1945: Eine Visite im Lazarett für die Besiegten
Meinen siebten Lebenssommer, den des Jahres 1945, verbrachte ich zu einem Teil in Falkenau, der Kreisstadt meines Heimatortes Liebauthal. Drehpunkt meiner Tage dort war ein düsteres Gebäude zwischen dem Stadtschloss und dem Marktplatz, der sogenannte „Amtshof“. Nach der Einnahme Westböhmens mit dem Egerland durch Panzerverbände General Pattons im Mai 1945 hatten die Amerikaner den gesamten Komplex requiriert und darin, neben militärischen Verwaltungsstellen und einem Nahrungsmittellager, eine Station für todkranke russische Kriegsgefangene eingerichtet. Diese zumeist an Tuberkulose leidenden Menschen waren beim Einmarsch der US-Truppen in Falkenau aus einem Kriegsgefangenenlager am Rande der Stadt aufgesammelt und hier her gebracht worden (der später berühmte amerikanische Regisseur Samuel Fuller hat als in Falkenau mit einrückender US-Soldat die Befreiung des Lagers gefilmt).
Meine Großmutter Marie Nehyba, damals eine resolute Frau um die 50, war kurz nach ihrer Entlassung aus deutschem Sanitätsdienst im böhmerwäldischen Babylon bei Taus von der US-Besatzungsmacht zur Pflege der russischen Patienten verpflichtet worden. Und dort in Falkenau besuchte ich sie dann des öfteren. Einige Ereignisse und Eindrücke aus dieser "Zeit zwischen den Zeiten", als formell zwar längst die Waffen schwiegen, die Wunden des Krieges aber noch vielfältig sichtbar waren, stehen mir mehr als sechs Jahrzehnte später noch immer lebhaft vor Augen. Wovon folgende Episode zeugen mag:
Ein warmer Tag neigte sich schon dem Abend zu, als die Großmutter mich einlud, sie hinaus vor die Stadt zu begleiten. Sie war gekleidet in ihre Schwesterntracht. Denn unser Ziel sollte ein Lazarett sein, das Lazarett für jene deutschen Soldaten, die noch bei Rückzugsgefechten mit der US-Armee verwundet worden waren. Neben der Sorge für die sterbenskranken Russen gehörte es nämlich auch zur Aufgabe der Schwester, die Pflege der blessierten Deutschen zu überwachen.
Nachdem wir die letzten Häuser Falkenaus in Richtung Kaiserwald hinter uns gelassen hatten, gerieten wir in eine Gegend, die ich als ödes Brachland mit Unkraut und Buschwerk in Erinnerung habe. Ein Gebäude allerdings, das meinem Bild von einem Lazarett entsprach, war weit und breit in dieser Wüstenei nicht auszumachen. Lediglich in einiger Entfernung eine Baracke, deren Zweck ich zunächst aber nicht erkannte. Erst als die Großmutter geradewegs das schäbige Bauwerk ansteuerte und, mich im Schlepptau, den Eingang an seiner schmalen Seite durchschritt, ging mir auf, dass wir tatsächlich am Ziel waren.
Als wir das Barackeninnere betraten, saßen oder lagen die Patienten auf den mit Weißzeug bezogenen Pritschen, die sich beiderseits des Längsganges dicht aneinander reihten. An Leinen, die sich von Balken zu Balken zogen, hingen Wäschestücke, zur Kühlung standen alle Fenster offen. Die Schwester grüßte, und sogleich scholl ihr ein vielstimmiges "Hallo" entgegen, vermischt mit Zurufen, die Freude über ihre Ankunft und Vertrautheit mit ihrer Person verrieten. Ihre Antworten wiederum bewiesen Geschick im Umgang mit verwundeten Soldaten. Jeder dieser geschlagenen "Landser" und "Kerle" - meine Großmutter sprach von Soldaten nur in diesem Jargon - durfte auf ihre Zuwendung und Fürsprache bei den Siegern zählen.
Indes, unsere Visite galt nicht allein den Männern in der Massenunterkunft. Durch eine Tür am Ende des Barackenmittelganges betraten wir einen Raum, in dem sich lediglich drei Betten, richtige Krankenbetten, keine Pritschen also, befanden. Von diesen Betten her aber wurden wir nicht fröhlich begrüßt. Statt dessen herrschte in diesem Zimmer eine geradezu spürbar unheilvolle Stille. Mit dem zunächst einzig sichtbaren Bettinsassen wechselte die Schwester leise ein paar Worte. Bei dem Gespräch muss es, das entnahm ich den Gesten, um den Patienten im Nachbarbett gegangen sein. Dessen Liegestatt fiel zunächst vor allem durch einen zeltförmigen Aufbau aus Tüll ins Auge. Was sich dahinter verbarg, wurde erst sichtbar, als die Schwester das Gewebe ein wenig zur Seite schob: das zerstörte Gesicht eines Menschen. Es ruhte unbeweglich auf einem Kissen und glänzte (nach meiner Erinnerung) lachsrot wie eine lackierte Maske. Später erst erfuhr ich, dass brennender Phosphor die Gesichtshaut des Unglücklichen abgelöst und so das Fleisch darunter bloßgelegt habe. Ein hoffnungsloser Fall und trotzdem nicht der schlimmste in dieser Schreckenskammer.
Den barg - im wahrsten Sinne des Wortes - die dritte Lagerstatt. Vollständig von einem feuchten Laken bedeckt, verdämmerte darin unter leisem, aber deutlich vernehmbarem Wimmern das Leben eines jungen Burschen. Die Ursache seines Unglücks kannte ich bereits, es war tagelang Gesprächsstoff auch in meinem Heimatort. Daraus war zu entnehmen, dass ein Halbwüchsiger aus der nahen Stadt Königsberg eine Granate geöffnet und dann ihr "Pulver" angezündet habe. Von einer "Stichflamme" war die Rede, die dem Buben die gesamte Vorderseite seines Körpers verbrannt habe.
Vom Fußende des Bettes her lüftete meine Führerin das Leintuch, unter dem sich schwach die Konturen des Patienten abzeichneten. Zum Vorschein kamen dabei zwei dünne Beine, die von den Fußrücken bis zu den Knien ein brauner Schorf bedeckte, wie von einer Schmutzschicht überzogen. "So sehen auch seine Brust und sein Kopf aus", flüsterte mir die Großmutter zu. Dann legte sie die schützende Hülle wieder sanft auf die versengten Glieder des Wimmernden. Und damit bricht meine Erinnerung an diesen Krankenbesuch ab.
Wenig später, ich war inzwischen wieder nach Liebauthal zurückgekehrt, fiel mir ein kleines Lastauto auf, das von Königsberg her vorbei an unserem Wohnhaus in Richtung Falkenau fuhr. Auf seiner Pritsche lag, mit Seilen befestigt, als einzige Ladung ein Sarg aus rohem, hellem Holz. Da mir zu Ohren gekommen war, dass der verbrannte Junge am Tag vorher gestorben sei, glaubte ich fest, das Auto hole ihn für seine letzte Fahrt. Und so mag es wohl auch gewesen sein.
Epilog:
Mehr als 50 Jahre vergingen nach meiner kurzen Begegnung mit dem unglücklichen, mir unbekannten Buben, ehe ich durch Zufall erfuhr, wer damals eigentlich unter dem Laken in der Lazarettbaracke lag. Es war Friedrich T. aus Königsberg an der Eger, das ältere von zwei Kindern des Ehepaares T. und mit noch nicht ganz 14 Jahren am 3. Juni 1945 seinen Brandverletzungen erlegen, die er sich etwa zwei Wochen zuvor beim Hantieren mit herumliegender Munition zugezogen hatte. Bei dem Unglück soll ein weiterer Bub ums Leben gekommen sein.
Siegfried Träger
Meine Großmutter Marie Nehyba, damals eine resolute Frau um die 50, war kurz nach ihrer Entlassung aus deutschem Sanitätsdienst im böhmerwäldischen Babylon bei Taus von der US-Besatzungsmacht zur Pflege der russischen Patienten verpflichtet worden. Und dort in Falkenau besuchte ich sie dann des öfteren. Einige Ereignisse und Eindrücke aus dieser "Zeit zwischen den Zeiten", als formell zwar längst die Waffen schwiegen, die Wunden des Krieges aber noch vielfältig sichtbar waren, stehen mir mehr als sechs Jahrzehnte später noch immer lebhaft vor Augen. Wovon folgende Episode zeugen mag:
Ein warmer Tag neigte sich schon dem Abend zu, als die Großmutter mich einlud, sie hinaus vor die Stadt zu begleiten. Sie war gekleidet in ihre Schwesterntracht. Denn unser Ziel sollte ein Lazarett sein, das Lazarett für jene deutschen Soldaten, die noch bei Rückzugsgefechten mit der US-Armee verwundet worden waren. Neben der Sorge für die sterbenskranken Russen gehörte es nämlich auch zur Aufgabe der Schwester, die Pflege der blessierten Deutschen zu überwachen.
Nachdem wir die letzten Häuser Falkenaus in Richtung Kaiserwald hinter uns gelassen hatten, gerieten wir in eine Gegend, die ich als ödes Brachland mit Unkraut und Buschwerk in Erinnerung habe. Ein Gebäude allerdings, das meinem Bild von einem Lazarett entsprach, war weit und breit in dieser Wüstenei nicht auszumachen. Lediglich in einiger Entfernung eine Baracke, deren Zweck ich zunächst aber nicht erkannte. Erst als die Großmutter geradewegs das schäbige Bauwerk ansteuerte und, mich im Schlepptau, den Eingang an seiner schmalen Seite durchschritt, ging mir auf, dass wir tatsächlich am Ziel waren.
Als wir das Barackeninnere betraten, saßen oder lagen die Patienten auf den mit Weißzeug bezogenen Pritschen, die sich beiderseits des Längsganges dicht aneinander reihten. An Leinen, die sich von Balken zu Balken zogen, hingen Wäschestücke, zur Kühlung standen alle Fenster offen. Die Schwester grüßte, und sogleich scholl ihr ein vielstimmiges "Hallo" entgegen, vermischt mit Zurufen, die Freude über ihre Ankunft und Vertrautheit mit ihrer Person verrieten. Ihre Antworten wiederum bewiesen Geschick im Umgang mit verwundeten Soldaten. Jeder dieser geschlagenen "Landser" und "Kerle" - meine Großmutter sprach von Soldaten nur in diesem Jargon - durfte auf ihre Zuwendung und Fürsprache bei den Siegern zählen.
Indes, unsere Visite galt nicht allein den Männern in der Massenunterkunft. Durch eine Tür am Ende des Barackenmittelganges betraten wir einen Raum, in dem sich lediglich drei Betten, richtige Krankenbetten, keine Pritschen also, befanden. Von diesen Betten her aber wurden wir nicht fröhlich begrüßt. Statt dessen herrschte in diesem Zimmer eine geradezu spürbar unheilvolle Stille. Mit dem zunächst einzig sichtbaren Bettinsassen wechselte die Schwester leise ein paar Worte. Bei dem Gespräch muss es, das entnahm ich den Gesten, um den Patienten im Nachbarbett gegangen sein. Dessen Liegestatt fiel zunächst vor allem durch einen zeltförmigen Aufbau aus Tüll ins Auge. Was sich dahinter verbarg, wurde erst sichtbar, als die Schwester das Gewebe ein wenig zur Seite schob: das zerstörte Gesicht eines Menschen. Es ruhte unbeweglich auf einem Kissen und glänzte (nach meiner Erinnerung) lachsrot wie eine lackierte Maske. Später erst erfuhr ich, dass brennender Phosphor die Gesichtshaut des Unglücklichen abgelöst und so das Fleisch darunter bloßgelegt habe. Ein hoffnungsloser Fall und trotzdem nicht der schlimmste in dieser Schreckenskammer.
Den barg - im wahrsten Sinne des Wortes - die dritte Lagerstatt. Vollständig von einem feuchten Laken bedeckt, verdämmerte darin unter leisem, aber deutlich vernehmbarem Wimmern das Leben eines jungen Burschen. Die Ursache seines Unglücks kannte ich bereits, es war tagelang Gesprächsstoff auch in meinem Heimatort. Daraus war zu entnehmen, dass ein Halbwüchsiger aus der nahen Stadt Königsberg eine Granate geöffnet und dann ihr "Pulver" angezündet habe. Von einer "Stichflamme" war die Rede, die dem Buben die gesamte Vorderseite seines Körpers verbrannt habe.
Vom Fußende des Bettes her lüftete meine Führerin das Leintuch, unter dem sich schwach die Konturen des Patienten abzeichneten. Zum Vorschein kamen dabei zwei dünne Beine, die von den Fußrücken bis zu den Knien ein brauner Schorf bedeckte, wie von einer Schmutzschicht überzogen. "So sehen auch seine Brust und sein Kopf aus", flüsterte mir die Großmutter zu. Dann legte sie die schützende Hülle wieder sanft auf die versengten Glieder des Wimmernden. Und damit bricht meine Erinnerung an diesen Krankenbesuch ab.
Wenig später, ich war inzwischen wieder nach Liebauthal zurückgekehrt, fiel mir ein kleines Lastauto auf, das von Königsberg her vorbei an unserem Wohnhaus in Richtung Falkenau fuhr. Auf seiner Pritsche lag, mit Seilen befestigt, als einzige Ladung ein Sarg aus rohem, hellem Holz. Da mir zu Ohren gekommen war, dass der verbrannte Junge am Tag vorher gestorben sei, glaubte ich fest, das Auto hole ihn für seine letzte Fahrt. Und so mag es wohl auch gewesen sein.
Epilog:
Mehr als 50 Jahre vergingen nach meiner kurzen Begegnung mit dem unglücklichen, mir unbekannten Buben, ehe ich durch Zufall erfuhr, wer damals eigentlich unter dem Laken in der Lazarettbaracke lag. Es war Friedrich T. aus Königsberg an der Eger, das ältere von zwei Kindern des Ehepaares T. und mit noch nicht ganz 14 Jahren am 3. Juni 1945 seinen Brandverletzungen erlegen, die er sich etwa zwei Wochen zuvor beim Hantieren mit herumliegender Munition zugezogen hatte. Bei dem Unglück soll ein weiterer Bub ums Leben gekommen sein.
Siegfried Träger
Anne