Fridolin Pfifferling
Nein, ich möchte Dir nun kein Märchen erzählen, sondern ein wahres Erlebnis, das zwar schon Jahre zurückliegt, doch jedes Jahr im Frühling, wenn die Gartenvögel mit dem Tirilieren beginnen, von Neuem in mein Gedächtnis zurückgerufen wird:
Es war ein Frühlingstag und ich hatte beruflich bedingt einen Termin beim Landratsamt des -kreises. Als ich anschließend zu meinem Auto zurückkam, welches im Untergeschoss des Parkhauses stand, sah ich im Dunkeln unter meinem Fahrzeug einen Schatten. Glücklicherweise erkannte ich, dass es sich um ein kleines, aufgeplustertes Federknäuel handelte. Gar nicht vorstellen möchte ich mir noch heute, was geschehen wäre, wenn ich einfach eingestiegen und Gas gegeben hätte.
Auf den Knien, was damals noch problemlos möglich war, griff ich nach dem Dingens und hatte das zitternde Körperchen eines kleinen Vögelchens in der Hand.
Du meine Güte, wie kam der Winzling denn hierher? Kein Baum in der Nähe und nirgendwo eine Vogelmutter zu sehen oder zu hören.
Die kleinen Krallen klammerten sich sofort um meine Finger und unter beruhigendem Zureden bettete ich das Kerlchen kurzerhand in meinen Korb und deckte es behutsam mit meinem Kopftuch zu.
Mein Herz schlug bis zum Hals ... Du musst nicht lächeln, Du kennst mich doch, ich fühlte mich sofort für das kleine Leben verantwortlich.
Noch konnte ich nicht nach Hause fahren, denn ein weiterer Besuch stand noch an. Dort bat ich um ein wenig Wasser für meinen Schützling, hatte jedoch trotzdem große Sorge, ob dieser die Heimfahrt überstehen würde.
Bei jeder Gelegenheit benetzte ich einen Finger mit dem so wichtigen Nass aus dem erhaltenen Becher und versuchte, es in das kleine Schnäbelchen zu träufeln. Immer wieder gelang dies und das Vögelchen schluckte tatsächlich.
Endlich zuhause angekommen packte ich das Federbällchen in ein eilig vorbereitetes, weich gepolstertes Nestchen und dieses dann in einen Vogelkäfig.
Ich hatte jede Art von "Tierbehältnissen" im Keller griffbereit - da es in unserem großen Garten immer wieder Situationen gab, in denen ein Eingreifen nötig war.
Unsere schnurrenden Vierbeiner brachten ja leider ab und zu "Beute" nach Hause, die in Sicherheit gebracht werden mußte.
Auch die vielen und recht großen Fenster rund ums Haus wurden trotz Warnbildern oftmals zu Hindernissen, die einen kurzfristigen Bewußtseinsverlust der armen Vögel bei einer Konfrontation nach sich zogen.
Ich kannte diesen grausamen Ton des Aufprallens schon und rannte jedes Mal voll Sorge suchend rund ums Haus. Oft, jedoch leider nicht immer, trug dann der abgedunkelte kleine Käfig in einem stillen Raum dazu bei, dass ein anfangs bewußtloser Vogel nach kurzer Zeit wieder in die Freiheit entlassen werden konnte.
Wo war ich mit meiner Erzählung stehen geblieben? Ach ja, nun hatte ich also den kleinen Piepmatz in meiner Obhut. Aufzuchtfutter für Vögel war stets vorhanden und außerdem hatte ich immer einen direkten Draht zu meiner lieben Freundin, die absolute Expertin rund um diese Dinge. Dort holte ich mir Rat, wenn ich dann nicht weiter wußte.
Der kleine Vogel, von dem wir anfangs dachten, dass daraus eine Amsel entstehen würde, entpuppte sich als Singdrossel. Sie hatte inzwischen auch einen Namen bekommen.
"Fridolin Pfifferling" ... machte seinem (oder ihrem ?) Namen alle Ehre.
Als die Temperaturen draußen sommerlich wurden, kam der große Käfig, in den Fridolin inzwischen umgezogen war, tagsüber direkt vor dem Küchenfenster an die Pergola. Jetzt war er schon so zutraulich, dass er einen Pfiff, d.h. eine kleine Melodienfolge von mir, in den gleichen Tönen zurücksandte. Auch hatte er begriffen, dass meine Hand ihm nichts Böses zufügen wollte, wenn sie nach ihm griff.
Am Abend kamen Käfig und Vogel wieder ins sichere und warme Haus. Noch war er nicht frei, aber ich wußte, dass es irgendwann an der Zeit war, den Vogel in die Freiheit zu entlassen, "auszuwildern" wie man so sagt.
Ich weiß noch ganz genau, mit welchem Gefühl ich eines Tages das Türchen des Käfigs, der wie immer an der Pergola hing, öffnete und Fridolin auf meinem Finger sitzend an die Öffnung heranholte. Er marschierte über die Hand und den Arm ins Freie, blieb dort sitzen und zupfte mit dem Schnabel am Käfiggitter. Er musste regelrecht geschubst werden, um auf das Dach des Vogelhauses zu klettern.
Anfangs blieb ich immer in seiner Nähe, hielt durch ständiges leises "Zwitschern" (doch ja, das lernt man schnell ) engen Kontakt zu ihm - und ich war für ihn, ebenso wie er für mich, stets "greifbar".
Irgendwann begann er, auf die nahestehende Birke zu fliegen und dort auf meinen Zuruf zu warten. Ich hatte mir ein Schnipsen mit den Fingern angewöhnt, das ihn zusammen mit einem Pfiff zum Anflug animierte.
Wenn ich nun zum Auto ging, flog Fridolin auf den Strauch am Gartentor und bei meiner Rückkehr kam er auf Pfiff und Schnipsen wieder dorthin geflogen, um mich auf dem Finger oder auf der Schulter sitzend den Gartenweg entlang zum Haus zu begleiten.
Die Nächte verbrachte er noch immer im Haus. Ich konnte ihn abends mit der offenen Hand greifen und in seinen Käfig befördern.
Von mir aus hätte es immer so weitergehen können, doch als es dann Sommer war und Fridolin ein ausgewachsener und wunderschöner, kräftiger Vogel geworden war, wußte ich, dass die Zeit des Abschiednehmens bevorstand. Im Geiste stellte ich mir vor, dass Familie Drossel mit Kinderchen eines schönen Tages die Birke in Besitz nähme.
Vor dem Ende der Geschichte noch eine kleine Episode:
Natürlich hatte ich hier und dort mal von meinem kleinen Freund erzählt und meist ein schmunzelndes "Naja" geerntet. Wer glaubt schon, dass ein Wildvogel so engen Kontakt zum Menschen haben könnte. Da nützte es auch wenig, dass mein Mann jedesmal bestätigend mit dem Kopf nickte.
So war es auch, als ich bei einem Besuch beim langjährigen Steuerberater diese Vogelfreundschaft erwähnte. Der Mann lächelte still vor sich hin. Doch da war ich echt beleidigt: "Sie können es ruhig glauben und wissen sie was? Wir laden sie zur nächsten Besprechung einfach zu uns nach Hause ein, dann können sie Fridolin erleben!"
Gesagt ... getan ... natürlich hatte ich Sorge, dass der Vogel durch die Besucher irritiert wäre und sich ängstlich verstecken würde, aber es hatte funktioniert. Ich bat damals darum, dass alle an der Haustüre stehenbleiben möchten und trat alleine ein paar Schritte vor, pfiff und schnipste ... und Fridolin kam aus dem Garten herbeigeflogen, setzte sich auf den untersten Ast der Birke und wartete, bis ich ihn mit der Hand ergriff und an meinen Hals drückte.
Kannst Du Dir vorstellen, wie stolz ich war?
Im Sommer hatte ich den Käfig abends nicht mehr mit ins Haus genommen, sondern ihn nachts abgedeckt und mit geschlossener Türe an der Pergola hängenlassen. Mein erster Weg am frühen Morgen war der Gang ans Küchenfenster und das verliebte Flöten mit Fridolin, ehe ich nach draußen ging, um ihn zu füttern und ihm die Türe in die Freiheit zu öffnen.
Es ging nun auf den Herbst zu, die Käfigtüre war tagsüber lange schon nicht mehr geschlossen worden und wir überlegten, ob sich Fridolin am Abend wohl auch ohne mein Dazutun in sein offenes "Gefängnis" begeben würde, oder ob er sich vielleicht den anderen Vögeln anschließen würde, die tagtäglich am Himmel kreisten.
"Heute Abend werde ich ihn nicht zurückrufen, mag er selbst entscheiden, was für ihn das Richtige ist", sagte ich zu meinem Mann, als ich eines Morgens die Käfigtüre öffnete.
Tagsüber war Fridolin noch aufmerksam ans Haus zurückgekehrt, sodaß ich diese Nacht eigentlich ruhig verbrachte, am anderen Morgen jedoch ... war der Käfig leer.
Wir haben Fridolin nie mehr gesehen und alle meine Versuche, ihn durch Fingerschnipsen und Pfeifen anzulocken, blieben erfolglos.
Bis heute weiß ich nicht, was damals geschehen war und ich gestehe, dass ich arg um das Tierchen getrauert habe.
Und da nützte es gar nichts, dass mir immer wieder gesagt wurde: "Du hasch doch noch sooo viele andere Tierle rund ums Haus!"
Das war also die Geschichte von Fridolin Pfifferling und jeden Sommer, wenn ich eine Drossel singen hörte, versuchte ich es mit kleinen Pfiffen und Fingerschnipsen ... jedoch leider umsonst.
Kommentare (7)
Liebe Debi,
Eine sehr schöne Geschichte, die Du uns erzählt hast, hab vielen Dank. Wahrscheinlich ist er einer hübschen und schön singenden Dame begegnet, mit der er seinen neuen Weg gehen wollte.
Aber sei froh, dass der Fridolin Pfifferling dank Dir überlebt hat und wieder "frei wie ein Vogel" sein durfte.
Liebe Grüsse von
Jutta
@Jutta
Es war ja der Sinn der Sache, als ich das kleine Federbällchen unterm Auto "rettete", liebe Jutta.
Das Vögelchen sollte ja irgendwann hoch in die Lüfte steigen und sich seinen Artgenossen anschließen. Aber es wäre auch wunderschön gewesen, wenn er eines Tages mit Familie nochmals zurückgekommen wäre.
Vielleicht kreiste er ja ab und zu noch hoch über uns und wir erkannten ihn nur nicht mehr.
Herzlichen Dank und liebe Grüße
debi
Liebe Debi, ich glaube, er war einem schönen Drossel-Mädchen begegnet, und - da war sein kleines Herzchen in Beben geraten. Und weil er ihr auch treu zu bleiben geschworen hat, konnte er Dich nicht mal erwähnen. :) Und ernst, ich habe sehr viele schöne Bücher über Tiere gelesen, bin auch selber sehr tierlieb; ich behaupte ganz ernst, das konnte nur sein Weibchen gewesen sein. :)
Mit herzlichen Grüßen
Christine
@Christine62laechel
Vielen Dank, liebe Christine, ich hoffe natürlich auch, dass er über einem schönen Drossel-Mädchen total vergessen hat, dass eine Menschin schweren Herzens noch lange den leeren Vogelkäfig mit offener Türe vor ihrem Küchenfenster hängen ließ, in der Hoffnung auf seine Wiederkehr .
Herzliche Grüße auch an dich,
debi
@Agathe
Es freut mich sehr, liebe Agathe, dass dir das Erlebnis mit Fridolin gefallen hat und ich danke dir für die Nachricht.
Liebe Grüße
debi
Ein liebes Dankeschön für die spendierten 💖le an
nnamttor44 , WurzelFluegel , Agathe , Christine62laechel , margit , iverson , Jutta , Monalie , Manfred36 und Sabine Stein
Ich grüße ganz herzlich zurück,
debi