Erinnerungen

Nun war es soweit!

Ich wußte mein ganzes Leben lang, daß es sie gab und ich hielt sie auch oft schon in den Händen:

Die Feldpost meines vor 41 Jahren verstorbenen Vaters an meine Mutter!

Meine Mutter hob sie auf und einige Jahre vor ihrem Tod (sie starb vor ca. 10 Jahren, fast 99jährig) drückte sie mir die wertvolle Post in die Hände mit den Worten: "Ich kann sie nicht mehr lesen!" Ihre Augen gaben es nicht mehr her und ich denke, sie kannte sie auch auswendig.

Ich hütete sie, nahm sie ab und an in die Hand und legte sie wieder weg. Ich konnte die Schrift nicht lesen, denn sie waren in Sütterlin geschrieben. Vielleicht WOLLTE ich sie auch nicht lesen können (???), denn es ist ja ein schwieriges Kapitel.

Mein Vater wurde 37jährig als einer der letzten seines Dorfes relativ spät noch eingezogen. Der letzte Brief vor der Gefangenschaft ist mit dem 15.2.45 datiert. Dann bekam meine Mutter über ein Jahr lang keine Post mehr von ihm. Sie hatte fast schon aufgegeben, daran zu glauben, daß er noch am Leben ist. Schrecklich! Und sie ahnte nicht, daß er 5 lange Jahre ausharren mußte hinter Sacheldraht mit immerwährendem Hunger, fern der geliebten Heimat, fern seiner Lieben...

Dann kam am 12.4.46 eine Karte, die er nicht selbst schrieb (es war eine völlig andere Handschrift) mit dem Text: "Befinde mich in Gefangenschaft der UDSSR. Bitte benachrichtige alle Angehörige." Ein kurzer, lapidarer Text. Das war´s!

Vor einigen Jahren traf ich mich mit drei meiner Cousinen väterlicherseits und wir kamen auf die Feldpost zu sprechen. Ich wollte sie nun gerne mal übersetzt bekommen, um sie lesen zu können. Vielleicht auch als Erinnerung für meinen Sohn, der seinen Opa kaum kennengelernt hatte, weil er erst vier Jahre alt war, als mein Vater starb. 

Einer der Cousinen konnte die Schrift noch lesen.

Der Tag kam... wir wollten zuerst einmal nett frühstücken, bevor wir uns an die Post begaben. So 14 Tage vorher kramte ich die Briefe schon mal heraus und versuchte, sie zu entziffern. Sie waren teilweise aus Ermangelung an Tinte mit Rote-Bete-Saft geschrieben (ich weiß es aus Erzählungen zu Lebzeiten meines Vaters) und dann auf so löschblattartigem Papier, welches die Buchstaben verschwimmen ließ. Außerdem hatte mein Vater extrem klein geschrieben, um möglichst viel auf so eine kleine Karte zu bekommen. Die Briefe, die ca. 1mal im Monat erlaubt waren, konnte man besser entziffern. Aber ich las mich ein. In der Schule hatten wir die Schrift kurz mal angerissen, ein wenig war mir noch in Erinnerung. Mit der Zeit konnte ich sie immer besser lesen und ich tippte sie in meinen PC.

Auf einigen Karten/Briefe fand ich Punkte unter einem bestimmten Buchstaben, einmal erlas ich daraus das Wort "Memel". Ich wußte, daß er unter anderem dort war. So konnte meine Mutter manchmal erlesen, wo er sich befand. Später erzählte es mein Vater oft und ich erinnerte mich daran. Ich weiß, daß er auf der Krim war, an der Wolga, am Dnepr, in Leningrad und er sprach auch von Stalingrad... 

Auf dem Umschlag stand nur immer: "Kriegsgefgangener Bernhard. B., UDSSR, Lager 7860 u.a.

Die Briefe sprechen von Hoffnungslosigkeit und wieder von Hoffnung. Ab und zu ging ein Transport in die Heimat, doch immer wieder ohne ihn. Zitat aus einem Brief: "Ich habe meist die Hoffnung verloren..." Dann wieder: "Wenn ich noch mal heim komme, würde ich am liebsten im tiefen Walde mit dir wohnen. Ich kann mir gar kein Bild mehr machen von der lieben Heimat. Ich bin ein stiller Mann geworden!" Oder: "21mal habe ich nun schon den Arbeitsplatz gewechselt und immer gab es genug Wasser und Brot!" 

Ich kann heute nicht mehr sagen, wie oft ich fast zusammenbrach und laut weinend über der Tastatur lag. Es war so emotional. Mein Vater (und auch meine Mutter) taten mir im Nachhinein so leid. Und ich hatte meinen Vater gar nicht richtig gekannt. Das wurde mir mehr und mehr klar. Und auch darüber weinte ich. Der Wortlaut seiner Karten war immer gleich, fast wörtlich. Sie durften auch nicht alles schreiben und einige Passagen sind ausgestrichen von der Zensur. 

Als Kind hörte man hin, aber man vergaß es auch schnell wieder. Als Jugendliche dachte man: "Nicht schon wieder diese alten Geschichten...". Als junge Frau hatte ich eigene Sorgen in meiner unglücklichen Ehe und ich war ja auch "aus dem Haus". Als ich 24 Jahre alt war, starb mein Vater. 

Nun überkam mich beim Lesen der Briefe Mitgefühl, Mitleid, Entsetzen und was nicht noch alles. Auch Sehnsucht. Sehnsucht nach meinem "unbekannten Vater"! Meine Augen brannten vom Weinen und vom mühseligen lesen der Feldpost. Ich hatte auf einmal noch soviel Fragen... Was hat er gefühlt währenddessen? Er und seine Kameraden, als sie in Vieh-Waggons gen Osten transportiert wurden? Und in sibirischer Kälte mußten sie Eisenbahnschwellen verlegen. Er habe oft gedacht beim Anblick eines toten Kameraden, der auf einer Trage aus der Holzbaracke getragen wurde: "Wann sie mich wohl hinaustragen...?" Daß er überlebt hat, ist wohl dem Umstand zu verdanken, daß er einen Job in der Küche bekam, wo er noch mal hin und wieder ein paar Kartoffelschalen abzwacken konnte. Ich würde sonst was dafür geben, könnte ich noch mal mit meinem Vater reden. Aber es ist zu spät. Ich kann nur Zwiesprache halten mit ihm!

Aber: Ich war und bin ihm nahe. Ich verstehe heute besser, daß er oft nicht mitkommen wollte zu lauten Feiern. Zum Leidwesen meiner Mutter, die sich in ihrer großen Familie von ihren Geschwistern anhören mußte: "Der B. (Nachname) hat es wohl nicht nötig, zu kommen...! Für meine Mutter war es oft bitter!

Mein Vater war lieber in Feld und Wald, in der Natur. Wohin er mich als kleines Kind oft mitnahm. 

Im Winter, kurz vor Weihnachen 1949, kam er zurück. Abgemagert, den Körper mit Geschwüren übersät und halbtot kam er in Bremen an, wo ihn seine Schwester vom Bahnhof abholte. Meine Mutter fuhr hin, brachte ihm nachmittags den Kaffee nach oben und war tief enttäuscht, daß er sich so gar nicht freute, sie zu sehen. Sehr, sehr oft erzählte sie dieses später. Er aber konnte nicht, er war abgestumpft und zu Tode erschöpft. Später hat meine Mutter es auch verstanden.

Mein Vater erholte sich langsam, ich wurde 1954 geboren und meine Eltern führen eine durchschnittliche Ehe. Mein Papa arbeitete bis zur Rente, aber er war doch geschädigt durch die lange Gefangenschaft, körperlich wie auch seelisch. Und er starb relativ früh mit 72 Jahren.  

Es tut mir leid für alle, die das erleben mußten und wieder ist die Welt am brodeln... 

Warum nur? Warum?





 


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Kommentare (8)

ehemaliges Mitglied

Ich kann nur immer wieder ein großes Dankbarkeitsgefühl empfinden, wenn ich Eure Geschichten aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren lese.

Mein Vater wird ganz sicher auch fürchterliche Kriegserlebnisse gehabt haben. Doch er war nicht direkt an der Front, sondern hatte als Sanitäter die übel verletzten oder zugerichteten Kameraden mit dem Lazarettarzt zu versorgen. Auch das wird schwer genug gewesen sein. Und nach Kriegsende seine todkranke Frau zuhause weiter zu betreuen, bis sie am 17. Juli 1951 zwei Tage nach dem Geburtstag meines Vaters starb.

Es macht einem fast Angst, wenn man von diesem mutwillig herbeigeführtem Krieg jetzt  in der Ukraine hört! Mein größter Wunsch ist, dass der bald vorbei ist und sich nicht auf Europa ausbreitet ...!!!

Mein Vater erkrankte durch diese Geschten an Parkison. Das ist zwar keine Krankheit, an der man stirbt, aber es schwächte ihn dennoch so sehr, dass sein Leben dadurch erlosch.

Es ist bitter, seinen Vater weinen zu sehen, weil ihm seine Hände nicht mehr gehorchten, er seine geliebte Geige oder auf dem Klavier nicht mehr spielen konnte.

Als 14-Jährige erhielt ich von meinem Cousin ein Löschblatt, auf deem auch das Alphabet in Sütterlin gedruckt stand. Eine willkommene Gelegenheit, alte Brief zu entziffern, die vollständig zu lesen mir bis dahin nicht möglich war. Das gelang dann. Jetzt verwahre ich seit 2 Jahren mehrere Briefe in Sütterlin-Schrift meines Opas aus der Zeit des 1. Weltkriegs, die zu entziffern mir recht schwer fällt. Mal sehen, ob ich ie doch noch vollständig entziffern kann ...

Auf wieder friedlichere Zeiten wünscht sich

Uschi


 

Mary-Lou99

@nnamttor44  

Dem habe ich nichts hinzuzufügen, liebe Uschi. Ich denke, wir alle wünschen uns Frieden auf Erden.

Mary

Roxanna

Deine Geschichte, Mary-Lou ist mir sehr nahegegangen, weil ich Ähnliches erlebt habe. Wie du, dachte ich als Kind und vor allem als Jugendliche, nicht schon wieder diese alten Geschichten, man wollte nichts davon wissen. Sehr viel später, als mein Vater schon verstorben war, dachte ich oft, wenn ich doch noch einmal mit ihm sprechen und ihn fragen könnte. Ich weiß viel zu wenig, habe mich aber 2007 auf die Reise gemacht und die verlorene Heimat meiner Eltern besucht. Das Heimweh konnten sie nie ablegen. Seine Aufzeichnungen und gemalten Bilder, überhaupt alles, was ich von ihm habe, hüte ich wie einen Schatz. Wenigstens das ist geblieben.

Lieben Gruß
Roxanna

Mary-Lou99

@Roxanna  Ja, es ist gut, wenigstens Dieses zu besitzen. Wenn man älter wird, sieht man die Dinge ganz anders... und man würde sonstwas dafür geben, noch mal reden zu können... 

reflex

...... danke  für  den  Blick  in die  Vergangenheit , eine  Lehre  einen Krieg zu vermeiden .

Sehr schöner  Beitrag   zum  nachdenken  - hierfür  gibt  es keine  Worte

danke 

 

Mary-Lou99

@reflex  Ich danke auch!

Samick

Eine Mitfühlende Geschichte , die mich sehr traurig machte .
Ich bin froh das ich keine ähnliche Erinnerung und Erlebnis hab.
Hab nach deinem Blog mal deine wunderschöne Homepage angesehen .

Meine Oma , väterlicherseits , hat uns ein handschriebenes Kochbuch in Sutterlin
hinterlassen .
Gruß Herbert

Mary-Lou99

@Samick  Das ist sehr schön, Herbert. Beides!!!   :-)))


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