Tante Gretchen
Wenn ich über das Älterwerden und zunehmende Hilflosigkeit nachdenke, kommt mir Tante Gretchen in den Sinn, meine Urgroßtante.
Diese Frau stammte aus dem vorletzten Jahrhundert. Sie hatte zwei Weltkriege überlebt, zwei Männer und zwei Söhne verloren. Sie zog meine Mutter auf, deren eigene Mutter damals schon fast blind war.
Damals bewirtschaftete sie noch ganz alleine einen großen Garten. Meine Mutter lernte von ihr den Umgang mit Pflanzen, Obst und Gemüse, samt Zubereitung von Marmeladen und das Einwecken.
Als ich sie kennenlernte, war sie Ende 70, also für meine kindliche Vorstellung uralt. Sie ging mühsam mit zwei Krücken. Sie hatte keinen Kühlschrank, keine Waschmaschine und keinen Fernseher, aber ein Radio, eine eigene Toilette und fließendes Wasser (kalt). Als Toilettenpapier diente die zerschnittene Tageszeitung, aufgespießt auf einem Nagel.
Tante Gretchen wusch sich mit Waschschüssel, Krug, Waschlappen und Seife, wie sie es von Kind an kannte. Ihre Haare trug sie zum Dutt aufgerollt und war wohl nie bei einem Friseur.
In ihrem Küchenschrank lagerten Leinensäckchen mit getrockneten Hülsenfrüchten.
Den täglichen Einkauf erledigten Nachbarn für sie mit, die an ihrem Fenster vorbeikamen, an dem sie tagein tagaus die Straße beobachtete. Kochen konnte sie noch selbst, viel brauchte sie ja nicht. Bei ihr lernte ich Brotsuppe kennen …
Den Hausputz erledigte sie im Sitzen, Besen und Schrubber ließen sich so perfekt benutzen.
Einmal im Monat bestellte sie ein Taxi und fuhr damit zum Friedhof. Danach besuchte sie ein Café und saß bei schönem Wetter gerne draußen.
Tante Gretchen hatte schon immer viel gelesen und kannte die tollsten Geschichten. Sie war ein nachdenklicher aber auch fröhlicher Mensch. Mit weit über 90 starb sie in ihrer Wohnung.
Mein Schwur: solange ich noch aus dem Bett komme – egal ob an Krücken oder im Rollstuhl – versuche ich mir selbst zu helfen, wie Tante Gretchen.
VG - Via
Kommentare (8)
Eine wahrlich schöne Erzählung und ich glaube auch, dass gerade diese Zeiten, mit all den Entbehrungen, Bescheidenheit, Einfachheit..., die Menschen stark gemacht hat..., sie mussten ja, ob sie wollten oder nicht, irgendwie überleben /weiterleben.
Die heutige Zeit hält da zum Glück vieles bereit, was den Alltag leichter und auch angenehmer macht. Ob der Überfluss allerdings gut tut, mag ich wirklich bezweifeln.
Für mich persönlich kam Verschwendung nie infrage, ich könnte "im Geld schwimmen"..., dennoch würde ich niemals das Geld zum Fenster raus werfen, viel zu sehr weiß ich, wie schwer es ist, dieses zu erarbeiten.
Wenn das eine Lehre aus dem Leben ist, bin ich dankbar dafür, dies durchlebt zu haben !
Kristine
Das, liebe Via, ist das wirklich „wahre Leben“, so wie wir es in frühen Kindheitsjahren teils selbst noch er- und durchlebt haben. Nicht selten erinnere ich mich an die schweren Nachkriegsjahre, vor allem, wenn mir mal wieder die heutzutage rundum übliche Verschwendung aufstößt. Dabei bin ich ungemein dankbar für all die Dinge, die unser Leben inzwischen im Vergleich zu diesen früheren Zeiten so leicht und bequem machen. Das alles ist durchaus keine Selbstverständlichkeit! Aber Verschwendung… nein, kenne ich nicht und gibt es bei mir auch nicht!
Unser frühes Erleben hat uns bescheiden und zugleich stark gemacht. Wir konnten viele, viele Jahre mit dem Mangel umgehen und… wir waren dennoch glücklich und haben das Leben mit allen Sinnen genossen, bis heute.
Und deshalb übernehme ich gerne auch für mich: „...solange ich noch (allein) aus dem Bett komme – egal ob an Krücken oder im Rollstuhl – versuche ich mir selbst zu helfen, wie Tante Gretchen.“
Danke für diese so lebensnahe Geschichte sagt
mit Grüßen zum Abend
Syrdal
Liebe Via,
die Generation deiner Tante hat nicht nur zwei Weltkriege überstanden, sie haben auch die großen Nöte der Hungersnot in den 20iger Jahren und auch die nach dem zweiten Weltkrieg durchleben müssen.
Es ist schön, dass deine Tante so fest in sich ruhte und dadurch die Kraft und auch die Kreativität hatte, ihr Leben auf so bewundernswerte Weise zu meistern.
Habe ich gerne gelesen und selber von meiner Großmutter, die von 1885 war, gehört, wie schlimm die Zeiten damals waren.
Eine gute Erinnerung, die du mit uns teilst, sagt dir mit Dank
indeed
Liebe Via,
ganz herzlichen Dank, dass Du uns Tante Gretchen vorgestellt hast.
Sie ist wieder mal ein Beispiel dafür, wie sich ein Mensch selbst helfen kann und wie bescheiden die damaligen Umstände waren.
Ich kenne auch noch einige Menschen aus dieser Zeit, die Ähnliches erzählen.
Manchmal werde ich dann ganz still und bescheiden.
Nochmals danke und liebe Grüße von
Andrea
Liebe Via,
Tante Gretchen hinterläßt den Eindruck, dass sie mit dem Wenigen, was sie hatte, eigentlich zufrieden war. Dann ist sie doch zu beneiden? Anspruchslos und glücklich, könnte man es nennen?
Eine wundervolle Frau und wie Du sie ja auch als Vorbild in Erinnerung halten möchtest, hat sie diesen Nachruf sehr verdient
mit Dank und Gruß
die kölner Renate
Diese Erzählung über deine Tante Gretchen berührt mich sehr, liebe Via. Ihre Haltung wirkt auf mich gelassen und zufrieden, sie hat es genommen wie es war. Sie war auf ihre Art tapfer, hat sich nicht unterkriegen lassen und aus allem das Beste gemacht. Ein besseres Vorbild kann ich mir gar nicht vorstellen. Hut ab vor Tante Gretchen und dir liebe Via herzlichen Dank, dass du ihre Geschichte mit uns geteilt hast.
Liebe Grüße
Brigitte
Vieles, was Du beschreibst, liebe Via, lernte ich auch noch kennen. Meine Oma wurde 1886 geboren, erlebte noch Kaisers Zeiten, dann den Umbruch ins 20. Jahrhundert, heiratete und verlor ihren Mann nach nur 3 Ehejahren und ging mit ihrem 2. Mann dann in den 1. Weltkrieg.
Die Nachkriegszeit über verstand sie es mit ihrem Beruf als Näherin oder Schneiderin die inzwischen fünf Kinder zu Erwachsenen zu erziehen, Es war eine große Erleichterung, als mein Vater - nun verheiratet und nach dem 2. Weltkrieg, der der Familie den jüngsten Bruder meines Vaters nahm, für die Küche einen großen Kohleherd anschaffte, in dessen Innenleben auch noch eine Badewanne versteckt war, denn im "Bad" der Wohnung gab es kein warmes Wasser. Statt Kühlschrank gab es einen Vorrat, der auch im Sommer die Speisen relativ kühl behielt.
Zum Putzen bekam sie als 70-Jährige eine Haushaltskraft zur Unterstützung, oft genug ein Enkelkind aus den Familien ihrer anderen Kinder.
Dein Schwur könnte auch meiner sein, denn solange man noch auf die Beine kommt, geht auch noch viel anderes...
Herzlichen Gruß von Uschi
Ganz lieben Dank für die vielen Herzchen und besonders für die freundlichen Kommentare
@nnamtor44
@Roxanna
@ladybird
@Muscari
@indeed
@Syrdal
@werderanerin
Die Erinnerung an Tante Gretchen trifft wohl den Nerv der Zeit.
Natürlich sind wir erst wütend, dann traurig, wenn wir feststellen müssen, dass wieder eine Fertigkeit oder Fähigkeit altersgemäß verloren ging.
Für mich habe ich entschieden, die Rest-Lebensfragen so zu stellen:
Nicht: was kann ich alles nicht mehr?
Sondern: was kann ich alles noch alleine bewerkstelligen?
Das ist weit mehr als ich befürchtet hatte.
Außerdem ganz wichtig: was brauche ich wirklich?
Und letzteres ist sehr viel weniger als geglaubt.
Viele Entscheidungen für notwendige Änderungen in meinem Leben sind mir auf diese Art leichter gefallen, und es freut mich sehr zu lesen, dass ihr das ähnlich seht.
Herzliche Grüße
Via