Du Eiche
Du Eiche!
Diesen kurzen Ausspruch bekam ich vor ein paar Wochen von einer lieben Freundin!
Mir ist zwar bewusst, dass ich mein Leben immer wieder konkret in meine eigenen Hände nehmen musste, genommen habe, weil außer mir selbst mir Niemand half. Doch erst heute gibt mir dieser Ausspruch zu denken, wieso die Freundin mir das – als Kompliment gedacht – sagte.
Als mittlere dreier Halbwaisen war ich zumeist auf mich selbst angewiesen, wenn Entscheidungen zu treffen waren. Natürlich wurde ich dabei auch das eine oder andere Mal überfahren. Zumeist war es meine ältere Schwester, manchmal mein Vater, die/der mich als eigenständiges Wesen nicht immer akzeptieren mochte (inzwischen haben ihre Erfahrungen aber gezeigt, dass sie mich als solches doch sehen darf! Vater verstarb vor vielen Jahren.). Als mittlere Tochter bekommt man fast automatisch nicht halb so viel Aufmerksamkeit wie die Älteste, zumal, wenn sie ganze vier Jahre ihre Position ausbauen konnte. Auch die Jüngere bekam mehr Aufmerksamkeit, weil – „ach so süß“ – dann kein/e Nachfolger/in mehr kam.
Heute wissen sie, dass auch ich – ohne ihre Hilfe – meine Kinder erziehen konnte (wobei sich zeigte, dass meine zwei sehr viel mehr Einfühlungsvermögen und Hilfe meinerseits benötigten als die Töchter der Ältesten). Und unsere Jüngste wandte sich mit allen Fragen stets – bis heute – an mich, die Mittlere. Vielleicht waren wir mit zweieinhalb Jahren Altersunterschied näher beisammen? Vielleicht war auch die Lebensart unserer Mutter der ältesten Schwester in den ersten vier Jahren näher gebracht worden als uns, ihren jüngeren Schwestern, die wir unsere Mutter fast nur krank erlebten, bis sie viel zu früh starb. Die Erziehung unserer Mutter durften wir ja nicht mehr genießen, dafür waren dann unser Vater und seine Mutter zuständig. Und da galten andere Grundsätze …
Meine Schwestern und ich haben nicht die anderen Wahrnehmungen der Legasthenie. Auch die Kinder der beiden sind nicht davon betroffen. Aber meine zwei!! Mein Sohn hat gelernt, damit umzugehen und klar zu kommen.
Meine Tochter ist dieser Art auf den Grund gegangen und hat inzwischen darüber ein Büchlein geschrieben
LEGASTHENIE DYSKALKULIE DECODIEREN
und eine Firma gegründet, in der sie und ebenfalls betroffene Freundinnen (eine Ergotherappeutin, eine Logopädin) helfende Schritte an weitere Betroffene (jeweils ihre eigenen Kinder und auch andere) geben, die aus dem sich schnell entwickelnden Dilemma, meist Kinder im Grundschulalter, doch wieder heraushelfen können!
Wer von uns Eltern diese Art Wahrnehmungen vererbt hat, haben wir noch nicht herausgefunden. Das wäre heute müßig! Einen Weg zu suchen und ihn erfolgreich zu begehen hat meine Tochter dann doch geschafft!
Meine Freundin sah durchaus, als sie vor vielen Jahren in der Firma, in der ich arbeitete und sie ebenfalls dort einstieg, dass ich meinen Weg ging. Und der wurde von den Kolleg:innen akzeptiert. Ich bin inzwischen seit über 12 Jahren Rentnerin, aber sie, die viel Jüngere, kontaktiert mich immer noch gern mal, um sich mit mir auszutauschen.
Warum sie mich so betitelte, begreife ich erst jetzt so langsam. Ich arbeitete als Sekretärin in einer HNO-Rehaklinik. Ein Jahr nach meinem Arbeitsbeginn dort wurde eine weitere Schreibkraft eingestellt, die – wie ich – in der gleichen Fortbildungsschule eine Weiterbildung gemacht hatte. Man hatte sie, allein erziehende Mutter zweier Söhne, nach mir eingestellt, weil man sich gleich gute Arbeit wie von mir versprach. Aber das war ein Trugschluß. Meine Freundin sah das durchaus, bekam aber natürlich auch mit, dass die Kollegin ihre schriftlichen Arbeiten oft wegen Fehler korrigieren musste. Die Ärzte des Hauses ließen ihre Berichte lieber von mir schreiben. Der Chefarzt unterschrieb ohne Kontroll-Lesung meine Arbeiten: „ Ich weiß doch, dass da bei Ihnen keine Fehler drin sind!“ bekam ich zu hören. Diesen Spruch bekam die andere Schreibkraft nie.
Schließlich begann die Kollegin mich zu mobben, weil sie es nicht mehr ertrug, ihrer Fehler wegen viele Arbeiten mehrfach machen zu müssen. Als eines Tages (ihretwegen) ein Herr das ganze Kollegium mit einer vorgefertigten Version der immer wieder zu erstellenden Berichte beschulte, drängte sie sich in den Vordergrund. Der Dozent nahm ihr Angebot an, ließ dann aber auch den Grund durchblicken – keine angenehme Situation für die Kollegin.
Wie zur Strafe ließ sie mich dann tagelang zappeln, als es darum ging, mit der Fortsetzung der Berichterstellung umzugehen. Der Dozent hatte ihr Schriftstücke überlassen, damit sie daran weiter arbeiten konnte, wenn sie ihm weiterhin helfen wollte, dem Kollegium seine Arbeit zu erklären. Ich bekam ihre Auskunft nicht, musste sogar im Keller stattdessen die Aktenablage neu sortieren! Doch als es dann mit dem Unterricht weiterging, bekam sie nicht die Rolle, in der sie sich beweisen wollte. Der Dozent lehrte allein weiter.
Meine Freundin sah das durchaus, stellte auch meine Zurückhaltung fest, aber auch meine stillschweigenden Fortschritte. Sie hat es offenbar nie vergessen, denn das ist über dreißig Jahre her – und jetzt läßt sie mich das wieder wissen, ebenso ihre wohl vorhandene Hochachtung!
Es ist nicht meine Art, mich prahlend, selbst beweihräuchernd in den Vordergrund zu drängen. Doch nach so vielen Jahren in einem Video-Chat von einer Freundin zu erfahren, was sie von mir damals gehalten hat und heute noch hält, schließt so manche kleine Wunde, die ich seinerzeit einstecken durfte.
Eine davon war so: Der Chef, ein psychologischer Psychotherapeut beendete seine Dienstzeit mit einer kleinen Feier, zu der er auch alte Kolleg:innen einlud.
Für mich war der Höhepunkt, als ich plötzlich meinem auf Gegenseitigkeit beruhenden sehr verehrten Arztkollegen mal wieder gegenüberstand. Wir hatten ein langes, intensives Gespräch. Doch die „Klatsche“ folgte bald: Der scheidende Chef überreichte meiner Nachfolgerin mit vielen Dankesworten einen dicken Blumenstrauß für ihre stets helfende Mitarbeit! Offenbar wusste er nicht (oder war er geblendet von ihrer Ähnlichkeit mit seiner Frau, war sie ihm ein Extra-Schmankerl wert??), wer zu Beginn des Daseins dieser Klinik mit seinem Vorgänger-Chef für einen erfolgreichen Aufstieg gearbeitet hatte? Heidi war das nicht!! Sah man mich überhaupt? Ich war mal wieder viel zu leise … Aber sie wurde mit dem Strauß geehrt!
Mein verehrter praktischer Arzt hatte rechtzeitig die Arbeitsstelle gewechselt. Doch Dr. Kluge war neun Jahre jünger als ich! Er hatte noch seine Familie zu versorgen, war daher im nahen Kurort in einer anderen Klinik finanziell besser aufgehoben. Mir stand ja das Rentenalter kurz bevor. Da ist als Frau eine neue Stelle schwer zu ergattern. Ich habe mal wieder meinen Mund gehalten und es hingenommen! Und ich habe mich zurückgehalten, weil der verheiratete Michael Frau und zwei Söhne hatte, ich ebenfalls verheiratet – wenn auch zwei bereits erwachsene – Kinder hatte. Und ein Abenteuer in der Besenkammer bzw. einem nicht belegten Patientenzimmer wollte ich nicht sein!
Dieses stille, aber stets korrekte Arbeiten und dennoch nicht dem Ruf der Klinik folgend (mit allen möglichen Kolleg:innen aus was für Gründen auch immer ins Bett zu steigen) war meiner Freundin wohl aufgefallen. Auch hatte ich ihr zur Begrüßung als neuer Kollegin einen gläsernen bunten Schmetterling geschenkt, weil ich sie sehr sympathisch fand, ein Schmetterling sehr gut an ihr Arbeitszimerfenster passte. Wir bauten diese Sympathie in den folgenden Jahren auch noch aus, besuchten uns gegenseitig zu leckeren Brunches. Sie heiratete ihren Uli und ich ging zu ihrer Trauung, wozu ich mir extra ein neues Chasuble gekauft hatte. Ich fiel als elegante Dame auf (obwohl ich mich gar nicht so sah)!
Es muss mir die Darstellung einer sehr selbstbewussten aber nicht aufdringlichen Frau verliehen haben; das würde zu dem Spitznamen „Du Eiche“ passen. Gern gut und auffallend chic oder elegant gekleidet, aber nie aufdringlich oder darum bemüht, jemand anderen damit zu beeindrucken, zu becircen, war mein Bestreben.
Da frage ich mich doch, woher kommt dieses sichere Auftreten, Verhalten? Wer von meinen Eltern hat mir das mitgegeben?
Meine Mutter war Tochter eines Erfolg gewohnten, aber sehr liebevollen Malermeisters, der es nicht nur als solcher zu einer großen, bekannten Firma in unsrer Heimatstadt brachte, sondern auch seine Tochter Hanna mit der Kunstform des Male(r/n)s versorgte. Wir drei Töchter seiner Ältesten, unserer Mutter Hanna, sind kunstbegabt. Außer uns Mädels ist auch von seinem jüngsten Sohn Ludger der Älteste – Martin – so künstlerisch begabt, dass er ein Grafik-Design-Studium als Stipendium bekam und Archtekt wurde.
Und dazu fällt mir nun ein, dass auch meine Tochter Katja diese Talente vererbt bekommen hat! Dass sie künstlerisch begabt ist, wissen wir schon lange. Sie zeigte es mit neun Jahren, als ich von mir selbst wissen wollte, ob ich ebenso wie meine Schwestern vom Erbe unserer Mutter profitiere. Ja, tue ich, hab es auch an meine Tochter weitergegeben. Sie ist mit ihrem künstlerischen Tun beruflich als „Kleine Malerin“ seit 20 Jahren mit einer eigenen Werbefirma tätig! Gut ein Jahr, bevor ich nun zu ihr ins Haus zog, begann sie, die Räumlichkeiten meiner heutigen Wohnung nach Architektenart (sie hatte vor ihrer Berufsausbildung acht Wochen im hiesigen Katasteramt Architekturzeichnungen digitalisiert) abzuklären, so dass diese danach umgebaut werden konnten. Es hatte gereicht, ihre Wahrnehmungen von Räumlichkeiten ebenfalls als Begabung zu integrieren.
Ich selber zog es seinerzeit vor, mich poetisch auszudrücken, schrieb Gedichte, Märchen, viele Blogbeiträge, so dass ein Forumsmitglied einmal verlauten ließ: Schreib doch mal ein Buch!
Doch als ich mit 14 Jahren mein erstes, aber einziges Büchlein schrieb, bekam ich von meinem Vater zu hören, das lese sich ja ganz spannend, aber dichten sei brotlose Kunst! Lern lieber einen Beruf, mit dem du Geld verdienst. Und ich war brav – viel zu brav!! Innerlich weine ich heute immer noch, dass ich seinerzeit zu schnell mein Wunschdenken aufgab. Ich hätte so gern Germanistik und die poetischen „Anhängsel“ studiert!
Aber es macht mich glücklich, dass meine Tochter einige Seiten meiner Begabungen abbekommen hat, heute auslebt!
Ein kleines Eichenbäumchen strebt inzwischen nach größerem Dasein. Es scheinen lohnende Existenzen die Fühler nach ihm auszustrecken …
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