Eines Tages beschlossen Lothars Chef und sein Vize, am Himmelfahrtstag, der in der DDR kein gesetzlicher Feiertag war, einen Brigadeausflug zu machen. Sie stießen zuerst auf Ablehnung bei ihren Vorgesetzten, die ahn­ten, dass die Gruppe eigentlich nur den sogenannten Vatertag begehen wollte. Der Gruppenleiter besaß jedoch solche überzeugenden Argumente in Form von einigen Flaschen Weinbrand, dass er schließlich doch die Genehmigung für den Betriebsausflug am gewünschten Tag bekam.

Gegen zehn Uhr trafen sie sich an jenem Himmelfahrtstag an der Anle­gestelle in Berlin-Köpenick, um mit einem Schiff der Weißen Flotte nach Woltersdorf zu fahren. Während wohl die meisten Kollegen ganz normal gefrühstückt hatten, traf Kollege Ratte schon stark alkoholisiert ein. Aus Angst, verdursten zu müssen, führte er ein größeres Sortiment von Bier und Schnaps in seinem Blümchenbeutel aus Dederon mit sich, woraus er sich auch bis zum Einstieg reichlich bediente. Auf dem Schiff konnte er seine Vorräte schonen, denn es gab einen Ausschank und das Bier kostete dort nur 51 Pfennige und war damit genauso teuer wie im Konsum.
Während die anderen sich schweigend den draußen niedergehenden Starkregen ansahen, grölte der angetrunkene Kollege mit zunehmender Lautstärke. Als er bemerkte, dass sich an Bord auch eine Gruppe Westber­liner befand, schrie er staatsfeindliche Parolen zu ihnen herüber, wie „Deutsche an einen Tisch!“ sowie „Nieder mit Mauer und Stacheldraht!“ und begann zum allergrößten Entsetzen der anderen „Deutschland, Deutschland über alles ...“ zu singen. Seine Kollegen waren davon nicht nur peinlich berührt, sondern fürchteten auch, dass Angehörige von Horch und Guck zuhörten und sie am Ende alle dafür büßen müssten. Ihre Er­mahnungen, dass sie ein sozialistisches Kollektiv seien und solche Reden nicht dazu passten, fruchteten bei dem Schreihals nicht im Geringsten, sondern er ging schwankenden Schrittes zu den Westberlinern und bot ihnen Getränke aus seinem Dederonbeutel an, die diese aber dankend ab­lehnten. Überhaupt schienen sie von solcher Kumpanei nichts zu hal­ten. Vielleicht vermuteten sie sogar einen Spitzel in Richard Ratte.

Endlich in Woltersdorf angekommen, stiegen sie aus und suchten sich ein Restaurant zum Mittagessen. Leider war diese Suche erfolglos, denn auf Essen waren die Gaststätten an diesem Tag überhaupt nicht eingestellt – es ging eigentlich nur ums Trinken. Wohin sie auch kamen, fanden sie entweder total überfüllte oder ekelhaft verschmutzte Gasträume.
Während sie die Straßen des Ortes nach einer geeigneten gastlichen Stätte absuchten, kam ihnen eine lautstarke Gruppe Angetrunkener entge­gen. Während die Nüchternen es tunlichst vermieden, über das blaue Auge des Anführers dieses Trupps zu lachen, ließ es sich Ratte nicht nehmen, ebenso lautstark wie hämisch über das Veilchen des Entgegenkommenden zu spotten. Dieses Verhalten führte dazu, dass der Ausgelachte auf Ratte losging, dem sofort das Feixen verging. Richard war ein kleines mickriges Männchen und der Angreifer wähnte sich in der stärkeren Position, war er doch groß und kräftig. Er sollte sich jedoch getäuscht haben, denn zu Lothars Kollegen gehörte auch ein Leistungssportler, der nicht nur sehr stark war, sondern auch keine Gelegenheit für eine Prügelei ausließ und deshalb für seinen Kollegen in den Ring stieg. Lothar konnte gar nicht hinsehen, hörte es nur mehrmals laut klatschen und schreien und erst als der Sportler unversehrt zu ihnen zurückgekehrt war, wagte Lothar es, vorsichtig nach dessen Gegner zu schauen und sah, dass dieser nun zwei blaue Augen und eine blutende Nase hatte. Sofort bekam der kleine Stänker wieder Oberwasser und verhöhnte lautstark den Geschlagenen.

Nachdem sie in ganz Woltersdorf nichts zu essen bekommen hatten, aber vom Hunger geplagt waren, fuhren die Kollegen mit der Straßenbahn zurück nach Köpenick. Dort gelang es ihnen, in einem Restaurant einen Tisch für acht Personen zu bekommen und endlich konnten sie ihr Mittag­essen nachholen.
Am Nebentisch saßen mehrere junge Männer, die dem Alkohol wohl schon lange kräftig zugesprochen hatten. Als der Kellner bei ihnen kassieren wollte, kam es zu einer lautstarken Auseinandersetzung, denn niemand wollte die vorgelegte Rechnung bezahlen. Die Herren fühlten sich wohl über den Kneipentisch gezogen.
Nachdem die vereinten Kellner des Restaurants der Lage nicht Herr wurden, holten sie die Polizei, die bald darauf in Gestalt zweier Wacht­meister anrückte. Leider hatten auch diese keinen schnellen Erfolg bei der Lösung des Problems, vielmehr eskalierte die Situation und es kam zu ei­nem Handgemenge zwischen den jungen Männern und den beiden Volks­polizisten, in dessen Verlauf einer der Ordnungshüter zu Boden ging. Wäh­rend der Polizist fiel, flog seine Mütze weg und rollte über den Fußboden, wo er sie jedoch mit katzenhafter Behändigkeit an sich nahm und es in ei­ner bühnenreifen Vorstellung schaffte, sie noch im Aufstehen wieder aufzusetzen, was wohl seiner Autorität dienen sollte, bei den Zuschauern jedoch große Heiterkeit und Applaus auslöste.
Nach dieser Schlappe gingen die beiden VoPos, wie sie in der DDR ge­nannt wurden, nunmehr mit voller Härte gegen die jungen Burschen vor, indem sie sich den Rädelsführer schnappten, ihm die Arme auf den Rücken drehten und ihn aus dem Gastraum schleiften. Seine Kumpels schienen zunächst eingeschüchtert zu sein und verhielten sich ruhig.
Damit hätte der Tag einen aufregenden und erheiternden Abschluss fin­den können, wenn nicht der nun fast volltrunkene Kollege Ratte aufge­sprungen wäre und dem vorübergehend wehrlosen Übeltäter mehrmals in den Hintern getreten hätte, wobei er aus Leibeskräften schrie: „So weit kommts noch, die Hand erheben gegen unsere Volkspolizei!“
Eigentlich hatten sie erwartet, dass der Abgeführte mit zur Polizeiwa­che genommen werde und seine Freunde sich unauffällig aus dem Staub machen würden, aber leider kam es anders.
Die Polizisten hatten Besseres zu tun, als einen kleinen Trunkenbold zu verhaften und so geschah es, dass dieser vor der Tür sofort wieder freige­lassen wurde. Seine Kumpels verließen auch tatsächlich das Lokal, aber nicht ohne den Herren am Nebentisch vorher mitzuteilen, dass sie draußen auf sie warteten, um ihnen gehörig die Fresse zu polieren.
Da es sich ausnahmslos um junge kräftige Burschen handelte, Lothars Brigade jedoch aus teils älteren Herren, teils jüngeren Angsthasen bestand und nur den einen kampferprobten Recken hatte, war die Lage für sie ziemlich aussichtslos.
Dieser Himmelfahrtstag schien sich nun in ein Himmelfahrtskommando verwandeln zu wollen.
Sie tranken ein Bier nach dem anderen und alle halbe Stunde schaute einer von ihnen vorsichtig aus der Eingangstür, ob die Typen noch auf sie warteten, um festzustellen, dass die Burschen nicht verschwunden waren. So saßen sie bis Mitternacht im Restaurant und tranken.
Dass man sich Mut antrinken kann, schien eine Legende zu sein, denn Lothar wurde im­mer ängstlicher, wusste er doch, dass die Gaststätte um Mitternacht schlie­ßen würde und sie ihren Widersachern ausgeliefert sein würden.

Als sie jedoch pünktlich um null Uhr auf das Schlimmste gefasst auf die Straße traten, war da niemand, nur der Regen prasselte auf sie nieder und sie vermuteten, dass der es war, der die Moral der Gegner zermürbt hatte. Lothar hatte sich noch nie so sehr über Regen gefreut.
Seit diesem Tag fand er es auch besser am Himmelfahrtstag zu arbei­ten. Dabei musste man wenigstens keine Angst vor der Stasi und irgendwelchen Schlägern haben.

In das rote Brigadetagebuch schrieb Kollege Ratte am nächsten Tag, dass sie als sozialistische Brigade einen Betriebsausflug gemacht hätten, welcher der Festigung der Freundschaft zwischen den Brigademitgliedern gedient und damit eine Grundlage für die weitere vertrauensvolle Zu­sammenarbeit beim Aufbau des Sozialismus gebildet hätte. Als Beweis klebte er die Fahrscheine und die Restaurantrechnung vom Vortag ein.
Aus dem Buch "Er war stets bemüht" von Wilfried Hildebrandt


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Kommentare (2)

Rosi65

Lieber Wilfried,

was für eine Gruppendynamik! Ein beachtlicher Prozess, der die Rolle jedes einzelnen Teilnehmers beschreibt, und dabei die persönliche Reife der Mitwirkenden mehr als erahnen lässt.👍 Auch der freundliche Umgang mit anderen Personen ist dabei schon erstaunlich.

Sicher hätten sich an solch einem herrlichen Tag sinnvollere Alternativen, statt des Betriebsausfluges, finden lassen (z.B. Garten umgraben, Briefmarkensammlung ordnen, Keller aufräumen). 😉
Aber so war dieses erfolgreiche Tageserlebnis nun mal ein unvergessliches „Großes Kino“, von dem man Jahre später sicher seinen Enkelkindern noch erzählen kann.😂

Herzliche Grüße
     Rosi65

 

Distel1fink7

Hallo Wilfried,

was für ein Alptraum - dieser Herrentag.
Danke für den schmerzhaft ,lustigen Bericht.

Gruß Diestl1fink7


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