Es war einmal ein stolzer Schmetterling. Wenn er mit ausgebreiteten Flügeln beschwingt durch die warme Frühlingsluft der Sonne entgegentanzte, dann wurde er sehr bewundert. Er suchte sich für seinen Nektar die schönsten Blumen aus, und die Blumen waren stolz, wenn er sie mit seinem Besuch beehrte.
Wenn er sich auf der bunten Blumnewiese mit anderen Schmetterlingen traf, und sie sich in den Lüften wiegten zum Tanz, dann erkannte man ihn sofort in seinem Stolz und seiner Schönheit.
Aber irgendwann fragte sich der Schmetterling, ob es wirklich alles wäre, was er vom Leben wollte: glänzen und ziellos durch die Gegend fliegen - seine Schönheit hatte ihm die Natur gegeben. Er wollte nicht immer nur flatterhaft durch die Lüfte taumeln auf seinen Besuchen von Blume zu Blume.
Der Schmetterling verließ den tanzenden reigen seiner Gefährten in der Luft. Setzte sich am Wiesenrand auf den Ast eines Baumes, dessen Rinde schon Risse zeigte, vom Wetter gegerbt. Hier war Ruhe, da konnte er in sich gehen. Er spürte die Wärme des Astes und seufzte tief.

"Warum seufzt du so?" ertönte es neben ihm nach einer Weile aus der Rinde des Baumstammes. Der Schmetterling wandte sich der Stimme zu. Er mußte lange schauen, bis ihm bewußt wurde, dass die Stimme einem Borkenkäfer gehörte, der ihn mit seinen kleinen Knopfaugen anblinzelte. Ein Borkenkäfer verfügt nicht über die Schönheit eines Schmetterlngs. Und der Schmetterling hatte noch nie mit enem Borkenkäfer zu tun gehabt. Warum den auch? Aber es tat ihm gut, dass sich der unscheinbare kleine Kerl Gedanken machte, wie es ihm ging.
Freimütig erzählte er ihm alles. Alles was ihn bedrückte. Zwar wüßte er, dass es für die Blumen eine Ehre ist, wenn er gerade sie auswählt für seinen Besuch. Dass er der Schönste ist im Schmetterlingsreigen. Aber dass ihm trotz allem etwas fehlt: etwas, das über die Flatterhaftigkeit hinausging, mehr Tiefgang hatte.

"Das kannst du bei mir haben" sagte der Borkenkäfer. "Ich bin zwar keine Schönheit wie du, aber ein Meister des Tiefgangs. Wieso grabe ich mich durch die Rinde? Ich weiß, zwar bin ich ein Schmarotzer und ein unscheinbares, häßliches Ding, aber ich weiß auch viel über die Geschichte des Baumes, über die Entstehung, seiner Ringe. Der Baum ist für mich wie ein aufgeschlagenes Buch, erzählt viel von sich, während ich mich durch ihn durchfresse. Weshalb sollte ich allein durch die Lüfte segeln wie du - wenn ich hier bei meinem Tiefgang ein so interessantes Buch vorfinde?!"

Die Sonne hatte sich inzwischen bereits verabschiedet und die Dämmerung zog ins Land. der Schmetterling und der Borkenkäfer merkten es nicht. Sie redeten immer noch miteinander, so verschieden sie auch waren in ihrer Art
Es wurde ihnen zur Gewohnheit, dass sie sich nun täglich trafen, immer zu einer bestimmten Zeit. Die Stunden voller tiefgründiger Gespräche wollten sie nicht mehr missen. Ansonsten lebten sie jeder in seiner Welt: Der Schmetterling flog von Blume zu Blume, wiegte sich in den Lüften, und der Borkenkäfer fraß sich derweil durch die Rinde des Baumes in die Tiefe.

Als der Herbst sich ankündigte, setzte sich der Schmetterling auf den Ast des Baumes, in dem sein Freund, der Borkenkäfer, wohnte. Dort fühlte er sich geborgen. Der Schutz und die Kraft des Baumes würde ihm über die kalten Tage helfen. Ganz bestimmt. Er konnte ruhig in die Zukunft blicken.

Celida / I.Gr.

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Kommentare (1)

guana Eine wunderschoene und tiefgruendige Geschichte finde ich.
Es ist fuer mich immer wieder interessant zu sehen wie viele tolle
Erzaehlungen und Gedichte hier zu finden sind.
vielen Dank.
Guntram

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