Frau Äbtissin macht Pause
Schon seit einigen Wochen bemerkten im Jahre 1165 die Klosterfrauen von Rupertsberg bei Rüdesheim, dass ihre verehrte und geliebte Äbtissin
Hildegard es vorzog, zu sitzen, statt zu stehen, zu ruhen, statt zu
gehen oder auszureiten. Sogar das eine oder andere Stundengebet in der Klosterkirche musste ohne sie abgehalten werden.
Heute nun schickte sie nach der weisen und heilkundigen Mitschwester,
die den Klostergarten betreute. Hildegard bat die kräuterkundige Ordensfrau, ihr von der inzwischen fünf Jahre alten Aloe vera-Pflanze ein paar von den fleischigen Blättern abzuschneiden. Sie wollte den Pflanzensaft aus dem geleeartigen Inneren auspressen und als feuchten Umschlag auf ihre brennend heißen und juckenden Fußknöchel auflegen. Als die Klosterfrau die Füße und Beine ihrer Äbtissin mit der rot angelaufenen Haut und den blauen Flecken sah, erschrak sie, denn das war nicht mit Aloe alleine zu beheben. Der heilkräftige Aloesaft würde zwar die entzündete und rissige Haut sehr bald normalisieren und den Juckreiz schnell lindern, aber die Ursache für die Wasseransammlung im Gewebe - eine Herzschwäche - brauchte doch noch andere Mittel und vor allem Ruhe, viel Zeit und Geduld.
Äbtissin Hildegard war vor nicht allzu langer Zeit von einer fast
dreijährigen Predigtreise zu Pferde zurückgekommen, die sie unter
anderem nach Boppard, Andernach, Siegburg, Köln bis nach Werden geführt hatte. Bei jedem Wetter auf dem Rücken eines Pferdes - und das mit über 60 Jahren. Das ist einfach zu viel, dachte die besorgte kräuterkundige Ordensfrau.
Nun wollte sie der begnadeten Seherin und Prophetin Hildegard ins Gewissen reden.
„Ehrwürdige Mutter, verzeiht mir, wenn ich Euch bitte, Euch für ein
paar Tage oder besser Wochen aller Geschäfte und Reisen zur enthalten.
Ich weiß, dass es Euch schwer fällt, Euch Ruhe zu gönnen. Aber ich muss Euch wenigstens für ein paar Tage gequetschte Kohlblätter auflegen, die Euch die Hitze und das Wasser aus den Beinen nehmen sollen. Auch Beinwellblätter will ich aus dem alten Klostergarten auf dem
Disibodenberg holen lassen. Das wird die Wirkung des Kohls noch
verstärken.
Ihr selbst habt das Rezept des Petersilienweines und des Galganthonigs gegen Herzschwäche aufschreiben lassen in Eurer Schrift
„Physika“. Nun sollt Ihr die Naturkraft der Pflanzen selbst zu Eurer Stärkung und Heilung gebrauchen. Mit Euren 67 Jahren seid Ihr ja nun auch nicht mehr die Jüngste“, so schloss sie ihre Epistel.
Mit einem amüsierten Lächeln gibt Hildegard von Bingen Anweisung, dass man ihr in der Küche täglich für ein bis zwei Wochen die von ihr als heilkräftig gepriesene Kohlsuppe kochen solle. Vor dem Essen solle man ihr ein Löffelchen Galganthonig (Mel Galangae) reichen. Nach dem Essen wollte sie sich ein kleines Weinglas voll Petersilienwein gönnen.
Nicht zuletzt wollte sie gottergeben ihre Beine so oft wie möglich hochlegen. Sie versprach der Kräuterschwester, daneben ab und zu auch ein wenig herumzulaufen, aber nichts zu übertreiben.
Vier- bis fünf Mal täglich solle man ihr Kohl- und Aloe-Umschläge machen, ihr für die Nacht die Beine mit Beinwelltinktur einreiben, das man mit etwas gutem „Baum-Öl“ (Olivenöl) vermischt hat.
Beruhigt entfernte sich Schwester Angelina und die Äbtissin legte sich
erschöpft ein wenig nieder. „Nun ja“, murmelte sie dabei“, dann habe ich
ja endlich wieder viel Zeit zu Gebet und Kontemplation“. Während der
Reise und in den Tagen danach war dies ja nicht immer der Fall gewesen.
Im Halbschlaf dachte sie noch, dass es doch oft so ist, dass der
Allmächtige uns eine Krankheit zur rechten Zeit schickt - und das
richtige Heilkräutlein noch dazu. „Aber die Geduld, die muss er mir nun
auch noch schicken“, sagte sie beim Aufwachen laut vor sich hin, „denn
die fehlt mir am meisten.“
Nach einigen Tagen der Ruhe und des Gebetes stellte die Äbtissin fest, dass ihre Beine sich gebessert und ihr Geist sich erfrischt hatte. Mit Freude nahm sie die Ruhepause an als Zeit der Erholung zwischen ihren vielen körperlichen und geistigen Aktivitäten. Endlich konnte sie wieder einmal in Ruhe Briefe diktieren, auf ihre innere Stimme hören und sich dem geistigen Übungen widmen. Auch für die Mitschwestern im Kloster hatte sie nun Zeit und Kraft zum Hinhören, Zuhören und zur Planung von Neuerungen innerhalb Klosteranlage.
So hat alles sein Gutes, dachte Hildegard, und ergab sich wie schon oft in ihrem langen Leben voll Demut in den Willen Gottes, der sie immer wieder zur rechten Zeit durch Krankheiten zu körperlicher Untätigkeit veranlasste. Ihr Geist und ihre Seele blieben auch in diesen Tagen immer auf Empfang für die göttlichen Eingebungen, die sie aufschrieb und der Nachwelt zum Segen hinterließ.
Einige Wochen später ließ sich die unermüdliche Äbtissin Hildegard
schon wieder täglich über den Rhein zum gerade gegründeten
Kloster Eibingen rudern, dessen Leitung ihr neben dem Kloster
Rupertsberg ebenfalls anvertraut war. In Gedanken schmiedete sie schon wieder Pläne für eine vierte Predigtreise, die sie mit Gottes Hilfe und bei hoffentlich guter Gesundheit zu den Klöstern Maulbronn, Hirsau und Zwiefalten führen sollte. Diesen Plan verriet sie der besorgten
Kräuterfrau des Klosters wohlweislich nicht, denn diese würde ihr als Vorbereitung auf die Strapazen der Reise vorsorglich ganz sicher täglich Brennnessel- und Schachtelhalmtee mit Galganthonig und viele Dinkel- oder Kohlsuppen servieren - und davon hatte Hildegard vorläufig genug.
Ella©
Foto: E.Z., Tulpen (zusammen mit Beinwell)
Kommentare (3)
....was heißt hier "nicht für Nostalgiker"? Hildegard von Bingen ist doch gerade f ü r Nostalgiker? Oder nicht?
Klosterfrau Melissengeist enthält einiges, was Hv.B auch empfohlen hat oder auch heute noch empfehlen würde. Vor allem natürlich Melissenkraut ( gut als Tee aber auch in Alkohol gelöst). Warum nicht, wenn es zu einem guten Schlaf verhilft?
Ich glaube, dass es Dir gut tun würde, die beiden Hildegard-Bücher aus dem Regal zu holen und sie zu lesen oder wenigstens darin zu schmökern. Besser als die aktuellen Nahrichten im TV anzuschauen (wie ich gerade). Hildegard verhilft zu positivem Denken und zu Tatkraft - jedenfalls scheint es mir so.
Herzliche Grüße von
Ella,
mit Dank für den Kommentar
Man merkt der Autorin an, dass sie selbst eine Anhängerin der veganen, heilkundigen Zunft ist und die Dinge mit sanftem Ganzheitsdenken anpackt.
Schön geschildert, wenn auch nicht für Nostalgiker. Vor mir im Regal stehen 2 Bücher der Hildegard; ich habe nie hineingeschaut. Das einzige Produkt dieser Art, das ich verwende, ist Klosterfrau Melissengeist; der geht aber leider nicht auf Híldegards Konto.
Gruß
Manfred
Im Moment entdecke ich Deinen Bericht, Ella.
Weil ich mal wieder bei den "Geschichten" reinschaue.
Vielen Dank, ich werde ihn heute ganz intensiv lesen. Ich freu mich drauf.
lieben Dank und Gruß
Clematis