Eine kleine Geschichte


Eine kleine Geschichte

Es war Sperrmülltag und beim Nachbarn stapelte sich auf dem Gehweg
allerlei an Mobiliar. Die Keller und Böden sind wieder einmal entrümpelt worden und da ich gerade dabei war, meine Garage kritisch in Augenschein zu nehmen, entschloß ich mich, die beiden Polsterstühle aus der Wohnungsauflösung meiner Mutter nun endlich auch zu entsorgen.

Ich glaubte, nicht richtig zu sehen, da saß doch tatsächlich inmitten dieses Sammelsuriums kaputter Möbel eine schmutzige Puppe mit klaren bewimperten blauen Augen und sah mich an. Dieser Blick traf mich unvorbereitet, aber er traf mich tief. Eine Puppe , die keinen Defekt aufwies, die lediglich im Laufe vieler Jahre nicht mehr ansehnlich war, die aber die Vertraute eines Kindes für eine lange Zeit gewesen sein musste, geliebt und betüdelt, für die gab es nun keinen Platz mehr im Erwachsenenleben, die sollte im großen Müllwagen landen – es gab wohl niemanden mehr, dem sie etwas bedeutete.

Ich nahm sie einfach mit, setzte sie in das Waschbecken mit einer warmen Waschlauge, säuberte den Mund vom Sand und wusch den verschmutzten Anzug mehrere Male, erneuerte das Wasser und der Dreck von Jahren wich langsam, aber es blieben einige Flecken, die sich nicht mehr entfernen ließen.

Und während ich sie immer wieder einschäumte, fiel mir ein kleiner Junge ein, den seine Eltern vor Jahrzehnten in einen Zug gesetzt hatten, damit er aus Nazideutschland entkomme und der viel darum gegeben hätte, so einen Schlenkerpuppenjungen bei sich zu haben, den man drücken und lieb haben konnte in diesen unmenschlichen Zeiten.

Jetzt wo ich diese Zeilen schreibe, beobachten mich die blauen Augen aufmerksam und ich erkenne deutlich ein kleines Lächeln um sein Mäulchen.

Up miene oolen Dage bin ich auf verschlungenen Pfaden wieder zu einer Puppe gekommen, der Kleine wird auf keinem Sperrmüll mehr landen,
ik bewohr di mien lütten Paul.

Medea.

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Kommentare (19)

Medea liebe Selena, daß du dich zu meiner kleinen Geschichte
so zugewandt geäußert hast.
Danke auch dir.

M.

selena Guten Morgen, liebe Medea,
manchmal
bleibt ein wenig Zeit,
zum Blättern in den Blogs -
ich genieße diese Momente sehr -
und, so fand ich - Dich - und Deine Geschichte vom kleinen Paul!
Wie gut kann ich Dich verstehen, denn : Puppen, nicht alle, aber einige, besaondere,
üben eine geheime Anziehungskraft auf uns aus, der wir uns liebevoll beugen dürfen
Manchmal, beim Stöbern über Flohmärkte,
überkommen mich auch, die von Dir beschriebenen Gedanken,
beim Anblick der "ausgedienten"! Puppen und Bären.
Ein lieber Gruß zu Dir von selena.
Medea liebe Heide:

er hat wenig Haare, Hosen an und große Ohren ....


Herzlich Medea.
heide † finde ich Deine Geschichte, liebe Medea, und hätte es für mich nicht heute schon solch einen tollen ‘Puppen-Kindertag‘ gegeben, so würde ich nur in Gedanken an Deine neue Puppe ins Bett steigen wollen, um dann wohlig und entspannt durch Kindheitsträume schwelgen zu können.

Sag Medea, woran erkennst Du eigentlich, dass es ein Bub ist.

Herzlichst Heide
Medea für Eure Zeilen.
"Wilden" Sperrmüll gab es hier auch nicht, liebe Marianne, der war
von den Nachbarn angemeldet, aber wie es so ist, stellen dann andere
Anwohner dieses und jenes zum Entsorgen dazu und so wächst der "Berg".
Die Abtreibungsmethoden ungewollt schwanger Gewordener zeugen von großer
Verzweiflung, in den frühen 60er kam endlich die "Pille" in die Apotheken.

Mein Puppenknabe, liebe Britt, ist schon voll integriert - bei nächster
Gelegenheit bekommt er noch einen "Elbsegler" auf das Köpfchen - gg - und
ich habe wieder einen "Mann" im Haus.

M.

Britt liebe Medea hast du geschrieben, eine wahre Geschichte. Da fühlt man mit dir und sieht dich, wie du das schmutzige Puppenkind wäschst und rubbelst. Jetzt ist es jeden Tag bei dir und guckt dich an - das gefällt mir gut - Britt


marianne Danke, Medea, für diese Geschichte..

Hier gibt es jetzt neuerdings gar keine Sperrmüll-Haufen mehr. Das Abholen muss angemeldet werden.....

Was mir zu "Puppen-Kindern" einfiel: Von 1956-1959 hab ich Krankenpflege gelernt.
Und nach dem Examen war ich in der Univ.-Frauenklinik in der Ambulanz, hatte jede 2.Woche Nachtdienst. Da kamen die Frauen dann mit Fehlgeburten... Ich erinnere mich an eine Frau( in Begleitung ihres Mannes), die war traurig. Das war offensichtlich....
Die vielen andern aber-, die hatten mit Kleiderbügeln und ähnlichem gearbeitet.....
(Ist so!)....damals hätte ich nicht geheiratet... -
ich lernte meinen lieben Mann erst 1961 kennen.
Medea für Deine Zeilen - Klein-Gershom hat ein neues
Gewand bekommen und guckt recht zufrieden aus
seiner Wäsche. Er sitzt auf meinem Schreibtisch
neben meiner Samtpfote - es scheint ihm bei mir
zu gefallen .....

Herzlich M.

hisun Liebe Medea, das hätte ich wohl auch getan.
„ik bewohr di mien lütten Gershom“ – ja, tue das!
Herausgeputzt und ganz zufrieden schaut er aus.

Deine Gedankenreise zu dem kleinen Jungen,
den man in den Zug gesetzt hat, damit er den Nazis
entkommen konnte, hat mich tief bewegt.

Ich nehme Dich in den Arm
Sonja


Medea geht auch an Protes, Anjeli und Flora, die mir ein wenig
ihrer Zeit schenkten für ihre Kommentierung.

M.

floravonbistram bei Finchen meine Puppengeschichte eingesetzt und schon sind wir wieder bei einer.

Ich hätte auch nicht vorbei gehen können.
Leider hatte meine Mutter, als ich aus dem Internat wieder nach Hause kam, fast alle meine "Spielsachen" verschenkt, ohne mich zu fragen. "Du bist ja jetzt fast erwachsen", hieß es.
Was sie damit wieder neu bei mir anrichtete...


Hüte Du den kleinen Burschen.
Ich freue mich.
Herzlichst
Flo
anjeli Ich bin selbst ein Puppenfan und hätte die kleine Puppe auch mitgenommen, um ihr ein
neues Zuhause zu geben.

Dein Schätzchen scheint aber noch gar nicht so alt zu sein. Vielleicht aus den
70ziger Jahren.

Neulich lagen in unserer Papiertonne jede Menge Bücher. Ich habe sie alle mitgenommen.
Meine Freundin war gerade da. Sie ist auch eine Leseratte und wir haben uns kopfschüttlend gefragt, wer diese Bücher weggeworfen hat.




Ich wünsche Dir viel Freude mit dem Püppchen.

Meine Bekannte, die mittlerweile 85Jahre alt ist, hatte mal vor etlichen Jahren erzählt,dass sie nie eine Puppe als Kind gehabt hat.
Ich habe ihr dann eine Puppe geschenkt vor 20 Jahren. Mittlerweile sitzen mehrere
Puppen immer noch auf ihrem Sofa.

anjeli

protes weiß ich auch was mit der puppe war
ich hätte sie auch mitgenommen
bei mir ist sowwieso viel zu viel was so
rumsitzt, steht und liegt.
ich freu mich dass du sie aufgenommen hast
passt zu dir
elge hade
Medea daß Ihr es für wert befandet, meine kleine Geschichte mit Euren
Gedanken und Kommentaren zu würdigen. Es tut mir gut, ich merke
es, denn dieses Puppenkind zwischen all dem Sperrmüll sitzen zu
sehen, zerschnitt mir mein Herz. Der Gedanke an die vielen menschlichen
Kinder, die von ihren Eltern/Müttern weggeworfen werden, macht mich
weinen. Und der Name Gerschom ist meine Reverenz für einen kleinen
jüdischen Jungen, der den Vernichtungslagern entkommen konnte.

Medea.

Traute GerSchom, ging ein in die Geschichte und Hanna Arendt, war ihm Vertraute.
Es sind immer die Schwachen und die Wenigen, die am meisten zu tragen haben.
Ich hatte auch keine Puppe, aus ähnlichen Gründen. Möglicherweise sehe ich auch viel zu viel Symbolik, wo nur ein alltägliches Geschehen abgelaufen ist? Aber der Grund dafür ist meine Geschichte. So dreht sich die Welt um sich selbst und wir nennen es Tag und Nacht.
Ich kann es Dir nachfühlen und die Flecken auf dem Püppchen sind die Spuren der Zeit.
Halte es in Ehren.
Mit freundlichen Grüßen,
Traute
koala Das war schoen zu lesen.
Einige Flecke duerfen bleiben.
Es sind die Altersflecke, die ihr zustehen.
LG Anita/Australien
finchen oh Du, jetzt hast Du mich aber ganz tief im Herz getroffen. Meine Puppen aus meinem ersten Leben in der DDR und dem nächsten in der BRD - meine Puppen sind auch mit mir mitgekommen und verschwunden. Ich habe sie alle wiedergefunden - nach 60 Jahren und war total empört. Meine "neue Familie" wollte meine Vergangenheit löschen und hat mir diese Puppen entzogen. Andreas, Frank und Antje - ich kenne sie noch mit Namen und ich habe sie bei meiner "Schwester" gefunden bei einer Entrümpelungsaktiom.
Jetzt wird mir auch klar, warum unsere "Mutter" immer einen Keil zwischen uns getrieben hat. Erst seit ihrem Tod stehen wir uns unheimlich nahe - aber zu Andreas und den anderen schreibe ich eine Geschichte - das läßt mir jetzt keine Ruhe.
Ich fliege Ende Juli wieder zu ihr und dann werde ich mal darüber reden, in einer "italienischen Nacht" mit Emma Shapplin in "Königin der Nacht".
Mensch Christine, irgendwie hast Du den Schlüssel dieser Ablehnung gefunden - auch wenn es nur Puppen waren, es war noch mehr Mist.
Christine, erstmal ein Bussi für Dich, mir wird aprupt einiges klar..........
Liebe Grüße
Dein dankbares Moni-Finchen
seelchen .....die alten sachen sind mir oft sehr ans herz gewachsen......
sie sind mir allein desshalb schon so symphatisch,denn wer weiss,was sie alles schon erlebt haben....
ich liebe alte sachen!!.......ob es nun möbel,oder auch puppen,oder sonstiges ist.....
meine wohnung beinhaltet vieles davon......

da hast du doch 'muttergefühle' bekommen,als du in die augen des -lütten gershom- geschaut hast... ....
mir geht es auch oft so....lache...

deine liebenswürdige,kleine geschichte hat mir viel freude bereitet....

liebe grüsse...seelchen..
ladybird Danke für Deine rührende Geschichte, Du Puppenretterin, Du hast sie also von den "Jahresringen-schmutz" befreit,und nun hast du deine Freude daran.Und die wünsche ich Dir noch ganz lange,liebe Medea,herzlichst ladybird

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