Mazal Tov
Deswegen ist sie aber noch lange nicht lang genug ...
Wir sind nicht auf die Straße gegangen,
haben nicht geschrien, bis man auch uns vernichtete.
Dass wir noch leben, ist unsere Schuld!
(Karl Jaspers)
In diesem neuen Jahr, irgendwo am Rande meiner kleinen Welt an einem gesichtslosen Freitag und ein Jahr, bevor die Welt aus den Angeln zu geraten schien, traf ich sie. Sie schien nicht älter zu sein als ich selbst, große dunkle Augen, dunkel glänzendes Haar, ihre wunderschöne Haut von der eisigen Januarkälte krebsrot gefärbt. Ich war fasziniert von der Ausstrahlung dieses Mädchens.
Ein langer schwarzer Mantel verhüllte ihre Figur, abgetragene Schuhe, ein verwaschener Schal sowie mehrfach gestopfte Wollhandschuhe ergänzten ihr Aussehen. Auf ihrem Mantel ein gelber Stern, anscheinend so eine Art Schmuck? Und dann ihre Augen, diese dunklen Augen verzauberten mich, alles andere war nebensächlich. Kurz vor Tante Irmgards ›Kolonialwaren-Laden‹ begegneten wir uns. An der Hand ihrer Mutter, ebenso ärmlich gekleidet, stand sie urplötzlich vor mir. Fast gleichzeitig wollten wir zu dritt den kleinen Laden betreten. Mit hochrotem Kopf vor Verlegenheit ließ ich ihnen den Vortritt und dabei kam es zu einem kleinen Gedränge, bei dem wir beide uns anlächelten.
Ich kam diesem Mädchen nah, ich berührte sie, unfreiwillig zwar, aber mit einem unvorstellbaren Gefühl von Zuneigung. Was war das nur? Was ging in diesem Augenblick in mir vor? Ich wusste es nicht, erkannte nur, dass ich völlig verwirrt und zu keinem klaren Gedanken fähig war. Es war solch ein Gefühl, so unvorstellbar, es hätte ewig anhalten dürfen!
Mutter und Tochter stellten sich ganz in eine Ecke des Ladens. Außer uns Dreien und der Inhaberin, - die Kinder nannten sie alle nur ›Tante Irmgard‹ - war niemand im Laden. Ich wusste auch nicht, warum Tante Irmgard mich unbedingt zuerst bedienen wollte. Das genau war es aber, was ich - entgegen meiner sonstigen Art - nicht wollte. Ich wollte mit diesem Mädchen ja noch länger in diesem Raum sein, wollte sie immer wieder ansehen, ihre unergründlichen Augen versetzten mich fast in Trance.
Mitten zwischen Sauerkrautfass und den Kisten voller Steckrüben saß ich dann auf einem Schemel und bewegte mich nicht von der Stelle! Tante Irmgard blieb einfach nichts anderes übrig, als die beiden vor mir zu bedienen. Obwohl ich nur Augen für das Mädchen hatte, nahm ich auch wahr, dass Tante Irmgard dort hinter dem Ladentisch mehrere Gegenstände verpackte und verschnürte.
Im Zeitalter der Lebensmittelkarten war das immer etwas, auf das die Kinder ein Auge haben sollten, so wurde es ihnen in der Schule eingeprägt. Ich hatte also ein Auge darauf! Da wurde ein Brot eingepackt, ein Würfel Margarine, Salzheringe und auch ein Stück Käse. Und, was mich noch erstaunte: es wurde nichts bezahlt.
Das war zwar nicht unbedingt verwunderlich, viele Leute ließen damals einfach »anschreiben«! Aber es wurden auch keine Lebensmittelkarten benötigt! Tante Irmgard blickte während dieser Zeit immer wieder vorsichtig durch das Ladenfenster. Seltsam fand ich das schon, aber meine Verliebtheit in dieses bezaubernde Mädchen, diesen engelhaften Traum, ließ mich alles um mich herum vergessen. Ich zitterte förmlich, wenn sie mich anschaute - und sie sah mich sehr oft an - verstohlen zwar und von der Seite, aber ihr Interesse an mir schien so offensichtlich zu sein, dass sogar ihre Mutter sie sanft an die Hand nahm und sie dabei leicht strafend anblickte.
So vergingen die Minuten, mir erschienen sie wie Stunden in einem Traum. Ein Traum, aus dem ich erst erwachte, als Tante Irmgard mich nach meinen Wünschen fragte. Plötzlich hatte ich alles vergessen. Ich wusste nicht mehr, was ich für Mutter einholen sollte! Ich stotterte nur so vor mich hin, Tante Irmgard lachte hell auf. Sie hatte solch ein glockenhelles Lachen, dass ich am liebsten ständig hätte hören mögen. Irgendwie bekam ich dann doch die Einkäufe, die Gedanken, die Lebensmittelmarken und das eben Erlebte unter einen Hut.
Es war ein Kaleidoskop von Gefühlen, das ich einfach nicht zusammenfügen konnte. Aus allem jedoch ragte dieses Mädchen hervor. Kaum vernehmbar hörte ich ihre Worte, die sie mir beim Hinausgehen ganz leise zuflüsterte. Ganz verschämt und wahrscheinlich nur für mich verständlich, zu der Zeit aber für mich nicht begreifbar! Ich wusste einfach nicht, was sie meinte!
»Gitt schabbes!« Es waren diese Worte, die ich hörte, als sie an mir vorüberging, deren Sinn ich erst viel später erfuhr, weil darüber nicht gesprochen werden durfte, diese Worte, die ich aber niemals vergaß: »Gitt schabbes!«
So vergingen viele Tage und Wochen. Mein zehnter Geburtstag lag hinter mir, der Frühling hatte Einzug gehalten. Ich jedoch war in gewissem Sinne mitten im Winter stehen geblieben. Schneeglöckchen statt Maiglöckchen, obwohl es genau anders sein sollte. Trotz intensiver Suchaktion, Ausschau halten auf dem Schulweg und dem Schulhof, ich fand dieses Mädchen einfach nicht mehr. Unruhig war ich auch durch die Nachbarstraßen meines Stadtviertels gestreift. Ohne Ergebnis. Obwohl schon eine lange Zeit vergangen war, nirgendwo auch nur eine Spur dieses Traums zu finden.
Endlich, viele Tage waren vorüber, fasste ich mir ein Herz und vertraute mich meiner Großmutter an. Sie schaute mich lange an, sehr lange, verständnisvoll, streichelte mir über das Haar. Sie schwieg eine Zeitlang. Dann seufzte sie tief, schaute mir in die Augen und sagte dann: »Das ist Miriam, die Tochter unseres früheren Arztes Dr. Rosenbaum! Warum denkst du gerade an dieses Mädchen?«
Miriam! Es klang wie Musik in meinen Ohren, eine fremde Melodie, für mich war es, als würden im Garten Blumen singen und die Vögel dazu Reigen tanzen. Miriam. Welch ein reizender Name. Und dann sagte Oma noch etwas, das ich überhaupt nicht verstand: »Bitte, forsch da nicht weiter nach. Es ist sehr gefährlich. Für sie, für dich, für uns alle! Sie darf auch nicht mit euch spielen. Sie darf nicht in eure Schule gehen!« Rätsel über Rätsel. Ich verstand nicht, was damit gemeint war. Warum ist es gefährlich, einen Menschen zu suchen, den man über alles in der Welt gern hat?
Warum durfte sie nicht die Schule besuchen? Warum musste das so sein? Doch ich träumte weiter meinen Traum von einer Kinderfreundschaft, von einer Kinderliebe! Ich suchte trotz aller Warnungen weiter, vergeblich. Ich fand sie nicht. Monatelang war mein Suchen erfolglos, mein Traum, mein Kindertraum war unauffindbar!
Es war an einem Freitag im Herbst des gleichen schmerzvollen Jahres, da ging mein Traum noch in Erfüllung; aber anders, als ich es mir hätte erhoffen können. Die gesamte Schule war zum Ernteeinsatz bei den Bauern des Umlands angefordert zum freiwilligen Ernteeinsatz. Die Schulkinder taten es gern, befreite es sie doch vom lästigen Mathe-Unterricht.
Früh am Morgen, so gegen 5 Uhr, es war schon relativ hell, versammelten sich alle Schüler und Lehrer unserer Schule auf einem Platz in der Stadt. Wir warteten auf die Fahrzeuge, die uns aufs Land bringen sollten. Ährensammeln‹ war angesagt. Dieses Nachlesen der Ähren fand immer nach der Getreideernte statt und war damals eine wichtige und auch beliebte Beschäftigung für uns Schulkinder.
Alle Mitschüler meiner Klasse waren, wie ich auch damals beim Jungvolk der HJ, bekleidet waren wir mit dem braunen Hemd und schwarzem Halstuch mit Lederknoten, der obligatorischen Bekleidung. Aufgeregtes Geplapper, hier und dort ein Gerangel. Von den Lehrern und Aufsichtspersonen war kaum Ordnung in den wilden Haufen zu bringen.
Und dann kamen die Lastwagen. Es waren zwei Fahrzeuge, ohne Verdeck. Wir drängten uns an die Straße vor, jeder wollte natürlich der Erste sein. Aber was war denn das? Die Lastwagen waren ja schon besetzt? Wie sollte das gehen? Diese Lastwagen waren voll beladen. Mit Frauen, Kindern und alten Männern! Sie standen auf diesen Wagen, mühsam einen Halt suchend. Ein wenig Gepäck, ärmliche Kleidung. Und auf dieser Kleidung trug jeder von ihnen einen gelben Stern!
Sie waren geschmückt oder gezeichnet mit einem gelben Stern. Und darin die Inschrift: Jude! Einer aus der Schülergruppe rief laut: »Ihr Saujuden!«
Ich erschrak. Das waren also die Juden, von denen so viel gesprochen wurde. Mit Abscheu wurde im Unterricht davon geredet. Das waren sie also! Alle Schüler johlten laut und schrien unflätige Worte zu ihnen hoch. Ich denke, dass auch ich mitschrie. Warum? Psychologen wissen darauf sicher eine Antwort. Und diese Menschen dort oben auf dem Wagen? Sie sagten nichts, stumm blickten sie vom Wagen auf uns pöbelnde Kinder herunter. Es waren unsäglich traurige Blicke, mit denen sie diese uniformierten Kinder, diese jugendlichen Helden ansahen.
Und dann - auf einmal traf es mich wie ein Keulenschlag! Meine Augen glaubten nicht, was sie sahen. Dort stand mein Traum! Mein Traum hatte mich gefunden! Miriam. Bei diesen Juden. Wie konnte das sein? Es war tatsächlich Miriam, die ich wochenlang gesucht hatte! Dort oben auf dem Wagen, neben ihrer Mutter und noch vielen anderen Menschen. Sie war es, unverwechselbar! Eine kleine zaghafte Geste des Erkennens von ihrer Seite, ein verstohlenes, verschämtes Lächeln in ihrem schmalen Gesicht; in diesem Gesicht, das ich monatelang vor mir gesehen hatte.
Der Lastwagen musste kurz stoppen. Es war ein Meter, ein winzig kleiner, riesengroßer Meter, der mich von meinem Traum trennte. Dann hörte ich ihre Stimme, wieder so leise, wie sie damals in dem Laden zu mir gesprochen hatte.
Sie flüsterte: »Mazal tov« - dann ein zweites Mal: »Mazal tov«, zweimal das gleiche Wort! Ich verstand sie! Wirklich - ich konnte sie verstehen. Sicher nicht die Worte, aber ihren Sinn! Tonlos versuchte ich dann, diese Worte nachzusprechen, meine Lippen formten diese Worte. Sie hob zart ihre Hand und winkte mit zwei Fingern! Zusammen mit einem fast unsichtbaren Nicken war das ihre Antwort.
Und ich? Ich wagte es tatsächlich, ihr eine Kusshand zuzuwerfen! Wirklich - ich wagte es, ihr inmitten dieser wilden, grölenden braunen Horde zuzuwinken!
Dann war es vorbei. Dann war alles vorbei! Die Lastwagen fuhren wieder an. Ich suchte noch einmal ihre wunderschönen dunklen Augen, ich sah sie nicht mehr. Hinter der Kurve verschwanden die LKWs mit diesen Menschen darauf. Spurlos waren sie verschwunden.
Etwas später kamen dann auch die Wagen, die uns Schüler aufs Land brachten. Selbst Tage danach war mit mir nichts anzufangen. Obwohl ich schon viel durch Propaganda gehört hatte, fragte ich einige Tage später meine Oma nach diesen Juden dort auf dem Wagen. Sie schwieg zunächst. Dann sah sie mich lange an, wollte eine erklärende Bemerkung machen und sagte dann jedoch nur
vorsichtig, weil eine Nachbarin in der Nähe stand:
»Die, ach ja - also, - die werden alle umgesiedelt, in den Osten, dort passen sie besser hin als hier ins Reich!«
Umgesiedelt! Passen besser! Ich verstand das nicht. Ich habe das auch später nicht verstanden. Ich wollte es auch nicht verstehen. Nachträglich, sehr viel später aber habe ich Miriam verstanden, auch ohne Worte. Ihre verstohlene Bewegung, ihren Blick, der mich wie eine Protuberanz der Sonne mitten ins Herz traf und mich damit prägte in meiner Einstellung zur Geschichte.
Ich behielt Miriam in meiner Erinnerung, so wie sie war, wie ich sie liebte, kindlich und rein; ich dachte auch später oft an sie, ohne Pathos, aber mit dem Gefühl der Traurigkeit im Herzen.
»Mazal tov?« Viel Glück! Sie hatte es nicht, dieses Glück. Nie wieder habe ich etwas von ihr gehört. Wahrscheinlich wurden die Rosenbaums in ein Ghetto umgesiedelt.
›Umgesiedelt?‹ Ein Jahr später gab es dann auch diese Ghettos nicht mehr! Aber es gab Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor, Majdanek. Aber das wusste ich noch nicht. Auch Miriam wusste es nicht. Und viele, die es wussten, wussten es später auch nicht mehr!
die Unbelehrbaren, die ewig Gestrigen, wollen es
nicht mehr wissen!
Kommentare (5)
Lieber Pan,
heute, vor 77 Jahren, am 27.Januar 1945, wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Mindestens 1,1 Millionen Menschen wurden dort von den Nationalsozialisten ermordet. Dieses Konzentrationslager steht deshalb symbolisch für den Holocaust, und für das größte Verbrechen an die Menschheit.
Danke, für Deine sensibel erzählte Geschichte, die erschüttert, und uns alle der vielen Opfer gedenken lassen sollte.
Rosi65
Lieber Horst - diese Zeitgeschichten sind immer wieder so traurig..., zumal du sie ja selbst erlebt hast und als Zehnjähriger garnicht wissen konntest, was wirklich mit den Juden passierte oder mit Menschen, die einfach nicht in das System "passten"...schön aber, dass du dieses kleine Mädchen immer noch in deinem Herzen trägst !
Kristine, die sehr gerührt ist
Leider, leider ist das nicht ganz der Wirklichkeit entsprechend!
Jeder - auch wir Zehnjährigen - wussten, was in diesen KL's (wie man es nannte) geschah!
Diese Nachrichten wurden allerdings so gut verpackt, dass alles
"notwendig" war, was geschah!
Ich war zwar noch kein Erwachsener, aber so indoktriniert, dass ich es auch glaubte, was man publizierte -
meint mit Gruß Horst...
Eine sehr berührende Geschichte.
Vor einigen Monaten erhielt ich eine Einladung zu einem Vortrag vor einem Haus, hier in meiner Heimatstadt Witten, in der Kellerstraße 16.
Unten gab es einen Lebensmittelladen, der zu der Zeit, in der Deine Geschichte sich zugetragen hat, von Mutter und Sohn geführt wurde.
Dort bekamen auch die Menschen mit dem gelben Stern Lebensmittel, heimlich natürlich.
Und dann holte man Mutter und Sohn, der zudem noch schwul war, ab. Beide wurden in ein KZ gebracht. Nur der Sohn kam zurück, er hatte schlimme Dinge gesehen und erlebt.
In einem andern Stadtteil findet man noch einen Gedenkstein. Das Außenlager Annener Gußstahlwerk des KZ-Buchenwald, oft auch kurz KZ-Außenlager Witten-Annen, war ein Außenkommando des Konzentrationslagers Buchenwald in Witten und bestand vom 16. September 1944 bis zum 28. März 1945.
Dass es dieses Lager gegeben hat, habe ich erst sehr viele Jahre später erfahren, ich lebte damals im Ausland.
Vielen Dank.
Einen Gruß aus dem Ruhrpott,
Anita
...und noch immer und schon wieder grölt auf unseren Straßen der Mob!
Lieber Horst, zu all dem fehlen mir die Worte… alle, ich finde keine! – Syrdal