Der Tag hat viele Gesichter


Der Tag hat viele Gesichter
Humanität besteht darin, dass niemals
ein Mensch einem Zweck geopfert wird!(Albert Schweitzer)

Ein Tag hat viele Gesichter. Sie ändern sich von Stunde zu Stunde, ja fast von Minute zu Minute. Manchmal sind sie wie ein Januskopf, vorn die gute Seite, die Menschlichkeit; auf der Rückseite aber das Unbarmherzige und Böse. Wir waren die ganze Nacht unterwegs. Ein am Wegrand gefundener Soldatenmantel spendete meinem Brüderchen etwas Schutz vor der beißenden Kälte. So zog ich mit dem Gepäckschlitten durch die eisige Nacht, der kleine Bruder saß obenauf. Mutter, sehr geschwächt durch ihre Kniegelenkentzündung, hatte mir inzwischen den Rucksack abgenommen und damit ein wenig Erleichterung verschafft
 Dann unvorhergesehen, wie aus einem Bilderbuch entsprungen, erschien aus der Kälte des nahenden Morgens das Gesicht dieses Gutshauses. Ein kunstvoll geschmiedetes Tor, die Allee von Pappeln führte durch einen großen Park über ein Rondell zu einer breiten Freitreppe, pausbäckige Puttengesichter umrahmten die Auffahrt, lächelten sorglos in den klirrenden Sonnenaufgang hinein. Friedlicher konnte ein Bild nicht sein. Hier würde es Schutz, Wärme, Nahrung geben. Hier schien Sicherheit zu sein. Oder war es nur eine trügerische Sicherheit?
 Das große Portal stand offen. Weit und breit war niemand zu sehen. Ich befreite meinen Bruder aus seiner Vermummung. Er wimmerte leise vor sich hin, konnte kaum stehen, die kleinen Glieder waren von der Kälte steif geworden. Ich nahm ihn an die Hand, die Mutter folgte uns zaghaft, vorsichtig betraten wir die große Halle des Gutshauses. Niemand war dort, den man um Erlaubnis fragen konnte.
    Dafür aber ein infernalischer Anblick: ausgebreitetes Stroh, wirr durcheinander liegende Möbelstücke, Kleidung, Gepäckstücke. Dazwischen eine Anzahl still und reglos liegender Menschen. Spiegelnd gefrorene Blutlachen, blicklose starre Augen, offene Münder, die nach Barmherzigkeit schreienden Lippen weiss und bereift. Ein undefinierbarer Geruch lag in der Luft. War das der Geruch des Todes? Wie riecht eigentlich der Tod?
    Zunächst stumm vor Angst, drückten wir uns vorsichtig an der Wand entlang und bemühten uns dabei, die toten Menschen nicht zu beachten. Wir schlichen durch die Halle auf eine Tür zu, die in das Untergeschoss des Hauses führte. Auf der breiten Treppe nach unten stolperte ich unversehens über einen dort liegenden Mann mit schwarz-weiß gestreifter Weste. Instinktiv stieß ich ein »Entschuldigen Sie« hervor, bevor mir klar war, dass dieser Diener nichts mehr sagen konnte.
    Dann, vor uns eine riesengroße Küche. Töpfe, Pfannen, zerschlagenes Geschirr. In einer Ecke des schachbrettartig gefliesten Bodens saß eine Frau in blauer Schürze und starrte uns an. Der Schreck fuhr mir in die Glieder. Doch dann spürte ich, dass auch diese Frau nichts mehr sagen würde! Der Hunger überdeckte das Gefühl des Grauens. Glücklicherweise aber waren hier keine weiteren Leichen zu sehen. Ich durchwühlte verzweifelt die hohen Wandschränke nach Essbarem.
 »Das dürfen wir nicht!« Meine Mutter rief es mit sich überschlagener Diskantstimme. »Wir können doch nicht einfach ...« Ich sah sie kurz an, schüttelte den Kopf und suchte weiter. Es war nicht viel, was ich da fand. Ein halbes hartes Brot, eine weiche pommersche Mettwurst, deren Haut schon Schimmel zeigte. Da stand noch ein Einmachglas mit eingekochtem Fleisch, in einer hohen Emailkanne ein Getränk, das sicher einmal Pfefferminztee war, ein paar verschrumpelte Äpfel. Welche Schätze! Der Hunger kennt keinen Ekel, keine Vorsicht mehr. Die Tage fast ohne Essen machten sich bemerkbar. Wir stopften in uns hinein, was wir nur konnten, einiges passte schließlich noch in den kleinen Rucksack.
    Durch das Fenster des Souterrains schaute auf einmal zaghaft eine hell-orange-unifarbene Morgensonne. Als ob sie nach dem Rechten sehen wollte, strahlte sie Ruhe und Frieden aus. Der Lebenswille erhob sich aus der grauen Welt des Todes, ergriff unsere Hände und wies uns den Weg durch den Kellerausgang zum Garten hinaus. Es war immer noch sehr kalt. Der Atem schwebte einem Nebel gleich vor unseren Gesichtern, als wollte er uns den weiteren Weg zeigen.
 
(Dieses Kapitel ist meinen autobiografischen Erzählungen "1000 Jahre und die Tage danach" entnommen)

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Kommentare (4)

ehemaliges Mitglied


​​​​​​lieber Horst, 
manche Erinnerungen können ja zeitlebens, das mit ihnen verbundene Grauen wiederbeleben. Ich habe das bei meinem lieben alten Nachbar miterlebt, der sicher Furchtbares mitmachte, bis hin zur Gefangenschaft.
Bis ins hohe Alter suchten ihn, von Zeit zu Zeit, schreckliche Albträumen heim, aus denen er schreiend erwachte. Er suchte dann völlig verwirrt seine Schuhe und marschierte stundenlang durch die Nacht, wie mir seine Frau immer wieder erzählte. Danach wirkte er 2-3 Tage irgendwie psychisch abwesend. Er selbst erwähnte manchmal, dass er in Krieg und Gefangenschaft war und brach dann mitten im Satz mit einem Kopfschütteln ab.

Hoffentlich haben deine Erinnerungen für dich, nach den vielen Jahren, zumindest einen Teil ihres Schreckens verloren.



liebe Grüße
WurzelFluegel

Pan

Ich hatte das unwahrscheinliche Glück diese Vorkommnisse zum grössten Teil zu absorbieren. Hilfe dabei schafft - wie so oft - das Rekapitulieren der wesentliche Dinge, ohne sie zu verfälschen! Dabei hilft meist das Festhalten der Gedanken mit genauer Rekonstruktion des Gewesenen, ohne fremdes Wissen einzufügen. Es ist schwierig, aber mit einiger Übung leicht möglich.
Grüss Dich,
Horst

Syrdal


Dem alles erstickenden „Atem des Todes“ gerade noch einmal entkommen durch einem runzligen Apfel, einem kleinen Stück hartem Brot, einigen Gramm verschimmelter Wurst und einem rettenden Glas mit Eingemachtem aus Friedenszeiten…
Wer kann sich das heute vorstellen… wer will es überhaupt? – Und doch ist genau dieser „Atem des Todes“ wieder nah… sehr nah… Nur glaubt es keiner!

...sagt Syrdal

Pan

Lieber Syrdal  - ich glaube, ich könnte es auch nicht glauben.
Dazu gibt es heute zu viele Ungeheuerlichkeiten, der Fortschritt 
nimmt zu, auch in der Bösartigkeit -

Sonntagsgrüße von hier
Horst


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