Karma Rhabarberstaude
MICH KANN GEHOLFEN WERDEN
Zur heilenden Karmaarbeit einer Rhabarberstaude
Zur heilenden Karmaarbeit einer Rhabarberstaude
Unendlich schwere Düsternis lastete mir. Grauenvolle Nachtmahre ließen mich meinen Schlafanzug durchnässen. Riss mich ein schrecklicher Alb aus fiebrigem Traum, juckte der Fußpilz zwischen meinen Zehen schier unerträglich. Kaum entstieg ich gegen Mittag gerädert und mit bleiernen Gliedern dem durchwühlten Bett, schon zeigte mir der Spiegel, dass ich ein Mann war. O stolzere Trauer!
Welche barmherzige Menschenseele vermag meine seelenbeschädigende Verschattung nachzuempfinden, wenn mir mein Onkel Matthias, der ebenfalls lebenslang unter unausrottbarem Fußpilz litt, in mein Bewusstsein drang, oder meine Tante Mathilde, die stets etwas säuerlich von ihren Achselhöhlen her roch, so ähnlich wie das Sauerkraut, das sie so trefflich zuzubereiten wusste.
Ohmannohmann, noch zwei Tage bis zur Auszahlung der nächsten Monatsstütze.
Wenn mich elendiger Frust, gleich einem erlöschenden Stern im Andromedarnebel, übermannte, sobald ich auch nur einen Augenblick lang daran dachte, wie wenig ich aus meiner in der Untersekunda aufscheinenden, einmaligen Genialität gemacht hatte: nichts mehr als das perfektionierte Vermögen, eitrige Pickel geschickt zwischen Daumen und Zeigefinger auszuquetschen ist mir davon geblieben.
Ich war am Ende.
Doch Hilfe schien sich mir zu nahen.
Am Schwarzen Brett meines Stadtteildrogeriemarktes pinnte das pfirsischblütene Karteikärtchen DIN A 5:
Gnocci se auton
FUNDAMENTALER
LEBENSENERGIETHEORETIKER
bewältigt jede fundamental-crisis durch bioenergetisch basal konzentrierte
Paararbeit. Sozialbeihilfefähig. Kommen sie durch mich zu sich selbst.
FUNDAMENTALER
LEBENSENERGIETHEORETIKER
bewältigt jede fundamental-crisis durch bioenergetisch basal konzentrierte
Paararbeit. Sozialbeihilfefähig. Kommen sie durch mich zu sich selbst.
Na ja, weshalb sollte ich nicht mitnehmen, was nichts kostet. So billig gibt es esoterisch angereicherte Lebenshilfe noch nicht einmal beim Aldi.
Beinahe hätte ich ihn nicht wieder erkannt, als ich – getrieben von der aufkeimenden Hoffnung durch etwas lebensenergietheoretische Antriebsvermehrung meine chronische
fundamentale Antriebsschwäche partnerorientiert aufzuarbeiten - den Seminarraum in der Umkleidekabine eines jüngst aus kapitalistischen Gründen geschlossenen Schwimmbades betrat: seine schwarze Lederjacke hatte er mit einem togaähnlichen Überwurf getauscht, über die sein gelocktes Haupthaar, das ich bisher nur als neckischen Pferdeschwanz kannte, wallte. Er war es wirklich, der promovierte Taxifahrer, der mich noch kürzlich nach einer schwierigen, fiebrig durchgekifften Nacht mit seinem Taxi zum Sozialamt gefahren hatte, um die nächste Monatsstütze abzuholen. So beutet der Staat außer uns verkannt-genialen Kreativen sogar seine Akademiker aus.
Als „Johannes, Dein persönlicher Coach-Senior-Supervisor“ stellte sich der verwandelte Taxifahrer vor. Ich fand das schwer o.k. Wir setzten uns auf die im Kreis stehenden Klappstühle, reichten den Nachbarn die Hände, nannten reihum unsere Vornamen und verfielen in den den sozialgeschädigten Stützeempfängern geläufigen entrückten Blick, der ihnen nicht nur als Folge zahlreicher Persönlichkeitsaufbau- und -stärkungskurse, sondern auch seit dem ersten, vorpubertären Sprung in der Schüssel gleichsam angeboren ist. Er, Johannes, versprach, unsere Life-Crisen durch personality supervicte Lebensweisheiten zu lösen. Ich wusste zwar nicht, was das ist, war aber sehr neugierig geworden. „You know, that’s is your way!” Krass cool, wie er das ausdrückte. Mit was man nicht alles Schwarzkohle machen kann. Spontan war ich voller Zuversicht, mit den supervicten Lebensweisheiten von Johannes, dem promovierten Taxifahrer, ließen sich spielend das mir drohende Sommerloch füllen und die gewohnten Depressionen bis zum Herbst hinausschieben.
Voller empathischem Verständnis machte die auf den Klappstühlen sitzende, seelenheilendeerwartende Bedürfnisrunde dann zuerst einmal eine Pause in der gemeinsamen Trauerarbeit, weil ich durch eine Individualarbeit auf dem Klo des aus kapitalistischen Gründen jüngst geschlossenen Schwimmbades mich dringend von den Resten der sich unter heftigen Krämpfen gelöst habenden Darmverstopfung, die mich schon seit Tagen sehr belastet hatte, befreien musste. Endlich, endlich, konnte ich wieder einmal aus Herzenslust unbeschwert scheißen. Doch, es gibt sie noch, die guten alten Dinge, die geduldigverstehendrücksichtsvollen Menschen auch in unserer erbarmungslosen Ego-Ellbogengesellschaft.
„Lasse los, so wirst du gelassen rebirsth“, so begann Johannes mit seinem weichen Bariton, als ich wieder erleichtert auf meinem Klappstuhl saß. Wie recht er doch hat, ich muss ihm einfach zustimmen. Seine erste, alte Lebensweisheit ist doch ganz klar einleuchtend. Johannes muss das nur noch unbedingt echt bei den Kapitalistenknechtenbossen rüberbringen, damit sie, von ihrer Profitgier befreit, endlich ihren Zaster loslassen und zu uns rüberbringen. Und überhaupt, ich bin grundsätzlich für die Freigabe von Cannabis. Das muss einmal klar gesagt werden.
Etwa 28 – 32 Sekunden später drückte Johannes uns allen Selbstfindungsbedürftigen ein Formularblatt DIN A 4 in die Hand, das die Überschrift trug: „Inventar meiner posttraumatischen Selbsterfahrungen“. Darauf sollten wir in Stichworten notieren, was wir in unserem Leben schon alles losgelassen haben, um sich mit dem Ergebnis anschließend in die Gruppe einzubringen, vorzutragen, zu hinterfragen und auszudiskutieren. Ich freute mich auf einen langen Abend im Umkleideraum des jüngst aus kapitalistischen Gründen geschlossenen Schwimmbads. Voller Vorfreude öffnete ich die erste Dose und schrieb alles auf, was ich jemals losgelassen habe.
Während wir so angeleitet an unserer praxisorientierten Selbsterfahrung arbeiteten, setzte sich Johannes neben den Papierkorb auf den Boden und kiffte einen. Allerdings schiss er dort nicht. Muss wohl aus einem gutbürgerlichen Elternhaus stammen, der Junge.
Ich habe eine ganz lange Liste erarbeitet und jeden Furz aufgeschrieben, den ich schon einmal losgelassen habe. Damit ragte ich aus der Gruppe hervor und erhielt von Johannes ein Fleißkärtchen. Noch nie im Leben hat sich jemand für mich und das von mir Losgelassene interessiert, so etwas wie Fleiß war mir völlig unbekannt. Und jetzt die Wohltat von Johannes! Ich war ein bisschen stolz auf mich und öffnete die nächste Dose.
Ich hielt alle acht, über den ganzen Sommer verteilten, lebensenergieberatende Selbstfindungsabende durch. Das Sozialamt hätte sonst die Kursgebühren nicht erstattet, hätte ich vorher schlapp gemacht. So billig sollten diese Menschenschinder doch nicht wegkommen.
Es war Spätsommer geworden und meine schon bisher recht kärgliche Persönlichkeitsentwicklung hatte einen neuen Sprung bekommen. Ganz gelassen lag ich tagelang auf meiner Couch, eine Palette vom Aldi in Griffweite. Ließ mich nicht mehr dazu verleiten zu Besen und Schaufel zu greifen, wenn mein Ficus Benjamini Blatt um Blatt fallen ließ, nachdem ich in den letzten Wochen die Gewohnheit losgelassen hatte, ihn ab und zu zu gießen. „Lasse los, so wirst du gelassen wenn die Blätter fallen“. So lag ich da ganz gelassen auf meiner Couch. Und die Blätter des Ficus Benjamini auf dem Boden. Mit welch einfachen Mitteln wir unsere Mutter Erde bewohnbar machen können. Ich war frei geworden von jeglichem Erfolgszwang (den ich genau besehen noch nie hatte) das Leben meistern zu müssen. Es geht auch ohne Meisterbrief. „Lasse los, so kannst du gelassen auf die nächste Monatsstütze warten“. Sorge dich nicht lebe, die Kohle ist jedenfalls im geordneten behördlichen Vorgang.
Doch der Herbst nahte und ich fürchtete, die von Johannes vermittelten Lebensweisheiten würden nicht ausreichen, meine durch frühkindliche Erschütterungen beschädigte Seele (noch während meiner vorpubertären Befindlichkeit hatte mich meine dabei in Tränen aufgelöste Mutter darüber informiert, dass Onkel Matthias, obwohl er an unausrottbarem Fußpilz litt, immer wieder einmal mit Tante Mathilde gepennt hat. Das verstand ich damals und verstehe es bis heute nicht, aber es machte mich sehr betroffen, wie immer, wenn sich meine Mutter in Tränen auflöste), um meine gründlich beschädigte Seele vor den depressionsträchtigen Nebeln des Herbstes zu bewahren.
Einem der wertvollen Esoheftchen meiner gelegentlichen Freundin Laura, die mich an und an (viel zu selten, aber mehr gab unser Verhältnis einfach nicht her) mit ein bisschen poppen erfreute, entnahm ich die Kleinanzeige für ein karmaorientiertes Langzeitgedaddel:
„Kultur der Langsamkeit. Tatarische Selbstbefriedigungsmeditation nach den Lehren fernöstlicher Meister. Wie sie langsam zu sich selbst und auch die anderen kommen. Kommen sie. Wöchentlich dienstags zwischen 18.00 und 19.30 Uhr. Handtuch mitbringen.“
Das muss doch etwas zutrauenaufbauendes Zuwendendes für meine frühkindlich von einem verlassenen Vater traumatisierte Seele sein, dachte ich, es wird doch langsam Zeit, regelmäßig 1 x pro Woche zu mir selbst zu kommen.
Das Ambiente des Meditationscenters war entschieden besser als bei Johannes in den Umkleidräumen des jüngst aus kapitalistischen Gründen geschlossenen Schwimmbads. Keine undichten Fenster, durch die der betörende Duft der Räucherstäbchen entweichen konnte. Eher etwas überhitzt der Anwendungsraum; doch die Sinn- und Zweckhaltigkeit dieser Realität sollte sich meinem Begreifen bald erschließen.
Der „Großmeister der tatarischen Selbstbefriedigungsmeditation“ – als solcher war er im Prospekt angekündigt -, empfing uns wort- und grußlos, wobei er nackt im Schneidersitz auf dem Boden saß, welche Stellung es erlaubte, seine lose herabhängende Mitte in Augenschein zu nehmen. Na ja, hier schien es halt sehr langsam und sanft zur Sache zu gehen.
Den leise geflüsterten Anweisungen der Assistenten des Großmeisters folgend, versetzten wir uns nach dem Ablegen aller äußeren Hüllen in Positionen und Zustände, die denen des tatarischnackten Befriedigungsgroßmeisters möglichst ähnlich waren, auf den Boden. Gut, dass der Anwendungsraum des Meditationscenters eine energiereiche Fußbodenheizung hatte, denn es gab dort keine Klappstühle.
Unter den Assistenten des Großmeisters war auch eine Assistentin, welche – da sie westlichen Männervorstellungen von fernöstlichen Frauengewohnheiten sehr nahe kam - die Ursache dafür war, dass sich bei mir eine mittlere Erektion einstellte. Da half mir die von Johannes, meinem promovierten Taxifahrer, erworbene Vorbildung über die erste Hürde hinweg. „Halte schlechte Energien von dir fern, wenn du keine Chance hast sie zu verwirklichen“. Innerhalb von ca. 1,5 Minuten wurde auch meine Mitte wieder der des Großmeisters ähnlich, sodass sie Bodenkontakt erreichte, den der Großmeister seit Beginn der Veranstaltung hatte.
Wie tröstend war es meiner verwundeten Seele, als der fernöstliche Beleuchtungsgroßmeister endlich und so leise wie die vor sich hinglimmendduftenden Räucherstäbchen sein Schweigen brach und anhub. „Was du nicht bist, kannst du werden. Gehe deinen Weg. Lasse deines langsam wachsen, gleich den üppigen Blüten der Kirschbäume am Futschijama.“ Er hubte noch weiter. „Sie sammeln in der Zeit in verschlossenen Knospen heranreifend ihre beglückenden Kräfte, die sie dem Auge des Betrachters erst darbieten, wenn sie die sie umgebende Hülle gesprengt und abgeworfen haben.“ Ich glaubte, ich war in einen Kurs für Fortgeschrittene geraten, wie wir da mit bereits abgeworfenen Hüllen auf der energiespendenden Fußbodenheizung herumsaßen und alle Kirschblüten ringsum sehen konnten. Allerdings fehlte der Futschijama im Hintergrund.
Der Großmeister der tatarischen Selbstbefriedigungsmeditation sinsangte so die Erleuchtungen fernöstlicher Meister bis ca. 18.32 Uhr. Die Assistentin hatte sich inzwischen entfernt, nachdem sie die Beleuchtung des Anwendungsraumes im Meditationscenter heruntergedimmt hatte. Aber nur soweit, dass man noch ziemlich deutlich sehen konnte, was sich bei den anderen Meditanten und -tantinnen so betrachten ließ. Zum Beispiel bei der Rothaarigen („Hallo Leutens, ich bin euere Susi“, hatte sie sich anfangs vorgestellt) schräg gegenüber. Ich sah sehr deutlich das Chromnickeledelstahlstäbchen, das ihr ein Teil zierte, das normalerweise dem öffentlichen Anblick nicht preisgegeben wird. In den Augenbrauen, der Nasescheidwand, den Ohrläppchen, o.k. Aber dort? Für alle Beteiligten wohl ziemlich gewöhnungsbedürftig, eben nicht normal. Nun gut, ich war ja nicht bei einer Selbstbefriedigungsmeditation für ganz gewöhnliche Normalos. Einen längeren Augenblick lang überkam mich ein wohliges Glücksgefühl bei dem Gedanken, als Chromnickeledelstahlstäbchen rebirsth zu werden. Leider war es nicht erlaubt, in solchen Meditationsaugenblicken eine Dose zu öffnen.
Der Befriedigunsgroßmeister himself breitete die Arme weit aus und vollzog das tradierte Initiationsritual auf dem Weg zu unserer erleuchteten selbstbefriedigenden Selbstfindung. Er lehrte die „Erste Stellung des großen Kranichs bevor er die Flügel ausbreitet“. Ein wirklich verehrenswertes Ritual, finde ich, jedenfalls für den Anfang, welches auf den altehrwürdigen Großmeister Hoch-Siee (496 – 412 v.Chr.) zurückgeht. Wir begannen mit einer nahezu geräuschlosen Meditation über die karmastärkenden Energien der sich langsam zurückziehenden Vorhaut. Es handelt sich bei dieser ehrwürdigen Übung um ein Focussing auf jene handnachhilfefreie Spielsituation, die in der klassischen tatarischen Tradition die Initialzündung für das eigentliche Vorspiel darstellt.
Während wir in der Räucherstäbchen-Atmosphäre abgedimmert mit halb geschlossenen Augen auf das Meditationsobjekt fokussiertversunken herumsaßen, erweiterten sich hin und wieder sowohl mein Bewusstsein als auch das Objekt unter der meditativ betrachteten, sich langsam zurückziehenden Vorhaut, dem eigentlichen Objekt, das nach der vorvorspielhaften Meditation an die Reihe kommen sollte.
„Ich nehme an, es handelte sich um eine Botschaft des 3. Mondes des Uranus, die in deinen Astralleib eindrang“, meinte „euere Susi“, mit der ich im Anschluss an den ersten Anwendungsabend das Phänomen hinterfragte. „Freilich kann ich mich da irren, weshalb bewegte sich in der Situation mehr, als das Begleitheft zum tatarischen Meditationskurs angab: ‚Bei den Meditationen soll man sich selbst immer mehr entfalten und ausdehnen.’ Scheinbar hatte die Botschaft nicht nur dein beschädigtes Selbst, sondern auch deine einigermaßen ansehnliche Mitte erreicht, sodass sowohl du und dein Selbst als auch dein Knuddel die Bodenhaftung verloren“, meinte Susi. Na ja. Man kann alles irgendwie erklären, auch ein Sprung in der Schüssel hat irgendwie eine Ursache. Wir nahmen uns noch das bisschen Zeit für einen westlichen Quickie, bevor Susi in den Lidl einkaufen ging. Doch zurück in den Anwendungsraum des Meditationscenters, damit wir nicht vom Thema abkommen.
Der tatarisch erleuchtete Großmeister in der 36. Generation rebirsther Selbstbefriedigungsmeditanten erlaubte nicht nur während seiner einführendangehubten Worte, er forderte sogar unterschiedliche männliche bzw. weibliche Vorstellungen zu der „Ersten Stellung des großen Kranichs bevor er die Flügel ausbreitet“, untersagte jedoch männlichen und weiblichen Meditanten und –tantinnen gleichermaßen strikt, bei dieser ersten Übung allzu hart zuzugreifen und untersagte strengstens das Öffnen von Dosen im Kurs. Das fand ich blöd.
Dem Appetizer über die „Erste Stellung des großen Kranichs bevor er die Flügel ausbreitet“ folgte die eher handfeste Vorspeise einer sogenannten Penis-Massage, wie der Fachausdruck lautet. Dem Begleitheft zum tatarischen Selbstbefriedigungsworkshop hatte ich entnommen, dass diese Übung „eine Viertelstunde dauern, und nicht einer sexuellen, auf Orgasmus bzw. Ejakulation gerichteten Erregung“ dienen solle. Entgegen dieser Betriebsanleitung kamen einige der Meditationsteilnehmer und –innen, offenbar Anfänger in den fernöstlichen Handfertigkeiten, schon vor dem Ablauf einer Viertelstunde. Was eigentlich ganz nett mitzuerleben war. Vielleicht waren sie ja auch zu faul gewesen, das Begleitheft vor dem Workshop zu lesen. Sei dem wie es auch sei, es war nicht schlimm, was sich da ereignete. Da wir, das Einladungsschreiben hatte uns doch dazu aufgefordert, unsere Handtücher mitgebracht hatten, setzte ein sehr praktisches Multikulti ein: ein fröhlich-westliches „Wisch und weg“ folgte der fernöstlichen „Konzentration auf das Wesentliche“. So ergänzen und durchmischen sich die Kulturen.
Mit dieser ersten Übung endete der erste Anwendungsabend, ohne dass es uns der Großmeister erlaubt hätte, das Erlebte und dabei Gefühlte zu thematisieren, zu hinterfragen und unsere Gefühle über das Gefühlte auszutauschen. Während wir uns deshalb ohne lange zu palavern in aller Stille wieder anzogen, sehnte ich mich ein wenig nach Johannes, dem promovierten Taxifahrer zurück. Im Gegensatz zum fernöstlichen Großmeister hat er mir ein Fleißkärtchen gegeben und ließ uns auch hinterfragen und die Krise der Gesellschaft infrage stellen.
Woche für Woche, jeweils dienstags zwischen 18.00 und 19.30 Uhr erzielten wir im Meditationscenter weitere Erleuchtungen und Fortschritte auf der Suche nach unserem Selbst und dessen beklagenswerten Bewusstsein und Zustand, da der Befriedigungsgroßmeister bei jeder Zusammenkunft einen anderen Körperteil durchnahm und abhandelte. Gut fand ich vor allem die Lektion über jenes Teil, bei dem Susi ihr Chromnickeledelstahlstäbchen aus dem eben erwähnten Teil herausgezogen hatte, um uns einen Anblick der zwar nicht unbeschädigten, aber unverfälschten Natur zu ermöglichen. Und überhaupt nicht gefiel mir das mit der Chakraaktivierung, bei der man mit dem Zeigefinger den Enddarm bewegen musste. Fand ich nicht lustig. Es juckte fast genauso schlimm wie mein Fußpilz.
Die Fußbodenheizung funktionierte aber immer zuverlässig und zu Beginn jeder Doppelstunde war auch die Assistentin eine Weile anwesend.
Ich muss zugeben, so befreiend und ein wenig das Selbst befriedigend das Ganze auch war, so wirklich zutiefst beglückend konnte es nicht alle Verschattungen von meiner schon frühkindlich, wahrscheinlich sogar schon vorgeburtlich (wie mein persönlicher Psychotherapeut mutmaßt) verkorksten Seele (schon als sie zum ersten mal mit meinem bald darauf vor ihr geflüchteten Vater auf der Matratze lag, wusste meine Mutter nicht, wie sie es machen sollte, berichtete mir meine Mutter einmal, wobei sie wiederum in Tränen aufgelöst war) aufhellen.
Zwar ereigneten sich bei den gemeinsamen öffentlichen Sitzungen im Anwendungsraum des Meditationscenters (und bei den privaten danach) weitaus mehr praktische Anwendungsfälle als bei Johannes, meinem promovierten Taxifahrer. Dabei hatte ich gelegentlich auch eine einigermaßen ordentliche Ejakulation von unterschiedlicher Intensität und Dauer. Aber so richtig ganz das Gelbe vom Ei war, wie gesagt, die Sache doch nicht. Immer wenn am Ende einer Sitzung geschah, was der Großmeister als „Zweite Stellung des großen Kranichs bevor er die Flügel wieder zusammenklappt“ bezeichnete, wurde ich mir schmerzlich einer erneuten inneren Leere bewusst. Ich war total ausgelaugt und fertig, mein Akku war leer, die alte Antriebsschwäche wurde wieder offenbar.
Ich war im Spätherbst angehender Experte für äußere, tatarische Befriedigungen geworden, doch meine barmende Seele ..., kurz, im Winter musste etwas Tröstendes her.
Eine meiner Gelegenheitsfreundinnen – es war nicht Laura, mit der ich manchmal Stütze und Bett teilte, es war Corinna, mit der ich desgleichen von Zeit zu Zeit getan hatte -, Corinna war es, die auch schon ewig in der Szene herumhängt, ohne dass es ihr bisher irgendwie genützt hätte, sie empfahl mir, gemeinsam ein „Wellness-Beauty-for-Soul – die vier Wege zur Wahrheit“ zu belegen. Als ich sie fragte um was es dabei ginge, meinte sie, das sei irgendwie so etwas um mitleidige Menschen zu mitleidenden zu machen, oder irgendwie so. Und krass cool. Das sei das echt wahnsinnig Richtige für mich, da ich es bisher nicht verstanden hätte, meine Partner bei der zwischenmenschlichen Kommunikation zu etwas zu bewegen und zu verändern, weil ich einfach noch nicht den Weg zu den Wahrheiten gefunden hätte. Ihr habe der letzte Workshop auf jeden Fall unheimlich gut geholfen, da sie jetzt mit ihren öffentlich sichtbar gewordenen Problemzonen viel besser umgehen und zu ihnen stehen könne. Obwohl ich leichte Zweifel hegte, dass jemand mit meinen veröffentlichten Problemzonen etwas anfangen könne und ich seit meiner verpfuschten Kindheit (Onkel Matthias! Tante Mathilde! Präembryonal empfundener Mutterfrust wegen eines bald davor geflüchteten Vaters! Sozialamt!) nicht zu mir stehen kann, willigte ich ein, und meldete mich zu dem Erleuchtungsworkshop: „Wellness-Beauty-for-Soul – die vier Wege der Wahrheit“ an.
Diesmal war der fernöstliche Erleuchtungsgroßmeister mit einem schwarzen, silberbestickten Bademantel bekleidet, im Gegensatz zum Befriedigungsgroßmeister im Meditationscenter, der unbekleidet war. Das Lifing-center, in dem wir uns einfanden, war nicht überheizt, aber wieder jede Menge Räucherstäbchen. Auch war das Licht abgedimmert. Die da im Fernen Osten sind offenbar mit dem Energiesparen schon viel weiter als wir im Westen.
„Der Weg ist das Ziel“, begann der schwarzgedresste Erleuchtungsgroßmeister, der keine Assistentin dabei hatte. Das war sehr schade. Mir schauderte. Was habe ich hier zu suchen? Ich, der nie ein Ziel hatte, geschweige denn einen Weg dahin suchte? Wie sollte ich den ersten Schritt, mit dem – nach den Erläuterungen des Erleuchtungsgroßmeisters - der lange Erfolgsweg beginnt, gestalten, da ich die Quälereien eines langen Weges einfach nicht mag? Schon der monatliche Weg zum Sozialamt wegen der Stütze ist mir ein Graus und eigentlich mit meiner Menschenwürde nicht vereinbar.
Es sollte noch schlimmer kommen. Als der fernöstliche Großmeister gar noch mit sanftsamtener Stimme uns zu erleuchten suchte: „Auch mit Gewalt lässt sich kein Bulle melken“, brach in mir ein seit meiner trostlosen Kindheit (siehe oben) latent schlummerndes Überforderungssyndrom aktuell aus. Ein starker Schuss Magensäure strebte hoch in Richtung Speiseröhre. Dicke Perlen von Angstschweiß bildeten sich auf meiner Stirn. Ein sicheres Anzeichen, dass ich zusätzlich von einer postkonfuzianischen Zurückhaltungsstörung gepeinigt wurde.
Als der schwarzbadebemantelte Erleuchtungsgroßmeister, den längst verstorbenen Meister K. zitierend, zur nächsten Wahrheit griff: „Der Meister sprach: Reichtum und Ehren sind es, was der Mensch begehrt. Erlangt er sie nicht auf dem Rechten Weg, soll er nicht ruhn darin“, war mir endgültig klar, dass ich im falschen Film saß. Mir, dem in der Wolle gefärbten Linken, mir, dem unerbittlichen Verfechter des Wohlfahrt verteilenden Staates, mir dem es zusätzliche, grausamste Albträume bereiten würde die CDU zu wählen, mir, dessen Großvater und Vater schon nichts taugten, ausgerechnet mir zu empfehlen, den Weg der Rechten zu gehen und darin nicht zu ruhen: eine Frechheit sondergleichen. Was braucht der Mensch eigentlich mehr als gelegentliches Poppen und regelmäßige Stütze ohne lange nach dem Weg zum Sozialamt suchen zu müssen?
Unter Abgabe von deutlichen Protesten verließ ich das Lifing-Center, in dem gerade eine subversive kapitalistische Indoktrination ablief. Das darf es in einer lebendigen Demokratie nicht geben.
Und beschloss, im Frühjahr wieder zu meinem Johannes, dem promovierten Taxifahrer, zurückzukehren. Zu vieles an depressionsfördernder Trübnis hatte sich im Herbst und Winter in mir aufgestaut, das loszulassen er mich vertieft lehren würde. Vielleicht, so hoffte ich, konnte er sich inzwischen eine Assistentin leisten.
Gestern habe ich erfahren, dass nicht mehr das Sozialamt, sondern das Arbeitsamt den Aufbauworkshop bei Johannes als Förderung einer ICH-AG bezahlt. Es gibt noch Fortschritte in diesem unserem Lande.
Kommentare (2)
Sam 2
Lieber Willy,
auch von mir ein Fleißkärtchen vorab für deine Dich voll in Anspruch nehmende Arbeit mit Deiner Freundin.
Tolles Wochenende
Sam 2
Bin noch nicht mit lesen am Ende, aber muss unterbrechen, da meine Freundin im Anmarsch ist, die dann meine ungeteilte Aufmerksamkeit für sich beansprucht.
Ein Fleiß-Kärtchen bekommst du aber schon jetzt von mir.
LG
Willy