Der Weg alles Irdischen
Die Zwei heirateten nach angemessener Zeit, mein Vater wuchs heran und bekam bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges noch drei Brüder. Das allerdings führte dazu, dass er als Ältester und "nur Ziehsohn" seines Stiefvaters ab dem Schulalter (?) jeden Abend eine Tracht Prügel bekam mit den Worten: „... für das, was Du heute verbrochen hast! Und wenn du brav gewesen sein solltest, wirst du sicher morgen etwas tun, was ich nicht mitbekomme, dann hast du die Strafe eben schon im voraus bekommen!“ Das hinderte den Stiefvater aber nicht, am folgenden Abend in gleicher Art zu verfahren.
So erzählte Vater es mir, als wir Zwei einen Urlaub auf Norderney verbrachten.
Ob diese tägliche Grausamkeit meinen Vater so introvertiert hat werden lassen – ich weiß es nicht. Allerdings hat ihn diese Art doch zu einem mitfühlsamen Menschen werden lassen,
der die Musik über alles liebte. Er war nach dem Krieg, als unsere Mutter so schwer erkrankte, bereit,
auch seine frisch von dem Stiefvater getrennte eigene Mutter aufzunehmen, die ihn bei der Erziehung von uns Mädchen doch ein wenig Mutterstelle ersetzen konnte.
Das Leben ging natürlich weiter. Er wurde mit 40 Jahren Witwer, konnte sich lange nicht entschließen, sich nach einer zweiten Frau umzusehen. Das dauerte sechs Jahre – und dann erhielt er gleich nach der Verlobung die hässliche Nachricht, sie habe Krebs – wie seine erste Frau. Wir Mädchen haben es nicht miterlebt, welche Gefühlswallungen ihn damals geschüttelt haben müssen. Aber es stellte sich nach der Operation heraus, dass unsere zukünftige Stiefmutter gar keinen Krebs hatte. Ihre Diagnose wurde mit der einer anderen Patientin verwechselt!!
Was dann seinen Parkinson auslöste, bleibt nur in meiner Vermutung.
Nur ein halbes Jahr nach meiner Verlobung Weihnachten 1964 schlug diese Erkrankung im Frühjahr 1965 so stark bei ihm durch, dass es sein Leben heftig zu ändern vermochte. Er und wir alle ahnten ja nicht, dass der Stress der Krebserkrankung unserer leiblichen Mutter vielleicht schon diese Erkrankung anschob. Auf alle Fälle hatte er in den Jahren nach dem Tod unserer Mutter ein recht schmerzhaftes Zwölffingerdarmgeschwür, das nur langsam geheilt werden konnte. Beides, Stress als auch die nicht seltenen Folgen davon für Magen-Darm-Erkrankungen, sind wohl oft Vorboten des Parkinsons. Er muss auch irgendwann in diesen Jahren einen „stillen Herzinfarkt“ erlitten haben.
Von diesen ersten Vorboten im Frühjahr 1965 erholte er sich nie. Er musste insgesamt 22 Jahre mit dieser Krankheit leben! Die Erkrankung nahm ihren Verlauf, seine zweite Ehefrau pflegte ihn sehr gut und nach Kräften. Die Familie integrierte ihn in ihren Alltag, so gut es eben ging mit der fortschreitenden Symptomatik.
Eines Tages besuchte eine Nachbarin meiner Eltern, die in Urlaubszeiten im Salon aushalf, meinen damaligen Chef, ein ehemaliger Jugendfreund. Doch der war gerade nicht im Haus und da ich sie erkannte, sie mich aber wohl nicht, sprach ich sie auf ihre Nachbarschaft in Münster an. Sie erzählte mir voller Empörung, dass unser Vater von seinen eigenen Töchtern schlimm im Stich gelassen würde.
Mir blieb die Spucke weg!! Ich wusste, dass unser Adoptivbruder, der Sohn der zweiten Ehefrau unseres Vaters mit seiner Familie sich liebevoll um ihn kümmerte. Auf eigenen Wunsch durfte unser Vater auch ein wenig sich draußen betätigen, so lange er das noch konnte. Er fegte gerne den Bürgersteig um den Salon herum. Klar, man sah, dass er durch den Parkinson darin eingeschränkt war. Aber so lange er das tun wollte, gaben sie ihm die Möglichkeit. Dass „solche“ Nachbarn sich darüber vielleicht andere Gedanken machen könnten, war nicht so ihre Befürchtung.
Mir schien es an der Zeit, die ehemalige Nachbarin doch ein wenig aufzuklären. „Ich bin eine dieser bösen Töchter!“ gab ich ihr zu verstehen. Sie wurde knallrot, stand auf und konnte so gerade noch hören, dass ich erklärte, dass auch meine beiden Schwestern wie ich etliche Kilometer weit weg von unserem Elternhaus lebten und nicht täglich bei unserem Vater nach dem rechten schauen konnten. Schließlich hatten wir alle Drei zu dieser Zeit unser eigenen Familien mit Kindern, gingen alle Drei obendrein unseren Berufen nach und zuhause gab es die sich sehr kümmernde Ehefrau unseres Vaters, dazu die Familie unseres Bruders. Dass wir Töchter mit unseren Familien fast wöchentlich bei unseren Eltern zu Besuch waren, hatte sie wohl nicht mitbekommen. Es war auch keine Thema im Elternhaus, darüber zu reden.
Die ehemalige Nachbarin flüchtete augenblicklich aus der Firma meines Chefs …
Vaters Erkrankung nahm ihren Lauf und am 26.September 1987 verstarb er nach langer schlimmer Krankheit an einem großen Rundum-Infarkt. Ich bin bis heute glücklich darüber, dass ich in der Minute seines endgültigen Abschieds von dieser Welt an seinem Krankenbett noch ein paar letzte Worte mit ihm wechseln konnte, seine Hand halten durfte. Nach diesem schweren Schicksal den endgültigen, nun wohl schmerzfrei und leichter zu gehenden letzten Weg wich meine Trauer ein wenig dem tröstlichen Gefühl, ihn würde ab sofort nichts mehr stressen, kränken, schmerzen ...
Kommentare (2)
@Muscari
Liebe Andrea, ich habe Dein Buch gelesen und finde es sehr interessant! Nachahmenswert!!
Schon oft hatte ich den Gedanken, meine ganzen Erinnerungen zu einem Buch zu verarbeiten. ABER ..
Es gab so viele unschöne Geschichten, weitaus schlimmer, als das, was ich in diesem Blog hier sehr bedacht "geoutet" habe. Und natürlich gibt es Angehörige, denen es - so wie ich sie einmal kennenlernte - ganz sicher nicht gefallen würde, sich entsprechend in einem Buch wiederzufinden.
Wie würdest Du es als betroffene Familienangehörige finden, wenn es öffentlich bekannt würde, dass die Mutter meines Mannes - in dem Fall deine Verwandte - wegen ihrer manisch-depressiven Erkrankung, die sich bereits in ihren späten Teenagerjahren zeigte, hätte man sie nicht in jenen Zeiten versteckt, gar nicht hätte heiraten dürfen?! Oder gar Kinder in die Welt setzen dürfen?! Ihr Bruder, ebenfalls betroffen, hat sich in Hitlers Zeiten der Stasi angeschlossen, konnte sich so vor Verfolgung schützen. Die Schwester war ebenfalls in gleicher Art erkrankt. Meine Schwägerin, die Jüngste in meiner angeheiraten Familie ist auch betroffen, lebt aber als einzige noch.
Das wäre mitten in der Nazizeit wohl nicht so geschehen, wäre anders entschieden worden ...
Ich habe ja in den 1980er Jahren angefangen, alles in der Form eines Tagebuches festzuhalten - inzwischen über 1000 Seiten Maschinenschrift. Wer sich da dran setzen will, hat lange zu tun, es für ein Buch klar zu bekommen. Ich weiß ja, was so alles geschieht, wenn ein Buch in Vorbereitung ist. Und ich müsste wohl noch in der Verwandtschaft herumreisen, um weitere erklärende Details zu erfahren.
Meine Tochter hat schon mehrfach das Layout für Bücher erarbeiten dürfen, die dann auch dank ihrer Hilfe erschienen sind, denn ihre Firma fand sich in den ersten Jahren der Existenz in einer alten Zeitungs- und Buchdruckerei. Derzeit erstellt sie mit einem früheren Kollegen dessen reich bebildertes "Familienbuch", damit - wie gewünscht - nichts in Vergessenheit gerät.
Und gerade erst hat sie "so mal eben" eine Broschüre über den Verlauf der ersten Monate Hilfe für ihren legasthenen Sohn, Zweitklässler, ausgearbeitet und man reißt ihr die Broschüre förmlich aus der Hand!!
Ich bekam zur Gesellenprüfung ein Buch über Münsters schönste Bauwerke von der Ausbilderfirma. Beim Durchblättern nach Jahrzehnten entdeckte ich darin als eines der bis zum 2. Weltkrieg sehr gut erhaltenen Giebelhäuser, in dem mein mütterlicher Großvater seine Firma hatte.
Begeistert kopierte ich dieses Foto und gedachte, es seinen Kindern bzw. Enkelkindern als bildgroße Kopie zu schenken. Dann gab ich es meinem Patenonkel, der schon sehr gebrechlich im Rollstuhl saß. "Das Haus hat Vater Juden abgeluchst!!" war sein Kommentar. Aber 1909?? Zu diesem Zeitpunkt hatte er es von seinem Vater, also meinem Urgroßvater übernommen! So eine Ablehnung, gar Hass hatte ich nicht erwartet. Und wenn es wirklich so war - das war zu Kaisers Zeiten. Wie standen damals die Menschen den jüdischen Mitbürgern gegenüber? Ich kenne meinen Opa nur als sehr lieben, friedlichen alten Mann, der sich sogar im 1. Weltkrieg lieber freiwillig in französische Gefangenschaft begab, als auf Menschen zu schießen ...
Du siehst, es kommt so eine spannende Geschichte nach der anderen aus der Versenkung. Aber ob all die lieben Verwandten - nur meinerseits über 100 Nachkommen - so etwas veröffentlicht wissen wollen? Das riskiere ich in der heutigen digitalen und oft hasserfüllten Zeit nicht! Vermutlich würden sich darüber die Geister scheiden.
Ich kann mal wieder nicht kurz!! Tschuldigung! Aber herzlichen Dank für Deinen zusprechenden Kommentar, liebe Andrea.
Aus dem nassen Norden wünsch ich Dir eine gute Woche mit herzlichem Gruß
Uschi
Liebe Uschi,
wieder eine interessante und bewegende Familiengeschichte, die mich sehr berührt hat. Gerade weil sie Deinen Vater betrifft.
Du müsstest das unbedingt alles zusammentragen und ein Buch daraus machen.
Das habe auch ich vor 12 Jahren gemacht und war glücklich, sehr schnell einen Verlag gefunden zu haben. Im Jahr 2012 erlebte mein Buch sogar eine 2. Auflage.
Schon viele Jahre hatten mich die Gedanken verfolgt, eines Tages alles Erlebte aufzuschreiben. Aber erst nachdem ich in Rente gegangen war, fand ich die Zeit dazu.
Also kann ich Dir nur dazu raten und vor allem, dazu Erfolg wünschen.
Danke und mit herzlichem Gruß von
Andrea