Der verlorene Engel
Gleich zu Beginn, damit niemand sich unnötig sorgt: Der Engel ist wieder da. Er begleitet mich in der Konsole meines Autos treu und zuverlässig auf allen Wegen.
Es war im März 2002, als mein Vater schwerstkrank im Dr. Mildred Scheel Haus der Kölner Uniklinik lag. Dieses Haus ist eine Palliativstation, und mittlerweile verfügt sie auch über einige Hospizplätze. Die Atmosphäre dort war wie in einem Hospiz, und sie war gut, ja sehr gut. Man tat alles, um den kranken und sterbenden Menschen Gutes zu tun – sei es, dass man noch einmal ihre Leibspeise servierte, starke Schmerzattacken mit sofortiger Medikamentengabe zu lindern versuchte oder stundenlange Gespräche führte.
Mein Vater fühlte sich dort gut aufgehoben. So wie die Ärzte und Krankenschwestern war auch der Seelsorger der Universitätsklinik im Mildred Scheel Haus immer wieder präsent, und eines Tages besuchte er wieder einmal meinen Vater. Das Gespräch schien sehr gut verlaufen zu sein – das ist oft so, wenn zwei Ur-Kölner aufeinander treffen. Da war offenbar viel gelacht worden, und doch hatte es zwischendurch ernste Momente gegeben. In einem solchen hatte der Geistliche meinem Vater einen Bronze-Engel in die Hand gelegt. Die Menschen, die im Mildred Scheel Haus lagen, bekamen alle einen solchen Engel.
Dieser Engel wurde fortan der ständige und wichtige Begleiter meines Vaters. Meist hatte er ihn fest umschlossen in der Hand, manchmal stand er auf dem Tischchen am Bett.
Eines Tages kam ich ins Zimmer, begleitet von Paolo, meinem Hund, der mit auf die Station durfte, weil er meinem Vater gut tat. In besseren Zeiten hatte mein Vater stundenlange Spaziergänge mit Paolo gemacht, und so war da eine Bindung, die auch in den letzten Tagen nicht abgebrochen werden sollte. - Im Gegensatz zu sonst, wenn Paolo ins Zimmer kam und rührend von meinem Vater begrüßt wurde, wurde er diesmal keines Blickes gewürdigt. Keine Streicheleinheit, der arme Hund wurde regelrecht ignoriert. Ich gewissermaßen auch. Panik war in den Augen meines Vaters, die sogleich auch mein Herz ergriff.
„Der Engel ist weg“, stieß er hervor.
Ich wusste sofort, dass es sich nur um den kleinen Bronze-Engel handeln konnte. Alle Beruhigungsversuche halfen nicht, ich machte mich also auf die Suche. Das Tischchen am Bett hatte einige Schubladen, ich suchte zuerst dort. Dann in den Taschen des Bademantels und auf Geheiß auch im Schrank. Der Engel blieb verschwunden. Vater war todunglücklich. Ich suchte den Boden ab und dann auch noch im Badezimmer. Kein Engel!
Ich versuchte es mit Ablenkung und wollte erfahren, was die Ärztin gesagt hatte, was es zu essen gegeben hatte. Versuchte zu erzählen, wie es „draußen“ in der Welt aussah und wer angerufen hatte, um Grüße zu bestellen.... Er schien es kaum zu hören. Schickte mich noch einmal ins Badezimmer, um erneut nach dem Engel zu suchen.
Seine Not war kindlich, anrührend. Und machte mich einigermaßen hilflos.
Nach einer Stunde kamen zwei Krankenschwestern, um das Bett neu zu richten. Das Laken glatt ziehen, das Kissen aufschütteln... Das waren kleine Aufmerksamkeiten, die insbesondere den Kontakt zum Patienten aufrecht erhalten sollten. Mein Vater berichtete sofort vom verlorenen Engel.
Die Schwestern waren irritiert, ließen sich aber nichts anmerken.
Sie nahmen die Bettdecke weg, zogen das Laken glatt. Plötzlich lachte eine der beiden laut auf. Sie hielt etwas in die Luft!
Meinem Vater, der zeitweise mit dem Engel in der Hand eingeschlafen war, war dieser wohl aus der Hand geglitten. Fast am Fußende hatte er sich versteckt, der Engel. Aber nun war er wieder da, und die Anspannung in den Gesichtszügen meines Vaters wich einem zufriedenen Lächeln.
Der Engel war wieder da!
Ich habe lange überlegt, ob ich ihm den Engel mit ins Grab gebe, oder ob er mich begleiten sollte. Ich habe mich für letzteres entschieden, und wenn ich das jetzt so schreibe, weiß ich, dass oben im Himmel mein Vater und die Engel lächeln und sagen, dass es gut so ist.
Kommentare (3)
Syrdal
Die innere Panik über den Verlust des Engels kann ich sehr gut verstehen. Es ist eine Empfindung, die man mit unserer irdischen Menschensprache nicht beschreiben kann, weil sie kosmischen Ursprungs ist und einer völlig anderen Sprache bedarf – der „Sprache der Ewigkeit“...
Syrdal
lillii
danke für Dein Erzählen, es zeigt deine enge Verbundenheit mit Deinem Vater, die auch jetzt noch besteht und hat mich sehr gerührt.
Ich bin mir sicher, dass Du mit Deinem letzten Satz recht hast, achte auf den Engel!
Liebe Grüße Luzie
Liebes Tannenmütterchen,
der kleine Engel hat Deinem Vater Trost und Kraft gegeben. Es ist schön, dass Du ihn in Ehren behalten hast.
Herzlichen Gruß
Rosi65