Hauptstadt des Landes Proviant einzukaufen. Während dieser Reise sei er spurlos von dem Schiff verschwunden, und da er in der Folgezeit nicht mehr aufgetaucht sei, müsse man davon ausgehen, dass er tot sei.

War der Verschollene einem Unfall zum Opfer gefallen oder einem Anschlag früherer politischer Feinde, von denen, das weiß man ja, viele nach dem Krieg in südamerikanischen Ländern Unterschlupf gefunden hatten? Oder sollte der Brief nur einfach die letzten Spuren eines verzweifelten, endgültig heimatlos gewordenen Menschen verwischen? Ludwig Sch. aus K., der aus Opposition zum Hitlerfaschismus zum Emigranten und Exilanten wurde, zählt zusammen mit Millionen anderer zu den Opfern eines politischen Fanatismus, der das 20. Jahrhundert zum bislang blutigsten der Weltgeschichte machte. Zum Schluss aber sei noch auf einen erfreulichen Nebeneffekt der Todesnachricht verwiesen: Nachdem ein Gemeindebediensteter Frau Sch. - gegen ihren Widerstand - dazu bewogen hatte, den Brief als Beleg für den Tod ihres Ehemannes einzureichen, erhielt sie schließlich doch noch eine kleine Witwenrente.

Siegfried Träger

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Kommentare (3)

guana Lese meinen Skatabend.
Dort triffst du diese tollen Autoren wieder
guana Mag schon sein; nur sollte man aufmerksam darauf achten WER,Wie ,und Wo man darueber redet und was Dessen echte Motive sind
guana
oessilady hallo Siegfried deine Geschicht zeigt auf wie Menschen diese schlimme Zeit nur
mit viel List und guten echten Freunden überleben konnten.traurig ist nur der Ausgang,der diesem gebeutelten Menschen die Heimkehr verwehrte-er hatt genug Schlimmes erlebt
und viele Strapazen überlebt! Aber er hat wenigstens das Konzentrationslager nicht erlebt,das bestimmt sein Todesurteil gewesen wäre. Wie gut daß es noch Menschen wie dich gibt die von dieser schrecklichen Zeit berichten können.Auch wenn vielleicht viele sagen,man sollte aufhören,darüber zu reden.man muß das immer wieder tun ,vielleicht lernt die Menschheit doch daraus ,daß Terror egal woher er kommt keine Lösung ist!

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