Die verrückte Karoline


Schon in jungen Jahren machte ich gerne lange Ohren kam die Rede auf sogenannte Originale. Anekdoten über solche Individuen kursierten an Wirtshaustischen, auf der Straße, am Arbeitsplatz. Auf einen Sockel in der Walhalla origineller Gestalten gehört nach meiner Überzeugung eine Person, auf die der Begriff "Randexistenz" am genauesten gepasst hätte, dies im sozialen wie im geografischen Sinne. Denn zu ihren Lebzeiten wohnte sie in ärmlicher (aber eigener) Behausung und kaum bemerkbar buchstäblich am Rande meines Heimatdorfes K. knapp unterhalb der Burgruine, die das Dorf überragt. Trotzdem war sie dorfbekannt, wenngleich nicht unbedingt mit ihrem bürgerlichen Namen. "Karoline Leib" stand bis zur Einebnung ihrer Begräbnisstätte in Goldbuchstaben auf dem Grabstein zu lesen, geboren 1882 und hochbetagt gestorben 1968. Was der Stein nicht verriet: dass die hier Bestattete zu ihren Lebzeiten von Groß und Klein nur die "narrich Kollne" genannt wurde, was soviel bedeutet wie die verrückte Karoline.

Die Kunde von einer "narrich Kollne", die im Bereich eines bestimmten Häuschens ihr Unwesen treibe und es dabei mit Vorliebe auf Kinder abgesehen habe, musste mir schon bald nach meiner Ankunft in K. eingeflüstert worden sein. Damals war ich ein siebenjähriger "Flüchtling" und eifrig bemüht, mich mit meiner neuen Heimat vertraut zu machen, einschließlich ihrer Geheimnisse und Gefahren. Tief verstört durch einen Steckbrief im düsteren Flur der Bürgermeisterei, der einem Mörder galt, fielen die Warnungen vor dieser "narrich Kollne" bei mir auf besonders fruchtbaren Boden. Dabei konnte keiner meiner Ohrenbläser klar beschreiben, welche Gefahren wirklich von der geheimnisumwitterten Person drohten. Alle Berichte über sie, selbst die dürftigsten, stimmten allerdings in einem überein: dass schon allein ihr Anblick Angst und Schrecken auslöse.

Vom Tal aus der kürzeste Weg hinauf zur Burg verlief geradewegs vorbei an Frau Leibs Haus. Eben diese Route hatte ich bereits für meine allererste Bergbesteigung gewählt, dies allerdings ganz unbefangen, denn noch wusste ich von der angeblichen Unholdin nichts. Nur wenig später aber, jetzt mit der Aussicht, ihr zu begegnen, war jeder Berganstieg von einem Gefühlsgemisch aus Furcht und Neugier begleitet. Dabei riskierte ich selten mehr als einen verstohlenen Blick über die Schulter zurück auf das stille, meist beschattete Fachwerkhäuschen.

Beschert hat mir ein solcher Rückblick eines Nachmittags doch, worauf ich heimlich stets gewartet hatte. Denn niemand anderem als der narrich Kollne konnte das Gesicht gehören, das sich da hinter dem ebenerdigen Fenster ihres Hauses abzeichnete. Es war das blasse, hagere Gesicht einer alten Frau, deren Augen sich durch eine der grauen Scheiben auf den kleinen Passanten richteten. Lange widerstand ich diesem Blick aber nicht und eilte mit klopfendem Hasenherz hinauf zur Burg.

Womöglich hätte sich der damalige Sekundeneindruck ein für allemal in meinem Kopf als Schreckbild fixiert, wäre es nicht ein paar Jahre später zu einer weiteren Begegnung mit der gefürchteten Person gekommen. Diesmal freilich unter Umständen, die ich mir vorher kaum auszumalen gewagt hätte: Wir traten in geschäftliche Beziehung zueinander. Ich und Geschäfte mit der Närrischen? Ja, als ich ein Amt als Zeitungsbote übernahm. Mit nicht geringem Schrecken bemerkte ich, dass die Anschrift einer Kundenkarte genau mit der Nummer jenes Häuschens übereinstimmte, in dem die Frau Leib lebte; als Abonnent war allerdings eine männliche Person angegeben. Wusste ich damals schon, dass sie das Haus mit ihrem Bruder teilte? Daran entsinne ich mich nicht mehr, erinnere mich aber sehr gut an die bange Stimmung, in der ich zu meinem ersten Botengang aufgebrochen bin, ein Zeitungsexemplar nach dem anderen auslieferte, bis ich das letzte in Händen hielt. Das letzte für das letzte Haus. Vor dem ich nun stand.

Die niedrige Haustür gab unverschlossen meinem Druck nach. Hinter ihr erstreckte sich ein schmaler Flur, an dessen Ende sich im Halbdunkel eine steile Treppe oder Leiter für das Dachgeschoß abzeichnete. Die Tür gleich linker Hand musste zu dem Raum gehören, aus dem mich vormals der Blick aus dem bleichen Gesicht verfolgt hatte. Etwas zaghaft klopfte ich, und da sich nichts rührte, pochte ich ein zweites Mal. Erst danach vernahm ich ein leises "Herein" und betrat über eine hohe Schwelle das Zimmer.

Dessen Bewohnerin saß an einem Tisch, der bis ans Fenster herangerückt war. Noch während ich grüßte, bemerkte ich halb im Hintergrund der geräumigen Kammer die Anwesenheit einer weiteren Person in Gestalt eines hutzeligen kleinen Mannes, der mir vorher schon oft im Dorf begegnet war. Ein etwas muffiger Alte-Leute-Geruch zog mir in die Nase und verriet, dass Armut und Kargheit das Leben hier bestimmten. Das Mobiliar bestand neben dem Tisch aus zwei Stühlen, einem kleinen Kochherd mit langem Ofenrohr und (vielleicht) einem Küchenschrank. Andere Einrichtungsgegenstände fehlen auf dem Bild, das ich mir vom Inneren der Stube bewahrt habe. Allenfalls noch registrierte ich, dass der Wandverputz jahrzehntelang ohne neuen Anstrich ausgekommen sein musste.

Ich legte die Zeitschrift auf den abgenutzten Tisch. Die Frau öffnete die Tischschublade, entnahm ihr eine Geldbörse und reichte sie ihrem Bruder. "Du bringst also jetzt das Blatt", redete der mich an und gab mir die paar Groschen, die man mir schuldete. Die Stimme des freundlich dreinblickende Männchen hörte sich ein wenig rauh und knarrend an. Seine Schwester verfolgte bewegungslos und schweigend unseren Handel. Da ich jedoch den Klang auch ihrer Stimme - leise und sanft, ja ängstlich und schüchtern - im Gedächtnis bewahre, kann sie bei späteren Besuchen nicht immer so stumm geblieben sein. Gemessen an ihrem brüderlichen Hausgenossen, erschien Frau Leib geradezu hochgewachsen. Auf ihrem mageren, ungebeugtem Körper saß ein schmaler Kopf, die spärlichen grauen Haare vereinigten sich in einem kleinen "Schnatz". Die wachsgelbe Haut des hageren Gesichtes ähnelte zerknittertem Papier. Nie sah ich auch nur einen Muskel dieses Gesichtes in Bewegung, was der Mimik etwas Maskenhaftes, Starres, Unergründliches verlieh, als sei die Person dahinter empfindungslos gegen das Geschehen um sich her. Aber sie für "narrich", für verrückt, gar für gefährlich zu halten, das fiel mir von Besuch zu Besuch schwerer.

Andererseits: Von nichts kommt nichts. Hält man diese Lebensregel für gültig, musste das Gerede über die alte Frau in der abgetragenen, verblichenen hessischen Tracht seine Wurzel haben. Auf erhellende Berichte darüber, worauf die ihr zugeschriebene Verrücktheit nun eigentlich beruhte, stieß ich indes erst zu einer Zeit, da ich längst den Botendienst quittiert hatte. Wen immer ich über die Kollne und die Ursache ihres Rufes ausfragte, man verwies mich stets auf ihre Jugendzeit, wusste dies und das von Liebe, Gewalt und von Verstrickungen, die das Mädchen Karoline zunächst verstört und dann ins gesellschaftliche Abseits geführt hätten.

Als junge Frau soll Karoline eine recht anziehende Erscheinung gewesen sein. Der Vater war Zigarrenmacher und eine Zeitlang Teilhaber an einem kleinen Unternehmen dieser Branche. Er galt jedoch als arger Trunkenbold, eine Neigung, die seiner Nachkommenschaft angeblich allerlei körperliche und geistige Defekte eingebracht habe. Davon verschont geblieben sei allein die älteste Tochter.

Eines Abends nun, so die Darstellung einer Gewährsperson, spazierte Karoline Arm in Arm mit ihrer Freundin E., der Tochter des Lehrers W. L., hinauf zur Burg, wo Marburger Studenten laut und fröhlich feierten. Man war jung und fand schnell zueinander, was einer der angehenden Akademiker genutzte haben soll, sich ganz besonders der Karoline anzunehmen. Nicht überliefert ist, wie nahe sich die beiden dabei wirklich kamen. Was immer aber an diesem Abend auf der Burg geschehen sein mag, der Student musste die Karoline tief ins Herz getroffen haben. Das jedenfalls vermuteten Mitbürger, die sie, angetan in einem selbst genähten (oder von ihrer wohlhabenden Freundin E. entliehenem) eleganten Kleid, mit Schirm und auffallendem Hut, noch Wochen nach dieser Nacht einige Male auf dem Bahnhof von Gießen gesehen haben wollen. "Die Kollne wartet auf ihren Liebhaber", flüsterte man und wollte wissen, dass der ihr die Ehe versprochen habe, dann aber auf Nimmerwiedersehen davon sei. Hatte er ihr an jenem Abend gar „geraubt“, was man damals noch mit dem Wort Ehre umschrieb?

Womöglich aber verdankte die Zigarrenmacherstochter ihre Verstörung gar nicht allein der falschen Liebe eines Studenten. Es gibt auch Hinweise auf eine Strafe, die Karoline angeblich durch den Vater, andere behaupten, durch einen Verwandten, erlitten habe. Da heißt es, dass sie nach der Beichte ihres Fehltritts oder was sie dafür hielt, zunächst ganz fürchterlich verprügelt und danach tagelang in einen dunklen Schuppen eingekerkert worden sei. Und dadurch erst soll sie überhaupt "verrückt" geworden sein.

Als verrückt erschien den Nachbarn ihre Mitbürgerin, wenn sie in ihrem Gärtchen hinterm Haus Flüche gegen den gar nicht anwesenden Vater ausstieß. Darin warf sie ihm nicht nur die Schuld am eigenen Unglück vor. Seiner Trinkerei schrieb sie zudem die Ursache für die Krankheiten und den frühen Tod ihrer Geschwister zu. Trotzdem, das Leben musste weitergehen. Die junge Frau suchte sich Arbeit und fand sie in einer Gärtnerei im nahen Gießen. Ausgestattet mit einem Handkorb für die Tageszehrung, sah man sie dann jahrelang gleich anderen ihres Dorfes auf Schusters Rappen zu ihrer Stelle pilgern. Bisweilen blieb sie dabei stehen, setzte den Korb ab und redete auf ihn ein. Lauschende Passanten vermeinten, dass ihre Worte sogar hier dem Vater galten; wieder sollen es böse Worte gewesen sein. Man lächelte darüber; die Kollne, das wusste ja inzwischen jeder, hat sie halt nicht alle, war ein närrisches Ding. Man ging ihr am besten aus dem Wege.

Verwunderlich ist deshalb nicht, dass sie zeit ihres weiteren Lebens unverheiratet blieb. Anstatt nochmals auf die Liebe eines Mannes zu setzen, spann sich die Karoline in eine Welt des Zornes ein. Sie scherte sich weder um das Gebot der Vaterliebe noch um die geltende Moral, wonach die Frau dienen und schweigend dulden muss, was ihr das Leben zuweist. Herzlich zugetan war sie alleine ihrem Bruder, mit dem zusammen sie über Jahre den Mesnerdienst in der nahen Kirche versah. Und während allmählich in Vergessenheit geriet, was die junge Karoline eigentlich erbittert hatte, verwandelte die erwachsene sich in den Augen der Kinder ihrer Mitmenschen in ein Schreckgebilde. Das Opfer wurde so zu einer potentiellen Täterin gestempelt, die freilich, soweit mir bekannt, niemals wirklich jemanden auch nur ein Härchen gekrümmt hat.

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Frau Leib in einer Pflegeeinrichtung bei Weilburg, entmündigt auf Grund eines amtsärztlichen Gutachtens, aber körperlich ungebeugt, wie mir ihr Amtsvormund einmal versicherte. Ihr Haus wurde in den 1960er Jahren abgerissen, an gleicher Stelle errichtete ein wohlhabender Holzgroßhändler einen neuen Fachwerkbau. Als Zeugnis ihrer einstigen Existenz blieb von Karoline Leib ein paar Jahrzehnte lang nach ihrem Tod allein ein Marmorstein. Und weil in aller Regel Grabsteine zum Andenken nur wirklich Berühmter erhalten bleiben, wächst heute nur noch Gras über den Gebeinen der armen narrich Kollne.

Siegfried Träger

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Kommentare (5)

oessilady Oh ja solche Schauergeschichten kenne ich auch aus den Kindertagen.
bei uns gab es auch ein altes Haus,in dem lebte so ein komischer Kauz.man wußte nicht genau woher er gekommen war aber alleine die tatsache ,daß er an einem Ohr einen Creolenring trug,stempelte ihn schon zu einem Sonderling und dann war er äußerst Leutscheu-so sagte man ,wenn einer die Menschen mied. das alte Gebäude in dem er wohnte war so zum Abriß bereit aber man ließ ihn darin hausen,bis er eines Tages irgendwie verschwunden war,keiner konnte sagen wohin. Nur wir Kinder gruselten uns ,wenn wir an dem Haus vorbei gehen mußten. So können Geschichten Menschen zu Ausgestoßenen machen !
Linta Mit einer Freundin tigerte ich dort entlang ohne jeglichen männlichen Schutz.
Dicht an dicht marschierten wir stets mit dem Schlimmsten rechnend..
Dazu zeigte sich der Tag grau und nebelig und uns gruselte es. Owohl Angst mir
eigentlich fremd ist erwischte ich mich dabei, den Kopf öfter nach hinten drehend ob
uns dieser Mensch verfolge. Auf die vor uns liegende Wegstrecke konnten wir uns beide eigentlich gar nicht so recht konzentrieren.
Diese "schreckliche" Gestalt allerdings sahen wir nicht, dabei hatte ich mir schon genau
überlegt wie ich mich wehren würde..............schmunzel.

In meinem Archiv befinden sich natürlich Sagen. Sagen meines Schlesierlandes, Sagen des Sauerlandes in dem ich nach der Vertreibung aufwuchs.

So schöne Geschichten kannst Du erzählen Siegfried.
Danke
ninna
Linta ......lese ich mit wahrer Begeisterung. Auch sind mir aus Kinderzeiten manche "Karolinen" und "Karolonen"
bekannt.

Auch im längst Erwachsenenalter erlebte ich sie noch. An einem grad geöffneten Grenzübergang von
Franken in die einstige DDR stand ein "Hexenhäuschen", arg zugewachsen und mit
verwildertem Garten. Dort hauste eine männliche Gestalt die angeblich den gesamten Wald umher beherrschte
und einsamen Wanderern/Innen das Fürchten lehrte.
(Wohl so eine Art Rübezahl)

Fortsetzung
nasti

bleiben in unserem Erinnerungen eher die angeblich negative Personen haften, als die positiven.
In unserem Stadt, wo ich geborene bin, gab auch einige harmlose „verrückte“, einer war ein rothaariger Friseur. Er liebte die Kinder über alles. Einmal verschwand ein klein Mädchen, und Ihre vergewaltigte Leiche war gefunden, der unschuldige rothaariger war mit Menschen umgebracht
worden, die Bürger übten Selbstjustiz . Die Polizei hatte der echte Mörder gefunden.
Schön das du diese Erlebnisse niedergeschrieben hast, die arme Kollne ist durch Dich nicht in Vergessenheit geraten, Ihre Geschichte lesen wir hier. Wenn eine Seele oder Geist geben sollte, wirst du dafür belohnt.

Nasti
tilli Solche Erlebnisse, solche Erinnerungen die geben jeden von uns ein Moment, wo wir an solche Menschen denken.Jeder begegnet mal solcher Karoline.Die unglückliche Menschen,wussten gar nicht was Leben ist. Darum ist diese Geschichte eine Mahnung, nicht so zu leben,aber auch wenn schwierig ist, von Leben etwas Gutes zu erwarten.

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