Glosse vom 26. Oktober 2009 (Vorsicht: Viele Bilder und "moderne" Musik)


Die Badewannen-Glosse
vom 26. Oktober 2009



Sie hören:
Ben Johnston (*1926):
Quintet for Groups (1965/1966)
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg; unter Sylvain Cambreling.






Szenenbild aus:
Manos Tsangaris` "Batsheba. Eat The History!"
Eine Musiktheaterinstallation/ Stationen für Schauspieler, Sänger, Chor und Orchester-Mäander" (fünf Teile)
Uraufführung; Kompositionsauftrag des SWR; in Kooperation mit der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Gefördert durch die Kunststiftung NRW.

Auszug aus der Partitur


Weiteres Szenenbild




Was ich gerne mag:

Glossen, Marginalien, Rand- und Anmerkungen haben oft einen konkreten, manchmal einen ganz spontanen Anlaß. Was geht nun dieser Glosse voraus: Der alljährliche Besuch der Musiktage in Donaueschingen. Es handelt sich um jene Veranstaltung für die sogenannte "Moderne Musik", die 1921 in Donaueschingen begann und auch heute noch in der Welt als bedeutendster Treffpunkt, neudeutsch: als „das“ Festival oder noch moderner und schlimmer: als „das“ Event, für die "Moderne Musik" gilt.



Am dritten Wochenende im Oktober, also von Freitag bis Samstag, finden dort etliche Konzerte, Installationen und Veranstaltungen statt – in der Regel nur Uraufführungen – , die erstaunlicherweise von relativ vielen Menschen besucht werden. Relativ heißt hier: im Rahmen der dort möglichen Besucherzahlen. (Gut ... mit der Wiesn, also mit dem Oktoberfest können die Musiktage bezüglich der Besucherzahlen nicht konkurrieren!)
Aber allein die Überlegung, wer und warum er diese Musiktage besucht, wäre schon mal eine weitere Betrachtung und Glosse wert.




Oder lieben Sie mehr die Wiedergabe in Schwarzweiß?




Aber es gibt viel prinzipiellere Fragen. Welche Rolle spielt die Musik in der Entwicklung der Menschen? Wo liegt der – vielleicht auch evolutionsbiologische, sicher aber kulturelle – Ursprung der Musik? Wann, wo und aus welchem Grund fingen die frühen Hominiden an zu singen, zu spielen und vermutlich auch zu tanzen?
Wenn wir von der abendländischen Musik sprechen – um uns nur auf das europäische Umfeld zu konzentrieren – was meinen wir eigentlich damit? Etwa den gregorianischen Gesang, für den ja immerhin – im Gegensatz zur Musik der früheren Kulturen in der orientalischen, griechischen und römischen Antike – Formen der Notationen und somit eine Überlieferung existiert? Oder jene Musik eines Volkes, gesungen und/oder gespielt bei allen möglichen Anlässen? Oder eben die Fülle der „Kunstmusik“, die sich von der geistlichen Musik emanzipiert hatte und im Laufe der nächsten Jahrhunderte als höfische und adlige, später als (groß)bürgerliche Musik institutionalisiert und bis heute das Bild der „klassischen Musik“ prägt? Die aber vor allem – und dies heute immer noch, wie die großen „Inszenierungen“ in Bayreuth, Salzburg, Wien, München etc. demonstrieren! – dem gesellschaftlichen Selbstverständnis einer bestimmten sozialen Schicht dienen; diese musikalischen Veranstaltung als kulturell-künstlerischer Rahmen für die gesellschaftliche Selbstdarstellung und Inszenierung.
Und was ist mit jener populären Musik – eben der Popmusik im einem erweiterten Verständnis – , die zwar über die Medien und/oder Tonträger ungeheuer verbreitet ist, aber eben bis heute als Unterhaltungsmusik abgewertet wird? (Hier bahnt sich allerdings ein Wandel an.)

Partituren ...










Sprechen über Musik, über deren Struktur, Funktion und Bewertung, setzt an sich voraus, daß man eine von allen Diskutanten abzeptable Definition der Musik findet. Sonst verläuft ein solches Gespräche in die Irre, was zwar offenbar viele Menschen nicht stört und sie auch nicht daran hindert, ihre meistens von keinerlei Wissen getrübte und auch ungekünstelte, d.h. unreflektierte Meinung spontan und mit einer gewissen Absolutheit – frei nach: Hier stehe ich und kann nicht anders! – in aller Öffentlichkeit zu vertreten. Meistens beginnend mit dem Satz: „Ich kenne mich da nicht aus, aber ...“


Was ich nicht mag:

... besser: worüber ich mich wundere, worüber ich nachdenke ... Allein die obenstehenden Zeilen deuten bereits an, wie schwer es ist, Musik gesellschaftlich, wissenschaftlich, kulturell und auch künstlerisch zu „verorten“. Denn wer „bestimmt“ eigentlich über die Musik; wer beurteilt, kritisiert Musik: Ein Komponist? Die Musikzierenden?





In Schwarzweiß ...








Der/die einzelne Hörer/in? Das Kollektiv der Hörenden: Publikum in einem Konzert, Menge und Masse der medial Hörenden? Die Gesellschaft, eine „bestimmte“ Gesellschaftsschicht? Die Kritiker in den Feuilletons? Musikwissenschaftler? Überhaupt die Unterscheidung zwischen „klassischer“ Musik und Unterhaltungsmusik? (Wer hat diese Differenzierung wann zu welchem Zweck erfunden? In allen Kul-turen bzw. nicht-deutschen Gesellschaften soll diese Unterscheidung nicht existieren?)
Und dann die sogenannte „Moderne Musik“ ...
In der vorletzten Woche erschien im Wissenschaftsteil der ZEIT ein Artikel, der Musikhören und Hör-gewohnheiten evolutionsbiologisch erklärte. Musik stoße dann auf (Hör)Akzeptanz, wenn sie vertraute Hörmuster aufgreife; diese wiederum hätten in der Entwicklung des Mensch eine bedeutende Funktion gehabt. Vertraute Geräusche hätten der – auch im übertragenen Sinne! – Orientierung und somit der Sicherheit des Menschen gedient. Da aber die „Moderne Musik“ auf Tonalität und Harmonik, auf vertraute Strukturen – als Grundlagen der abendländischen Kunstmusik – verzichte oder diese sogar definitiv ausschließe (wie sagte mir die Banknachbarin im Orchesterkonzert am Sonntag [eine Musikwissenschaftlerin aus Erlangen]: „Überwindung der langweiligen Dur- und Moll-Tonalität“), nun eben alles andere als vertraute Hörmuster produziere – wird eben der Mensch mit dieser Musik nicht „warm“; sie berühre ihn nicht ...

Klanginstallation 1 (auf der „Baustelle“ ... eine Donauhalle wird umgebaut)





Klanginstallation 2 (im Museum Biedermann [das alte jetzt umgebaute Schloßkino])





Das impliziert natürlich die Frage, ob der/die einzelne/n Hörer/in eben „der“ oder der alleinige Maßstab für die Beurteilung von Musik ist. Daß jemand so – mehr oder weniger aus dem Bauch heraus – entscheidet, was gut sein soll oder was eben nicht als gut empfunden wird. (Meistens fehlt es dazu noch an der elementaren Fähigkeit, zwischen sich und der Musik als solches zu unterscheiden.) Denn obwohl es natürlich auch in Donaueschingen um Applaus geht (dieses Mal hörte man doch einige Male auch Buhrufe), wird wohl kein Komponist der sogenannten „Modernen Musik“ beim Komponieren ans Publikum, an deren Hörgewohnheiten und gar die Akzeptanz seiner Musik beim Publikum denken. Komponieren nach Publikumsgeschmack ... igittegitt!

Woran der Komponist gegebenenfalls denkt bzw. was er dem Publikum mitteilen und offenbaren will, kann man in der „Donaueschinger Musiktage-Bibel“, halt dem Programmbuch der Musiktage (daran erkennt man den professionellen Besucher der Musiktage!) nachlesen ... wenn man der normale Mensch und Musikkenner diese Texte versteht!



Kartenauswahl ...



Zur Veranschaulichung werden auch ab und zu Ausschnitte aus einer Partitur faksimilisiert wiedergegeben; um die Verwirrung noch zu steigern.
Man muß jene Erklärungen der Komponisten, natürlich auch die anmerkenden Ausführungen weiterer kluger Leute, lesen ... noch einmal lesen ... oft reicht ein drittes Lesen nicht aus, um das Geschriebene so ohne weiteres zu verstehen (allein die Terminologie!) ... und dann kann man versuchen, ob sich diese Musik einem zumindest über den analysierenden Verstand erschließt. Um Enttäuschungen zu vermeiden: es gibt nichts zum Mitschunkeln, zum Augenschließen und harmonischen Eins-werden mit der Musik, auch wird vermutlich nicht die Seele berührt oder das Auge gerührt – im Gegensatz etwa zu zahllosen Aufführungen der Bach’schen Matthäus-Passion habe ich in Donaueschingen noch niemals bemerkt, daß sich jemand verstohlen die Tränen aus den Augen wischte.




Aber es soll ja Menschen geben, die sich jedes Jahr die CD-Veröffentlichungen der letztjährigen Musiktage kaufen und sogar noch zuhause anhören ...
Übrigens: ein sicher sehr interessantes Erlebnis. Erst hört man ein Musikstück „live“, im Rahmen der Musiktage mit dem ganzen Szenarium, den Menschen und dem ganzen Umfeld. Und dann hört man die Musik gleichsam pur. So mir z.B. vor drei Jahren passiert. Erst das Abschlußkonzert in der Baar-Sporthalle, dann, auf der Heimfahrt im Auto, um 21 Uhr als Konzert im SWR2, also im Radio. Erst so erschloß sich mir – das war damals mein spontaner Eindruck nach dem Konzert im Autoradio – die musikalische Struktur.

CD-Auswahl







Über mich:

Nun, als letztes und auch wichtigstes Kriterium bleibt tatsächlich das Verhältnis zwischen der dargebotenen Musik – zunächst einmal gleich welcher Art – und der/dem individuellen Hörenden. Denn die akustische Materialisation der Musik – Partiturlesen reicht ja nicht aus! – bedarf ja des/der „Hörenden“. Und letztlich entscheidet nicht das Kollektiv der Hörenden, also das Publikum, sondern der einzelne – zumindest für sich! – , was und wie er hört, wie er diese Musik empfindet und beurteilt.
Und was ist für die unmittelbare und/oder verstehende, analytische Rezeption von Musik entscheidend: Verstand oder Gefühl? Oder beides, dann in welcher Reihenfolge? Kann ich mich einfach hinsetzen und die Musik spontan hören, aufnehmen und/oder oder gar „genießen“? (Wenn „ein“ Wort in Zusammenhang mit ihrer Musik bei den Komponisten wohl verpönt ist, wäre es wohl das „Genießen“!) Zumindest wird der selbst in klassischer Musik geschulte und erfahrene Mensch zunächst arg verstört sein, wenn er solchen Veranstaltungen beiwohnt und solche Musik hört. Der Mensch aber, für den Musik in erster Linie oder gar ausschließlich nur wohlklingende Geräuschkulisse und/oder Stimmungsträger ist, wird diese Musik gar nicht als „Musik“ wahrnehmen oder gar nicht wahrnehmen bzw. sich gar nicht anhören.



Nun ist es ja so, daß sich der Mensch nicht nur an alles gewöhnt (es scheint ja so ...), sondern aufgrund der Gewöhnung – das eben betont der schon erwähnte ZEIT-Artikel! – diese Musik als „Musik“ wahrnimmt und ... ja, dafür habe ich bis jetzt keine Information, keinen Beleg und keine Erfahrung – vielleicht sogar als schön empfindet. Bevor wir hier vielleicht erstaunt aufschauen, sollten wir uns von Musikethnologen sagen lassen, daß die als universell schön geltende Musiksprache unserer abendländischen Kunstmusik (eben Bach, Mozart, Beethoven etc.) nicht überall und von allen Kulturen in dieser Welt eben als „schön“ empfunden wird. (Auch ich hing dem Glauben an, daß „diese“ Musiksprache gleichsam angeboren, genetisch verankert von allen Ohren dieser Welt als schön empfunden und verstanden wird. Offenbar ein Irrtum ...) Gewohnheit scheint eben alles ...

Jetzt muß aber auch unbedingt angemerkt werden, daß auch Werke, vor allem die Spätwerke der sogenannten klassischen Komponisten von den jeweiligen Zeitgenossen nicht verstanden und/oder rezipiert und akzeptiert wurden. (Dieses Schicksal teilen die Komponisten auch mit manchen Schriftstellern und anderen Künstlern.) Wen’s interessiert ... die Rezeptionsgeschichte von Musik und Literatur ist oft vermutlich spannender als die „reine“ Musik- und Literaturgeschichte; sagt doch jene vieles über die jeweilige Gesellschaft, über deren Kunstverständnis, über das Verhältnis zwischen Kunstwerken, Künstler und Gesellschaft aus. (In diesem Zusammenhang sei auf die entsprechenden Darstellungen von Kant, Schiller, Heidegger, Josef Pieper und Romano Guardini hingewiesen.)

Aber vielleicht haben Sie jetzt noch den Mut und/oder die Geduld, sich das Musikstück noch einmal anzuhören?


Die Bertha
vom Niederrhein





Die Aufnahmen entstanden während der diesjährigen Musiktage; drei der Aufnahmen hier stammen von Wolfgang K.



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Kommentare (5)

niederrhein Ich muß lächeln ...

"Die Musik gefällt mir leider auch nicht. " ... ja, das will ja diese Musik vielleicht auch nicht so ... zumindest nicht im landläufigen Sinne. Aber ob das ungeübte bzw. ungewohnte Ohr die Große Fuge für Streichquartett (Beethoven) einfach spontan als "schön" empfindet? - Ich habe Respekt vor Dir, daß Du Dir das Stück angehört hast, wobei es mir ja hier viel mehr auf den Text der Glosse ankam und ankommt. Und mit den Bildern wollte ich einige visuelle Eindrücke auf den Musiktagen wiedergeben. Obwohl ich mich mit dieser Modernen Musik seit rund vierzig Jahren beschäftige - meine große Liebe gehört vor allem der Musik aus dem Mittelalter und der Renaissance. Und Bach begleitet mich mein ganzes (nicht nur musikalisches) Leben.

B.
minu Die Musik gefällt mir leider auch nicht.
Musik kann unsere Stimmung sehr beeinflussen.
Diese Musik tut meiner Seele nicht gut.
Ich war mal in einem Konzert mit verschiedenen Stielrichtungen.
Ich achtete genau auf meine Gefühle. Bei einem Stück wurde ich total agressiv.
Bei einem andern wurde ich ganz ruhig, oder mir kamen die Tränen.
Ich höre mir nur leise,ruhige , harmonische Musik an.
Kann es nicht auch sein, dass die Jugend so agressiv ist, weil sie
agressive Musik hört.
Das sind nur meine Gedanken zur Musik. Jeder sieht es anderst.
Ich freue mich, dass Du wieder aktiv bist.
Grüessli Emy
niederrhein P.S.
Diese Musik hier war ja nur eine Dreingabe ... zum Glossentext und zu den Bildern.

B.
niederrhein Suum cuique ...

sagten die Lateiner. Aber immerhin ... Du hast Dir die Zeit genommen, dieses Stück zweimal anzuhören. Vermutlicht sucht man nach bekannten, vertrauten Strukturen ... aber auch die späten Streichquartette Beethoven und manches weitere Spätwerk anderer Komponisten sind nicht leicht zu verstehen. D.h. auch diese verlangen nach einer Vertiefung. Ich habe mich vor rund vierzig Jahren mit der "Musica Viva" das erste Mal auseinandergesetzt. Ich werde mal nach weiteren Stücken für Dich suchen ...

B.
Medea und ich hatte die Geduld
mir diese Musik auch ein zweites Mal anzuhören -
aber nun kein drittes Mal mehr, dann müßte ich
mich glatt erschießen.
D a s liebe Bertha vom Niederrhein, kannst du
nun wirklich nicht wollen .....
- gg -

Ich bleibe eben der wie gehabte Musikbanause - Musik ist für mich
zum Wohlfühlen da, zum Entspannen, zum Träumen, zur Erholung,
diese so künstlichen Klänge verursachen mir Unbehagen.
Tut mir leid, aber so ist es halt - und dazu stehe ich.


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