Das Kind Folge Nr. 2 Die Kapitulation
Das Kind Folge Nr. 2
Die Kapitulation
Das Kind lag in einem Graben. Viel Wasser war anscheinend nicht darin, es spürte aber die Feuchtigkeit. Die Kleider sind bestimmt schon ganz schmutzig, dachte es, aber dieses Mal würde die Mutter nicht nörgeln, denn sie hatte das Kind ja rein geschubst und war auch sofort hinterher gesprungen. Mit ihr noch mehrere Frauen und Kinder.
Der Himmel ist so schön blau, wenn doch nur nicht der ohrenbetäubende Krach wäre. Von Zeit zu Zeit wurde der so stark, dass die Frauen aufschrieen, und dazu kam dann noch so ein komisches Rattern.
Schüsse waren das, Schüsse aus Maschinengewehren, und sie versuchten die Frauen und Kinder einfach aus ihren Tieffliegern abzuschießen, aber niemand wurde getroffen und irgendwann gaben sie endlich auf.
Sie befanden sich mitten in Ostfriesland. Soldaten hatten sie in einem Lastwagen dort hin gebracht und als die Tiefflieger kamen , einfach vom Wagen geworfen und geflüchtet. Angeblich sollte die heimatliche Hafenstadt unter Wasser gesetzt werden, falls der Krieg verloren ginge. Deshalb hatten sich die Mütter in ihre Obhut begeben.
Nach dem die Flugzeuge abgedreht hatten, berappelten sich die Frauen und berieten, was nun getan werden sollte. Es war ihnen versprochen worden, dass für jede von ihnen ein Bauernhof gefunden war, der sie aufnehmen würde. Diese Höfe mussten sie nun wohl auf eigene Faust finden.
Gegen Abend hatte die Mutter endlich eine Bauernfamilie gefunden, bei der sie Unterschlupf fanden. Die Zimmer waren winzig und auch niedrig. Überall roch es nach Kuh, aber sie dachten, sie seien in Sicherheit. Der Bauer und seine Frau waren freundlich. Auch schienen sie ziemlich ungehalten über das Verhalten der Soldaten zu sein. Sie klärten die Mutter darüber auf, dass die Front nicht weit weg sei, aber sie hätten vorgesorgt und Löcher in die Erde gegraben, in die sie notfalls gehen müssten. Für das Kind und die Mutter sei dort auch noch Platz.
Das Kind lebte sich wie immer sehr schnell ein. Einzig die Toilette, die sich im Kuhstall befand, machte ihm Schwierigkeiten, denn es musste ja an den riesig großen Kühen vorbei, die ihre Schwänze immer hin und her peitschten, weil sie die Fliegen verjagen wollten. Da konnten sie auf so ein kleines Kind natürlich keine Rücksicht nehmen. Ein Mal wurde das Kind getroffen und fiel auch sofort der Länge nach hin. Danach war die Angst natürlich noch größer.
Sonst war es aber eine friedliche Zeit für das Kind, doch irgendwann hörte es das Donnern und Grollen in der Ferne. Jeden Tag kam das Geräusch näher und es wurde lauter. Der Bauer kaute auf seiner Pfeife und meinte," bald müssen wir die Erdbunker beziehen".
Nun wurden Vorräte in den Bunker gebracht , den Boden bedeckte man mit Decken und jeder bekam ein dickes Federbett.
Am nächsten Tag legte der Bauer seine Pfeife beiseite und sagte, "so, nun wird es zu gefährlich, wir müssen in den Bunker".
Das Kind fühlte sich in dem Erdloch eigentlich ganz geborgen und wäre zufrieden gewesen, wenn nicht all die Tiere draußen vor der dicken Türe der Gefahr ausgesetzt wären.
Die Kühe muhten, sie wollten ja gemolken werden, der Hund bellte wie verrückt und auch all die anderen Tiere hörte das Kind von Zeit zu Zeit. Erst in den Nächten wurden alle notdürftig versorgt, im Schutze der Dunkelheit. Auch die Toilette konnte nur im Dunkeln aufgesucht werden, und so war es für die großen Leute eine schwere, nein sehr schwere Zeit.
Im Morgengrauen warteten alle auf das Einsetzen des Donner grollen, aber eines guten Tages blieb alles still. Der Bauer kaute auf seiner kalten Pfeife und sagte, "ich geh jetzt raus". Er stieß die schwere Tür auf und alles blieb ruhig. Im Bunker hielten die Menschen den Atem an und warteten auf die Rückkehr des Bauers, was schrecklich lange dauerte.
Plötzlich jedoch wurde die Tür aufgerissen und er rief nur ein einziges Wort.
"Kapitulation"!
So schnell wie möglich verließen die Menschen das Erdloch. Das Kind atmete die köstliche, frische Luft und freute sich über den Sonnenschein.
Die großen Leute saßen alle vor dem Volksempfänger und hörten staunend, dass überall die Waffen schwiegen - der Krieg war endlich vorüber.
Noch am selben Tag sagte die Mutter zu der Bäuerin, "ich gehe nach Hause." " Wie soll das denn gehen", fragte die Bäuerin," es gibt keine Fahrzeuge, keine Straßen und auch keine Brücken mehr".
Nun muss man wissen, dass dieser Teil von Ostfriesland von unzähligen Kanälen durchzogen wird. Dies waren die Transportwege für den Torfabbau. Dass jede einzelne Brücke zerstört war, davon ging auch die Mutter des Kindes aus, aber sie beharrte störrisch darauf, sofort aufzubrechen.
Hastig wurden alle Sachen zusammen gesucht und einige Lebensmittel verpackt. Die Mutter trug einen großen Rucksack und das Kind einen kleinen. Der Kinderwagen war natürlich auch voll beladen, so dass das Kind zu Fuß würde gehen müssen. Bis nach Hause waren es ca. 100 km.
Es war ein sehr mühseliger und anstrengender Rückweg. Die Strapazen waren für die Mutter sicher sehr groß, denn die fehlenden Brücken über den Kanälen waren notdürftig mit ein paar Bohlen ersetzt worden. Und so musste die Mutter jeden Kanal mindestens drei mal überqueren. Zuerst brachte sie das Kind auf die andere Seite, dann das Gepäck aus dem Kinderwagen und zum Schluss den leeren Wagen und den schweren Rucksack.
Es gab so viele Kanäle und die Wanderung dauerte nun schon ein paar Tage. Manchmal dachte das Kind, nun kann ich nicht mehr, aber es sagte niemals auch nur ein einziges Wort. Wenn die kleinen Beine nicht mehr wollten, setzte es sich einfach auf den Boden , und dann musste die Mutter eine Pause einlegen, ob sie wollte oder nicht.
Zum Glück war das Wetter sehr schön. Die Sonne schien und die Vögel sangen, als wäre nichts geschehen. Aber der Rucksack wurde immer schwerer, die Beine immer müder, und das Kind musste immer öfter eine Pause einlegen. Die Mutter aber drängte zur Eile. Immer wieder fragte sie das Kind, "wie ist es wohl Papa ergangen, lebt er überhaupt noch"?
Irgendwann erreichten sie tatsächlich ihre Heimatstadt. Das letzte Stück gingen sie am Kanal entlang, der durch die Stadt führte. Dann die lange, lange Werftstraße, am alten Friedhof vorbei und dann konnten sie ihr Haus - ein Mietshaus für 7 Familien - sehen, und vor der Eingangstür, das Gesicht ihnen zu gewandt, stand, als hätte er sie erwartet, der Vater.
Es war geschafft! Eigentlich war es ein Wunder, das Kind war über 100 km gelaufen und doch gerade erst 5 Jahre alt geworden, aber es hatte den Grundstein für eine lebenslange Leidenschaft gelegt: "Das Laufen"
Kommentare (6)
Ela48
Erinnerungen sind so wichtig für uns..
Ich freue mich so sehr, das Du Deine Geschichten wieder einstellst.
Es zeigt mir Deinen Mut und die Bereitschaft neue Erkenntnisse, die du gewonnen hast, weiterhin umzusetzen..
Sich nicht unterkriegen zu lassen..
Deine letzte Geschichte zeigt sehr deutlich , woher Du diese Bereitschaft kommt, nicht aufzugeben.
Mein Vater war auch im Krieg. Er, Jahrgang 1926. Schwerkriegsbeschädigt kam er zurück. Neuanfang. Sein ganzes Leben hat ihn etwas begleitet: Die Bereitschaft Menschen zu helfen,
Er kam aus Köln und hat in sehr jungen Jahren viel erlebt. Diese Kriegsgeneration (sehr viele Überlebende) haben, sowie mein Vater, geschwiegen, um all das Leid, den Schmerz,nicht noch einmal erleben zu müssen.
Danke, ich werde Deine Geschichten weiter verfolgen, weil sie, wenn auch andere Erinnerungen, in mir wachrufen. DANKE!
liebe Grüße, Ela
Ich freue mich so sehr, das Du Deine Geschichten wieder einstellst.
Es zeigt mir Deinen Mut und die Bereitschaft neue Erkenntnisse, die du gewonnen hast, weiterhin umzusetzen..
Sich nicht unterkriegen zu lassen..
Deine letzte Geschichte zeigt sehr deutlich , woher Du diese Bereitschaft kommt, nicht aufzugeben.
Mein Vater war auch im Krieg. Er, Jahrgang 1926. Schwerkriegsbeschädigt kam er zurück. Neuanfang. Sein ganzes Leben hat ihn etwas begleitet: Die Bereitschaft Menschen zu helfen,
Er kam aus Köln und hat in sehr jungen Jahren viel erlebt. Diese Kriegsgeneration (sehr viele Überlebende) haben, sowie mein Vater, geschwiegen, um all das Leid, den Schmerz,nicht noch einmal erleben zu müssen.
Danke, ich werde Deine Geschichten weiter verfolgen, weil sie, wenn auch andere Erinnerungen, in mir wachrufen. DANKE!
liebe Grüße, Ela
oessilady
Deine geschichte hats du so erzählt daß man sie mit Schaudern miterleben kann.
Was für ein tapferes kleines Mädchen du doch warst in jenen Tagen.
Ich hoffe dein späteres Leben hat dir alles was du an Schlimmen erlebt hast im Guten vergolten. Es lief eben im TV die Flucht und so kann man sich das realistisch vorstellen,was diese Frauen mit ihren Kindern mitgemacht haben. Ich selbst habe von solchen Kriegserfahrungen nichts erlebt,aber viele Rußland Aussiedler älterer Generation haben auch ganz viele schlimme Erlebnisse dieser Art erzählt-nur weil sie das Pech hatten in Rußland Deutsche zu sein! So hat dieser unselige Krieg auf allen Seiten viel leid und Kummer über die Menschen hier und dort gebracht.Man möchte sich wünschen daß die Generationen unserer Enkelkinder solche Erfahrungen nicht machen müssen.
Was für ein tapferes kleines Mädchen du doch warst in jenen Tagen.
Ich hoffe dein späteres Leben hat dir alles was du an Schlimmen erlebt hast im Guten vergolten. Es lief eben im TV die Flucht und so kann man sich das realistisch vorstellen,was diese Frauen mit ihren Kindern mitgemacht haben. Ich selbst habe von solchen Kriegserfahrungen nichts erlebt,aber viele Rußland Aussiedler älterer Generation haben auch ganz viele schlimme Erlebnisse dieser Art erzählt-nur weil sie das Pech hatten in Rußland Deutsche zu sein! So hat dieser unselige Krieg auf allen Seiten viel leid und Kummer über die Menschen hier und dort gebracht.Man möchte sich wünschen daß die Generationen unserer Enkelkinder solche Erfahrungen nicht machen müssen.
indeed
ich möchte mich Beate anschliessen. Selber war ich noch zu klein, um mich an Kriegszeiten erinnern zu können. Wohl noch daran, dass die uns gegenüberliegende Schule noch einige Jahre nach dem Kriegsende als Krankenhaus genutzt wurde.
Liebe Grüße
Ingrid
Liebe Grüße
Ingrid
ehemaliges Mitglied
begleiten sie ein Leben lang. Wie gut, liebe Heidi, dass Du Deine Alpträume aufschreiben konntest!
Wer das nicht kann, der leidet ein Leben lang an diesen Erinnerungen. Und die jüngeren Menschen verstehen oft gar nicht, warum jemand so leiden muss. Viele Menschen, die zur Generation der Kriegskinder gehören, haben ihre traumatischen Erlebnisse jahrelang verdrängt, erst im Alter treten unerklärliche Symptome auf.
Bis vor einem Jahr wusste ich auch noch nichts von den Problemen der "Kriegskinder", obwohl ich mit einem verheiratet bin. Ich wünschte, er könnte das alles so aufschreiben wie Du, liebe Heidi!
Danke für Deinen Mut. Ich wünsche Dir, dass Deine Alpträume nun zu Ende sind!
Alles Liebe
Beate
Wer das nicht kann, der leidet ein Leben lang an diesen Erinnerungen. Und die jüngeren Menschen verstehen oft gar nicht, warum jemand so leiden muss. Viele Menschen, die zur Generation der Kriegskinder gehören, haben ihre traumatischen Erlebnisse jahrelang verdrängt, erst im Alter treten unerklärliche Symptome auf.
Bis vor einem Jahr wusste ich auch noch nichts von den Problemen der "Kriegskinder", obwohl ich mit einem verheiratet bin. Ich wünschte, er könnte das alles so aufschreiben wie Du, liebe Heidi!
Danke für Deinen Mut. Ich wünsche Dir, dass Deine Alpträume nun zu Ende sind!
Alles Liebe
Beate
tilli †
Wie gut,das unsere Kinder solche Erinnerung nicht haben.
Meine Generation hat sie noch. Die Kindheit vor Augen.
Die Angst,als sie in Wohnung kammen.Sie fanden Fotos
von Vater in der Uniform .Die Pistolen am Kopf meines Großvaters.
In russischer Sprache drängten sie in aus der Tür.
Also,es ist so schön,das meine Kinder und Enkelkinder,
solche Bilder nicht in ihren Kopf haben werden.
Hoffentlich wird auch die Zukunft nächster Genertionen,
in Frieden erleben.
Viele Grüße Tilli
Meine Generation hat sie noch. Die Kindheit vor Augen.
Die Angst,als sie in Wohnung kammen.Sie fanden Fotos
von Vater in der Uniform .Die Pistolen am Kopf meines Großvaters.
In russischer Sprache drängten sie in aus der Tür.
Also,es ist so schön,das meine Kinder und Enkelkinder,
solche Bilder nicht in ihren Kopf haben werden.
Hoffentlich wird auch die Zukunft nächster Genertionen,
in Frieden erleben.
Viele Grüße Tilli
Leider haben sie mich dann als erwachsener Mensch um so mehr überfallen. Das "Schreiben" allerdings ist eine großartige Hilfe. Endlich weiß ich, warum ich so bin, wie ich nun mal bin und habe mich damit abgefunden.
Liebe Grüße von Eurer
Heidi