Hedwig, Kulturträgerin in der Kleinstadt
„Es war einmal ...“ Weil alle guten Märchen, die die Wirklichkeit realistisch erzählen, so anfangen, beginne ich das Märchen von Hedwig auch mit dieser klassischen Formulierung: „Es war einmal Hedwig ...“ Ist doch schon mal als Einleitung ganz ordentlich, das ist meine unerschütterliche Meinung, an der zu rütteln keinen Sinn macht. Und ohne Kommafehler, sagt mein Rechtschreibprogramm, das sich von meinen Texten nicht erschüttern lässt, woran zu rütteln sich ebenfalls nicht lohnt.
Es war einmal Hedwig. Ein Menschenkind wie der Prototyp der Abonnentinnen des Frauengedöns von BRI… „halt Josef“, ruft mich mein löbliches Tun unterbrechend meine innere Stimme zur bürgerlichen Ordnung, „keine unbezahlte Schleichwerbung an dieser Stelle! Das gehört sich nicht.“. Also wieder Hedwig. Sehr blond war das Kind in jeder Beziehung, was für alle unstreitig ist, die sie nicht nur gelegentlich in Augenschein, danach getreu dem Volksmund genommen, sondern auch versucht haben, drei zusammenhängende, einigermaßen sinnvolle Sätze mit ihr auszutauschen. Was gar nicht so einfach war und ist, da Hedwig schon in ihrer blühenden Jugendzeit (wie man das zu nennen pflegt) sehr einfach und übersichtlich ausgestattet war. (Das ist kein Schuldvorwurf gegen Blonde, die gleichzeitig RTL II-taugliche Blondinen sind, und der zur Lektüre vorliegende Text will bei meinem Leibe nicht machoartig gegen Frauen und sonstige Menschen mit anderer Begabung hetzen. Die blonde Britte ist halt einfach, nur so, wie es auch blonde Männer gibt. Die Natur ist gerecht beim Nicht-Zuteilen gewisser Gaben.) Kurzum, Hedwig, in Irgendwo geboren, war von der Evolution eigentlich als prominente deutsche Fußballerfrau vorgesehen, eine RTL-daily-soap in vielen Folgen mit wechselndem Hauptbegattungspartner, eine Karriere, die von einem Schicksalsschlag, einem Gynäkologen, vereitelt wurde. Hedwig hat infolge als Folge dessen Missgriffs inzwischen eine alternative blondinenfrauliche Karriereleiter erklommen, die medizinisch-technische Assistentin ist zur Chefarztgattin mit angeschlossener Edelboutique arriviert. Mit dieser Stellung ist sie parallel zu ihrem Gatten zu einer tragenden Säule des Kulturlebens unserer nahe Irgendwo gelegenen Kleinstadt herangewachsen. Sehen Sie, da sind die weiblichen Blondinen gegenüber den männlichen Blonden klar im Vorteil. Den auch ein/e Gleichstellungsbeauftragte/r nicht beseitigen kann. Unnatürliches kann die Natur nicht beseitigen, das wissen wir doch spätestens seit Darwin. In einer von der katholischen Tradition tief geprägten und beschädigten Kleinstadt kann es sich kein Chefarzt leisten, sich einen Assistenten („der ist gut so“) mit angeschlossener Edelboutique zuzulegen. Solche Partylöwen eigene Erscheinungen gibt es allenfalls in Großstädten, aber es darf sie in den Kleinstädten (offiziell) nicht geben, und deshalb gibt es sie nicht (über dem Ladentisch). Trotz gewisser Alterungserscheinungen, die das Leben in unserer Kultur so mit sich bringt, wenn die Jugendblüten verwelkt sind und ziemlich Frucht ansetzen, hat Hedwig diese Stellungen bis zum heutigen Tag unverändert inne. Diesbezüglich muss man den Missgriff des Gynäkologen als Glücksfall für Hedwig ansehen, denn als deutsche Fußballerfrau wäre sie längst ein ausgelaufenes Modell. Wie jedes Ding, sind auch Hedwig und das Schicksal mit zwei Seiten ausgestattet. Das sollte wegen der allgemeinen Bekanntheit niemand aus den Schuhen kippen.
Hermann, ihr Chefarzt, der sie arriviert hat, der die Kosten von Hedwigs Edelboutique, dem Rat seines Steuerberaters (der auch für die wichtigsten Kultureinrichtungen unserer Kleinstadt Jahresbeiträge entrichtet) folgend geschickt als eigene Betriebsausgaben steuermindernd einzusetzen weiß, trägt inzwischen standesgemäß graumelierte Schläfen, was mit seinem silbergrauen S 911 recht gut zusammenpasst. Dieses Standing zwingt ihn auch geradezu, gemäß der modernen Kultur neben seiner Betriebsausgabe Hedwig auch noch weitere, spesenträchtige Beziehungen von mehr oder weniger langer Dauer zu pflegen und zu unterhalten. Manche Kleinbürger in unserer Kleinstadt, in der Hedwig und Hermann die Kultur beleben, sagen – ungebildet wie die Kleinbürger so sind -, Hermann betrügt Hedwig. Nicht immer, aber immer öfter, seit er standesgemäß graumelierte Schläfen dem Fahrtwind präsentiert, wenn er im S 911 samt Gelegenheitsbelegerin unterwegs ist. Da sieht man wieder einmal, dass das einfache Volk mit dem hohen Kulturgut des Strafgesetzbuches (hier: § 263) nichts am Hut hat. Es müsste sich doch langsam herumgesprochen haben, dass beim Bewirken außerehelicher Betriebsausgaben, wie es typischerweise bei graumelierten Chefärzten geschieht, weder falsche Tatsachen vorgespiegelt, noch wahre Tatsachen unterdrückt, schon gar nicht den Zuwendungsempfänger/innen/n ein Vermögensschaden zugefügt wird. Alle Beteiligten haben doch etwas davon. Die verstehende Rechtskultur in diesem unserem Lande muss noch entscheidend tiefer im Volksbewusstsein verankert werden.
Natürlich weiß Hedwig genau Bescheid (schon deshalb kann von Betrug gemäß § 263 StGB keine Rede sein, der Ahnungslosigkeit voraussetzt, welche bei in der Wolle durch und durch gefärbten Blondinen allerdings prima facie zu vermuten ist.), sie hat nicht nur eine Ahnung, sie, die sonst keine Ahnung hat. Bei den Kulturveranstaltungen in unserer Kleinstadt, bei denen entweder sie oder Hermann nicht anwesend, zumindest außer Hörweite sind, wird natürlich unter den besten Freundinnen und Freunden unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit das gerade aktuelle, kulturell hochstehende Verhältnis durchgerüchtelt, was Brigittchen von lieben Freundinnen selbstverständlich am nächsten Morgen brühwarm unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit seitens der besten Freundinnen in schier endlosen Telefonaten, liebevoll ausgeschmückt und kommentiert, beplappert wird. Kulturträgerinnen halten die Kultur auf dem neuesten Stand.
Dennoch hat Hedwig bis heute noch keinen Gedanken (solche hat sie ja auch manchmal, welche ist nicht erwähnenswert) auf die Frage verschwendet, ob sie sich von ihrem betriebausgabenübernehmenden Chefarzt scheiden lassen soll. Soviel hat sie immerhin im Laufe der Jahre als angeschlossene Edelboutique von der Kultur der ehrbaren Kaufleute mitbekommen (alle Achtung!), dass sich eine Edelboutique in einer Kleinstadt nicht halten lässt, wenn die Einnahmen geringer als die Betriebsausgaben sind, sofern letztere nicht steuermindernd anderweitig einsetzbar sind. Das Leben ist hart. Eine Chefarztgattin mit angeschlossener Edelboutique bedarf des gesicherten Anschlusses an einen Chefarzt, um ihr eigenartiges, ihrer Art eigenes, Leben führen zu können.
Zumal inzwischen Bertram (28), Hedwigs Sohn, zum Berufssohn herangewachsen ist. Weder in Hinsicht auf Begabung (woher sollte die auch kommen?) noch ehrgeizige Neigung, bekundet er die geringste Affinität zu der Vorstellung, durch Arbeit Geld zu verdienen. Für irgendwas müssen doch Eltern gut sein. Bertram (28) ist seit seinen pubertären Lebensjahren, die bis dato nur nach Jahren gerechnet vorbei sind, aber kein Ende in Sicht kommen lassen, fester Bestandteil der Alternativkultur der Kleinstadt nahe Irgendwo. Diese Unsäglichkeit gibt es inzwischen auch im Kulturleben jeder Siedlung zwischen Berlin und Oberammergau. Damit muss Deutschland halt leben. Bertrams Rolle in dieser alternativen siene glänzt darin, auf fellbespannten Rundobjekten herumzuschlagen was das Zeug aushält – seine Kumpel betiteln ihn mit „cooler Schlagzeuger“ -, für den Nachschub an alkoholhaltigen Getränken und sonstigen Rauschmitteln in ausreichender Menge Sorge zu tragen - … „die Kohle Kohle Kohle des AAAAlten wiwiwird in den Wirtschafts Wirtschafts Wirtschafts Kreikreikreis gelauflauflauf…“ ist der erfolgreichste Hit seiner Bande -, und in komatös geschäftsunfähigem Zustand in Begleitung seiner zugedröhnten Kumpel des öfteren die Ausnüchterungszellen der Polizei zu besuchen und vollzukotzen. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die die bürgerliche Kultur nicht in Frage stellen, freut sich die Regionalpresse über dieses Possenspiel, mit dem sie ihre Zeitung sehr lebendig und kundengefällig gestalten kann.
Bei den Vernissagen des örtlichen Kunst- und Kulturvereins, in dem Hedwig und ihr Chefarzt fördernde Mitglieder sind, ist sie immer präsent. Was mehrere Gründe hat. Das neckische Fingerfood und das Glas Prosecco in den feistmanikürten Händen machen sich doch schwer cool als Plapperbegleitung zum sinnfreien Geschwätz nach den einführenden Worten, die von einem städtisch beamteten Experten für Kulturelles zuvor dargeboten werden. Dann trifft man dort immer alle pfauenden Wichtigtuer der Gesellschaft, die immer dort sind, wo dem Bürgermeister und seiner Gattin Stühle in der ersten Reihe reserviert sind, nachdem sie sich beim Bussi links, Bussi rechts gegenseitig das Gesichtsmakeup berochen haben, und danach bei dem immer gleichen Gedaddel über die tiefgründigen Anregungen der Kunst für unsere emphatischen Empfindungen in der erschreckend globalisierten Moderne in lockeren Grüppchen zusammenstehen. Eigentlich sieht das ganz lustig aus, und liefert dem Betrachter reichlich Stoff zum belustigt – kritischen Denken.
Und natürlich trifft Hedwig das sich dort die Füße vertretende Marktsegment ihrer Edelboutique (Markenzeichen: „ab 45 Jahren, ab 84 Kg, ab 850,- €“), das es für eine Geschäftsfrau neben der Kultur zu pflegen gilt. Ein Marktsegment, in dem das textilmäßige Beherrschen der Überweiten, zu denen die Oberweiten der weiblichen Hautevolee im Lauf der Jahre verwildert sind, erfolgsbestimmend ist. Es ist eines der strukturellen Elemente kleinstädterischen Kulturlebens, dass Kulturträgerinnen und Trägerinnen von Überweiten eine große gemeinsame Schnittmenge haben.
Hedwig besucht auch regelmäßig die Konzerte des örtlichen Orchestervereins, bei dem sie und Hermann ebenfalls fördernde Mitglieder sind. Man muss sich doch sehen lassen. Hermann fehlt da allerdings meistens, weil man als Chefarzt mit graumelierten Schläfen öfter Bereitschaftsdienst anderer Art wahrzunehmen hat. Was nichts an der Tatsache ändert, dass er ein örtlicher Kulturträger ist.
Die Konzerte des örtlichen Orchestervereins pflegen eine andere kulturelle Tradition als die Vernissagen des örtlichen Kunstvereins. Hier steht man nicht mit Fingerfood und Prosecco in den Händen herum, hier sitzt man mit dem Handtäschchen auf dem Schoß, hält das Programmheft in den Händen und trägt eine nachdenklichbedeutungsvolle Miene. Wenn die dargebotenen „Musikereignisse auf Weltniveau“ (Echo in der Lokalpresse) sich langsam anhören, darf das Mienenspiel auch einen versunkenen Ausdruck annehmen. Während der Zeit, die die Kunst vorne auf dem Podium dauert, muss man den Mund halten. Nach dem Konzert trifft sich die kulturmäßig bessere Gesellschaft im „Ratskeller“, der in manchen Städten auch „Bürgerstuben“ oder so heißt. Das stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Kulturgemeinde.
Beim Konzert reserviert der Kulturdezernent für Hedwig immer den 3. Stuhl rechts vom Bürgermeister in der ersten Reihe. Das macht auch statusmäßig sinnfällig, welche bedeutsame Rolle eine Chefarztgattin mit angeschlossener Edelboutique, die auch 2. Vorsitzende im Kulturbeirat der Gemeinde ist, im Kulturleben der Kleinstadt spielt.
Bei den Konzerten tragen die Gattinnen das sogenannte „Kleine Schwarze“, für das Hedwig in ihrer Edelboutique für ihr Marktsegment mehrere Varianten mit verbreiterter Passform zum Kauf anbietet.
Für den Trachtenverein, die Schützenbruderschaft, den Förderverein des Heimatmuseums und 12 weitere derartige Institutionen entrichten Hedwig und ihr Chefarzt ihre Jahresbeiträge per Bankeinzug. Kulturelles Engagement bringt finanzielle Verpflichtungen mit sich. Auch Beitragszahler eignen sich zum Kulturträger.
Wie alle Märchen, die von der Wirklichkeit erzählen, endet auch das Märchen von Hedwig: „da sie noch nicht gestorben ist, lebt sie heute noch“.
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