Lunge


Der schon etwas erfahrene Oberarzt Rinne, ein Chirurg, der schon fast seinen Friedhof zusammenoperiert hatte, Voraussetzung dafür, zum Chefarzt zu avancieren, fuhr in seinem SUV dem Süden zu. Er dachte mit Groll an seinen Vater, einen spießigen Dorfschullehrer, mit dem ihn ein zerrüttetes Verhältnis verband. Wie nur kann man ein Leben lang derart bigott in einem kulturlosen Dorf bleiben? Die letzten zwei Jahre war Rinne in einem pathologischen Institut angestellt, ungefähr zweitausend Leichen waren durch seine Hände gegangen. Er war erschöpft. Nun hoffte Rinne, er werde als Chirurg an einem Kreiskrankenhaus, seiner neuen Stelle, der er entgegenfuhr, eine befriedigendere Arbeit finden.
 
Sie haben es sicher bemerkt, meine intelligente, dem Expressionismus verpflichtete und mit kalter Ironie durchsetzte Sprache, machen mich zu einem der bedeutensten Meister deutscher Sprache.
 
An seiner neuen Wirkungsstätte lud der Chefarzt Rinne ein, ihn bei der Chefvisite mit seiner Entourage zu begleiten. Die in Weiß gekleidete Gruppe mit dem Chefarzt an der Spitze trat zum ersten Krankenbett. Vor ihnen lag eine frisch operierte Lunge. Eine künstliche Öffnung an der Brust, ein durchgelegener Rücken, mürbes Fleisch. Der Chefarzt legte seine linke Hand auf die Brust des mittelalten Mannes, klopfte mit einem Finger der rechten Hand auf einen Finger der linken. Er erkundigte sich nach der Befindlichkeit des Darms, ob er heute schon Stuhlgang gehabt habe. Ohne die Antwort des Patienten abzuwarten, gratulierte er ihm zur Genesung und wandte sich dem nächsten Bett zu. Der Patient wird nun in den nächsten Tagen nachhause gehen, dachte Rinne, die Schmerzen als lästige Begleiterscheinung seines Gesundungsprozesses empfinden. Bis zu jener Nacht in zwei bis drei Wochen, in der er Blut spucken und elendiglich verrecken wird.
 
Überall der gleich Zirkus, das Getue der Obrigkeit, auch wo Mitleid und Tröstung am Platz wären.
 
Erschüttert saß Rinne eines Morgens vor seinem Frühstückstisch; er fühlte so tief; der Chefarzt würde verreisen, ein Vertreter würde kommen, in dieser Stunde aus dem Bett steigen, ein Brötchen nehmen: man denkt, man isst, uriniert und fährt zur Arbeit.
Oft, wenn er in der folgenden Zeit von Operationen in sein Zimmer zurückgekehrt war, drehte er seine Hände hin und her und sah sie an. Er beroch sie, beugte die leicht geöffneten Handflächen nach oben, legte sie an den kleinen Fingern zusammen, um sie dann einander zu und ab zu bewegen, als bräche er eine große, weiche Frucht auf oder böge er etwas auseinander. Nicht nur Chirurgen, auch andere Menschen haben solche Attitüden zu Marotten entwickelt, dachte die Krankenschwester, die ihn manchmal beobachtete.
Es ereignete sich, dass in dem Krankenhaus ein größeres Tier geschlachtet wurde. Rinne kam scheinbar zufällig herbei als der Kopf abgeschlagen wurde. Er entnahm dem von schweren Axthieben zertrümmerten Schädel das Hirn, nahm es in die Hände und bog die beiden Hälften auseinander. Seine Marotte mit den Händen wurde mit einem Schlag in ihrem Sinn und Bedeutung klar. Es hatte mit seinem zerrütteten Verhältnis zu seinem Vater eine enge Beziehung.
Rinne ging in die Kantine, um ein Kännchen Kamillentee zu sich zu nehmen.
 
(Persiflage nach Gottfried Benn)
 
 


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Kommentare (1)

ehemaliges Mitglied

Sam, Schätzle, hast Du gestern auch "Patch Adams" gesehen,
oder ist Dein Produkt schon älteren Jahrgangs?

Fragen über Fragen.

Grüssle
Clematis
 


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