"Na, dann woll'n wir mal...


Seit Wochen schon quälen mich Zahnschmerzen. Mal mehr, zeitweise weniger. Habe aber keine traute zum Zahnarzt.
Singen, Kamillentee trinken und brav zeitig in's Bett gehen, das hilft auch nicht mehr.
Bin ich ein geplagter Mensch.
Was soll ich tun?
Die Schmerzen nehmen an Stärke zu. Links im Unterkiefer sitzt der Übertäter in seiner Größe und Bedeutung: Der Weisheitszahn. Nach den Schmerzen zu urteilen, muß ich sehr weise sein. Aber, auch diese Erkenntnis hilft nicht weiter.
So fällt die Entscheidung: Auf zum Zahnarzt!
Meinen ganzen Mut kratze ich zusammen, um das geringe Selbstvertrauen auf zu polieren, so halte ich im Auto noch eine kurze Zwiesprach3 mit mir selber, rede den Patienten Mut zu und erreiche die Zahnarztpraxis auf dem Betriebsgelände.
Frau Doktor und Fräulein Schwester begleiten mich nach kurzer Wartezeit freundlich und Mut zu redend ins Behandlungszimmer.
Mißtrauisch nehme ich auf dem schrägen, geformten Stuhl Platz. Frau Doktor möchte eine erste Besichtigung durchführen.
Meine Augen werden dabei immer größer, je weiter ich meine Gusche öffnen muß.
Ernsthaft betrachtet Frau Doktor die Lage meiner Zähne, nickt mehrmals sehr bedenklich und stellt mir die Frage, ob dieser Zahn wirklich gezogen werden solle. Dabei betont sie jedes Wort, als ob damit eine große Gefahr für Leib und Leben verbunden sei.
Mit Schweißperlen auf der Stirn wage ich dreimal zu nicken. Stumm wird die mutige Zustimmung meinerseits zur Kenntnis genommen.
Wortlos hantieren Beide am Instrumententisch, sortieren blitzende Zangen, Hebel, Scheren und andere Werkzeuge.
Auch eine längliche Schale, sicher aus nicht rostendem Metall wird bereit gestellt, sicher eine Blutauffangschale und mir erscheint wie ein Geistesblitz jene Situation aus meinen früheren Kindheit, als beim Nachbar eine Kuh abgestochen wurde.
Fast brennt meine Phantasie mit mir durch. So beobachte ich sehr genau ihr Tun.
Meine Pumpe beginnt den Wettlauf mit dem Sekundenzeiger. Der Puls wird immer schneller und lauter.
Inzwischen nähert sich das Fräulein Schwester ganz in Weiß und eine größere Spritze in der Hand haltend, dem schrägen Stuhl, auf dem ich schon wie halb betäubt liege.
Immer größer, so fühle ich, drängt es aus meinen Augenhöhlen,. Ohne Brille verschwimmt die gesamte Umgebung zu einem bunten Gemisch aus Schweater, Doktor, Deckenlampe, aushebelnden Zangen und der Hand, die sich schon vor meinem Gesicht bewegt.
So höre ich Worte wie ein Gerichtsurteil: "Na, dann woll'n wir mal". Ganz mutig schaue ich Frau Doktor an, kann aber wenig erkennen.
Weit ist mein Maul aufgerissen. Die Kiefernmuskeln fangen an zu zucken. Doch, es gibt kein Zurück. Immer näher und unaufhaltsam erbarmungslos schieben sich die gummibehandschuhten und mit der Spritze bewaffnete Doktorfinger vorbei, an meinen, vor Aufregung vibrierenden Lippen, ins Innere.
Einem getretenen Wurm gleich kringelt sich meine Zunge zurück und wie Echos klingen in meinen Ohren ihre beruhigenden Worte, daß es bestimmt nicht weh tun wird. Doch, wer glaubt schon daran?
Mein geistlicher Zwilling will weg vom Stuhl, kann aber nicht, weil er, wie festgehalten an den Armlehnen klebt.
Plötzlich kippt der Stuhl mit mir nach rückwärts ab. Etwas Gewaltsames drängelt sich klammernd zwischen Unterkiefer und Wangentasche.
Dann pickt das mitleidlose Frauenexemplar.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Angenehme Kühle rinnt in die Backentasche und zur Zunge hin.
"So", meint jetzt Frau Doktor, "gleich sind die Schmerzen weg".
Ich nicke, ich versuche es zumindest. Ob es gelungen ist, das kann ich wirklich nicht beschwören.
Beide überlassen mich armen Hund jetzt einfach meinem ungewissen Schicksal, gehen weg.
Heiß ist es im Raum. Aus dem Nebenzimmer drängen gedämpft Stimmen an meine Ohren, lenken ab vom Geschehen.
Jetzt erscheint wieder Frau Doktor und die Schwester, treten heran zu mir. Ich fühle es. Das Oberlicht erstrahlt, füllt die unmittelbare Umgebung.
Übergroß erkenne ich ihre Gesichter über mir. Wo steckt meine Brille? Ein Versuch, den Kopf zu drehen, schlägt fehl. Auch meine Hände kleben wie festgeleimt krampfhaft klammernd an den Armauflagen.
In dem Moment legen sie los. Als meine wachen Ohren metallisches Kratzen am Zahnpatienten im Maul vernehmen, erfassen meine Augen kaum den erscheinenden Kopf in meiner unmittelbaren Nähe. Äußerst gespannt reagieren daraufhin Nerven und Phantasie, registrieren jeden angesetzten Hebel am kranken Zahn als brutalen Schmerz. Kalter Schweiß quält sich aus den Poren der Stirn, rollt unbemerkt ins Unendliche.
Auch Frau Doktor scheint fast an der Grenze ihrer Kraft zu sein, nach dem mit lautem Knirschen das Behandlungsobjekt wohl in die Brüche gegangen ist. Abwechselnd wischt die Schwester mit Papierservietten aufgeregt Patienten- und Spezialistenstirn trocken.
Energischer gehen nun Beide zu Werke. Bald liegt ein erstes längliches und bluttriefendes Zahnstück in der Silberschale auf dem Instrumententisch. Tupfer um Tupfer saugt sich mit Blut voll. Kaum können Beide den hervor quellenden Lebenssaft stoppen. Erst nach mehrmaligen Ansätzen gelingt endlich ihr Versuch.
Schon entdecken sie in meinem Gesichtsinneren ein weiteres Teil, packen mit ihren Zangen zu,zerren daran, so stark sie können. Fest pressen sie dabei meinen Kopf samt Hals und Kehlkopf in die Stütze.
Schwer röchelt mein Atem aus dem Hals. Dann, nach einer letzten Kraftanstrengung der beiden Weißgekleideten, jagt ein fürchterlich stechender Schmerz durch meinen geplagten Körper. Die Rentnerbeine zappeln wie von selbst wild am Patientenstuhlende, finden keinen Halt, weil Fräulein Schwester mit einer eleganten Körperwendung ihrerseits einen Zusammenstoß mit den strampelnden Dingern vermeiden kann.
Hörbar keuchend in diesem Moment die Zahnspezialistin ihre zangenbewehrte Hand mit dem endlich erkämpften Zahnteil wie eine Siegerin hoch. Dann suchen sie weiter, werden erneut fündig.
Laut donnert nun jeder Herzschlag in den Ohren, wird immer schneller und immer stärker. Polternd rollt jeder Pulsschlag davon, setzt zittern aus, überschlägt sich, sucht einen Neuanfang
Als ob tausend Zangenmonster im gequälten Unterkiefer wühlen, so schreit es auf in meinem Kopf, will nach draußen.
Wie dünnes Eis bricht plötzlich unter mir der feste Boden weg. Einem unentrinnbaren Strudel gleich reißen unsichtbare Gewalten an meinem Körper, ziehen mich tiefer, immer tiefer. Mit Armen und Beinen suche ich festen Halt. Doch alles weicht vor mir zurück.
Unendlich erscheint der Raum, in dem ich nun endgültig schwebend falle. Unendlich auch die Ferne, in die jetzt immer schneller stürze.
Schemenhafte weiße Gesichter rufen um mich herum. Ich höre sie.
, sehe nur kurz ihre lichten Gestalten. Hände strecken sich mir nebelhaft entgegen, wollen mich packen.
Zugreifen, ja zugreifen und ganz fest halten, das möchte ich auch mit meinen Händen. Doch sie sind zu kurz, ihre Hände zu weit weg.
Schnell verlieren Hände und ihre Gestalten ihre Formen, werden wieder zu Nebel. Dunkel wird das Verschwommene, leichter die Schwebe.
Überall Finsternis.
Tiefe Dunkelheit auch in meinen Augen.
Ich bin allein, schwimme wie ein Tropfen im großen Ozean der unheimlichen Lautlosigkeit. Stille.
Nun ist das Schweben zu Ende, alles um mich herum verharrt. Kein Pulsschlag stört diese Stille, in mir das unfaßbare Zufriedensein mit einer nie gekannten Regungslosigkeit.
Dann, nach ewig langem Stillstand, zucken schwach einzelne Gedankenwellen durch den Kopf. Zaghaft leise klopft ein erster Pulsschlag, treibt zögernd wieder spürbar Leben in mich.
Leise, doch vernehmlich, dringen bekannte Laute zu mir.
Aus dem Schweben wird wieder leichter Aufstieg. Weit über mir sehe ich schwach einen hellen Streifen.
Vorbei an den gleichen schemenhaften Wesen, den helfen wollenden durchsichtigen Händen, welche mich jetzt plötzlich fassen können, treibe ich aus dem tiefen Nichts nach oben, immer schneller, weil es in der Brust wie Feuer brennt. Dann habe ich die Dunkelheit fast überwunden, sehe über mir, noch verschwommen, erschrockene, blasse Gesichter.
Von ganz fern höre ich wie im Echo: "Augen aufmachen! Augen aufmachen! Hören sie mich?"
Ich möchte ja, kann aber nicht. Kraftlos, fast ohne jedes Gefühl in mir versuche ich den heller werdenden Nebel zu durchdringen.
Ein Rütteln am rechten Arm hilft endgültig aus der Dämmerung.
Endlich.
Dann sehe ich weiße Flächen über mir. Es sind nasse Papierservietten. Schwesternhände wechseln sie ständig und spenden der Stirn angenehme Kühle.
Eine zweite Schwester wedelt mit einem Tuch Frischluft heran. Das tut gut. Ich bin fast wieder da!
Frau Doktor hält den rechten Arm, prüft aufmerksam den noch zaghaften Puls, streicht dann ihre Frisur zurecht. So liege ich noch eine Ewigkeit.
Nach und nach kehren wieder Gefühl und Energie in die tauben Knochen zurück. Tatterig betasten beim Aufstehen die Füße,als ob sie nicht zu mir gehören, den Fußboden, wollen mit den Beinen weg rutschen.
"Hoppla", meint die nette Schwester und stützt mich, den schon wieder mutigen, aber immer noch zittrigen Zahnarztpatienten auf dem Weg zur Tür.
Jeder gelungene Schritt stärkt mein zurück kehrendes Selbstbewußtsein. Im Flur angelangt, erwartet mich eine neue Überraschung: Meine ehemalige Verlobte! Unruhig, weil das Auto immer noch auf dem Parkplatz steht, sorgt sie sich um mich, den halbtoten Opa, holt ihn nach Hause, die Gute.
Es wird ein quälend langer Gang. Von Hauswand zu Hauswand erkämpfe ich mir den Weg.
Ein gequältes Loch im Unterkiefer, erlebter Kreislaufkollaps mit der Rückkehr aus dem Jenseits und schließlich die dicke Backe, so die Bilanz des Tages.
Nach einigen Stunden Schlaf bin ich wieder fitt, um das Wägelchen zu holen.
Nichts als rauß zum Garten, so lautet mein Entschluß.
Die Welt hat mich wieder, ein Glück für alle, die mich kennen kann ich nur sagen.
Noch ist die Zeit zu schön,
um schon davon zu geh'n!
Stimmts??



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Kommentare (2)

nixe44 ich für meinen Teil werde dann immer kleiner und rutsche nach unten... oh man, bin ich ein Angsthase...
ohne Betäubungsspritze gibt es bei mir kein Zähnebohren, das weiß schon meine Zahnärztin...

wer so humorvoll von seiner Zahnbehandlung spricht, ich denke mal, Du hast es nur geträumt...

lieben Gruß
Monika
finchen ...ich habe mit Dir mitgelittten bei dieser Zahnaktion.
Ich weiß von was Du sprichst!!!
Vor 10 Jahren ist es mir ähnlich ergangen, doch da waren es gleich 7 aus dem Unterkiefer wegen einer bevorstehenden Krebsoperation im Mandelbereich. Geholfen hat es nichts, nur den Ärzten die Arbeit erleichtert.
Aber gut hast Du das geschrieben - die Spannung hielt bis zum Ende durch.
Also gute Besserung und ganz liebe heilende Grüße
Dein Moni-Finchen

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