Die Gurken in Nachbars Garten …
„In die Erinnerung“, so schrieb die Schriftstellerin Christa Wolf, „drängt sich die Gegenwart ein, und der heutige Tag ist schon der letzte Tag der Vergangenheit.“
Meine Kindheit zu beschreiben, ist kein einfaches Unterfangen. Es fällt mir schwer, zuzugeben, dass jenes Kind von damals - mir unerreichbar ist. Nicht nur trennen mich Jahrzehnte; nicht nur behindert mich die Unzuverlässigkeit meines Gedächtnisses, das nach dem Inselprinzip arbeitet und dessen Auftrag lautet: Vergessen! Verfälschen!
Ich habe es hinter mir gelassen, beiseite geschoben, habe es vergessen, verdrängt, verleugnet, umgemodelt, verfälscht, verzärtelt und vernachlässigt, habe mich seiner geschämt und hab mich seiner gerühmt, habe es falsch geliebt und es falsch gehasst. Jetzt, obwohl es unmöglich ist, will ich es kennenlernen.
So gesehen, ist mein Erinnern eine lebendige und aktive Tätigkeit, die durchaus mühevoll aber manchmal auch scherzhaft sein kann. In meinen gesammelten Erinnerungssplittern spiegelt sich die Zeit der 50-er Jahre. Es handelt sich dabei um Spuren persönlicher Gefühle, Erlebnisse, Gedanken aus und über die Kindheit eines durchaus liebevollen Lausbuben.
Der Ort, an dem ich mich im Gedanken befinde, heißt Berndorf. In der Nachkriegszeit wurden im ländlichen Umfeld meiner Stadt kleine Gartenparzellen an Bedürftige verpachtet. Auch meine Familie hatte so ein Stück Anbaufläche ergattert und baute darauf Gemüse an. Unser „Garten“ unterschied sich von den vielen 10x20 Meter großen Feldparzellen nur dadurch, dass wir als Umrandung eine Reihe von Bohnenstangen hatten. Ansonsten gab es kaum Unterschiede: Fünf Reihen Kartoffel, zwei Beete mit Salat, dann Erbsen, Radieschen, zwei Büsche Stachelbeeren und als untere Begrenzung schwarze Johannisbeeren (Ribisel). Rund um den Komposthaufen gediehen die Gurken und Paradeiser mehr schlecht als recht.
Der Tag, an den ich grade denke, war ein Sonntag. Und es war ein wirklicher Sonntag. Vater war nicht betrunken. Es gab genug Geld und Mama plante das obligate Sonntagsschnitzel mit Reis und Gurkensalat. Für das Besorgen der Gurken war ich zuständig. Also trat ich den relativ weiten Weg in den Garten an. Meine Vorfreude auf den geliebten Gurkensalat erhielt einen argen Dämpfer als ich das verwüstete Gurkenbeet sah. Irgendein Berserker hatte gewütet, keine einzige Gurke war zu gebrauchen! Wie soll ich das meinem Vater erklären, dachte ich. Er, der mir ohnehin immer die Schuld an allen Unbillen gibt. Er wird vermuten, dass ich gar nicht im Garten war. Das war so ein Moment, wo ich zu beten begann.
Die Lösung des Problems lag nebenan: Ein verführerischer Nachbargarten, das Gurkenbeet proppenvoll mit Salatgurken so dick wie mein Arm, umrahmt von Paradeisern in allen Reifestadien von blass-grün über gelb-orange bis saftig-rot, sahen aus, wie der Paradiesgarten im Katechismus. Lieber Gott verzeih' mir, aber ich muss diesen Sonntag retten.
© story by ferdinand
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Lieber Ferdinand,
bestimmt wurde hier von oben mal kurz, aber wohlwollend, weggeschaut.
Und dem Nachbarn dürfte bei der Fülle der Salatgurken auch nichts aufgefallen sein. Es sei denn, er hatte vorher jedes Exemplar sorgfältig durchnummeriert.😉
Viele Grüße
Rosi65