Lebensbrücke

 
Als ich die Brücke betrete, ahne ich noch nichts von der Tragweite dieses Schrittes. Ich fühle mich durchaus in der Lage, diesen Gefahren zu begegnen, die mich auf der anderen Seite erwarten. Was kann mir denn schon noch geschehen?
Mir, der ich schon durch alle Wüsten und Berge des Lebens gewandert bin. Ich, der schon so oft abstürzte und doch immer wieder die Höhen erklimmen konnte. Ich kenne die Welt von allen Seiten, sowohl die bösen wie auch die guten. Worüber soll ich mir Gedanken machen?
              Auf der Hälfte des Wegs, mitten auf der Brücke, kommt in mir doch ein Gefühl von Verlassenheit auf. Diese Gedanken der Unsicherheit beherrschen urplötzlich mein Fühlen, dieses Wissen um das Nichtwissen! Was finde ich vor? Alles liegt im Nebel der Zukunft verborgen, nicht einmal andeutungsweise ist etwas zu erahnen. Ich sehe vor mir nichts als schleierhaften Dunst, hinter mir nichts als den weissen Nebel des Daseins. Urplötzlich befinde ich mich im Niemandsland meines Lebens, mitten auf der Brücke in ein neues Leben und doch noch meilenweit davon entfernt.
              Wie wird alles weitergehen? Ich weiß dass es weitergeht! Diese abstrakte Tatsache, so unwirklich sie auch ist, treibt mich vorwärts. Was bleibt mir sonst auch übrig?
~~~~~~~~~
           Der Gedanke an diese Irrealität gibt mir ein Gefühl von Wirklichkeit. Was auch immer geschieht, mein Weg wird sich unabänderlich auf der anderen Seite der Brücke fortsetzen! Ein letzter Blick auf ein verlorenes Paradies? A uf keinen Fall! Ich ließ ganz sicher weder Himmel noch Hölle hinter mir, lediglich ein Abschnitt meines Lebens bleibt zurück, der sich irgendwann vom ursprünglichen Pfad abgekoppelt hat.
              Dieser Weg auf dieser zweiten Hälfte der Brücke ist noch immer unwirklich. Schemenhaft scheinen ihn Gestalten zu kreuzen, stellen sich wie Figuren eines dionysischen Dramas vor mir auf und verschwinden dann wieder in der Versenkung. Mehrmals verharre ich am Rande der Brücke, werfe einen Blick in das schemenhafte Etwas, das dort unter mir brodelt und plätschert. Manchmal erscheint es wie das Flüstern von Stimmen, die verhalten ihre Hintergrundmelodie zum Ablauf des Daseins einbringen. Ich setze meinen Weg fort, sogleich kommt in mir ein Gefühl von Befreiung auf. Es ist wie ein Abwerfen von Gewichten, die anscheinend tausend Jahre auf mir gelastet haben und nun in den Tiefen des Wassers unter mir verschwinden!
~~~~~~~~~~

           Vor mir bildet sich eine Wolkenwand, das Ende der Brücke? Einzelne Bäume und Büsche bauen sich vor mir auf. Der Pfad zwischen den Baumgruppen wird zunehmend enger und enger. Ich erlaube mir eine Rückschau auf das andere Ufer - nichts mehr da, das mich an die Vergangenheit erinnert; nichts mehr da, das ich vergessen müsste. Nur noch diese Brücke, fest und standhaft zwischen zwei Welten. Diese geisterhafte Brücke, die ich überschritten habe im Bewusstsein des Zukünftigen.
There is no turning back.
          Pantha rei! Welcher Fluss fliesst bergauf, welches Menschenleben wird rückwärts gelebt? Ich spüre doch den Pulsschlag der Zeit, der das Schlagen des eigenen Herzens übertönte und deutlich spricht, so wie Rainer Maria Rilke es ausgedrückt hat:
»Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem?«

 
©by H.C.G.Lux

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Kommentare (3)

Roxanna

Ich bin immer dafür über die Brücke zu gehen. Es nicht zu tun würde bedeuten, ich verharre im Alten. Vorwärts und immer weiter geht das Leben, wenn möglich in dem Vertrauen, dass ich auch "dort" am anderen Ufer getragen und beschützt bin, nicht in dem Sinne, dass mir nichts mehr passiert, sondern, dass ich die Kraft habe, mit allem, was mich dort erwartet, umzugehen. Es wird immer etwas geben, von dem man sich schwer verabschieden kann, aber auch etwas, von dem man froh ist, es hinter sich lassen zu können. Am Ende meines Lebens möchte ich sagen können, ich habe mich meinen Aufgaben gestellt und nicht gekniffen. Das habe ich geschafft, wenn auch manchmal mit großer Mühe.

Herzlichen Gruß
Brigitte

Syrdal



Urplötzlich befinde ich mich im Niemandsland meines Lebens.“
Wohl einer der wichtigsten Sätze in deiner nachdenklich stimmenden Betrachtung, die mich sogleich zu dem bekannten Lied „Über sieben Brücken musst du gehen...“ führte…

Wie gut ist es doch, wenn es gerade in „Niemandsland-Zeiten“, die ja doch ein jeder im Laufe seines Lebens immer mal wieder erfährt, Brücken gibt, selbst wenn sie unbekannt sind, schwanken und die andere Seite unerkennbar in dichtem Nebel liegt.

Doch Brücken gleich welcher Art sind „Verbindungsstege“ zwischen Vergangenem und Kommendem, sie führen hin zu „neuen Ufern“, tragen über „Abgründe“ zum festen, sicheren Boden. In solchen Zeiten über Brücken gehen, sind besondere Zeiten des Los-Lassens, wichtige Zeiten der Reifung und des „Sich-selbst-Erkennens“. – Wohl dem, der zur rechten Zeit den Mut hat, vertrauensvoll über die nächste Brücke zu gehen.

Mit Abendgruß
Syrdal
 

Pan

Ja, ich sehe die Brücken auch eher als Verbindungsstege, wie Du sie nanntest, es ist immerhin ja auch ein freiwilliges Handeln. Ich will, kann, - muss sie  aber nicht betreten.
Danke und schöne Abendstunden,
Horst


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