Zu Ehren des Menschen und Geistes Walter Jens


Zu Ehren
des Menschen und
Geistes
Walter Jens













Walter Jens (Aufnahme der Uni Potsdam. Januar 1996)







Ich werde hier drei unterschiedliche, ältere Arbeiten bzw. Texte einstellen, die um das Werk von Walter Jens kreisen (und die keinerlei Hinweis auf den Sohn Tilman Jens enthalten):


- Diese Beiträge sind in Arbeit und werden ergänzt. -


Prolog, als Zuhören in eine kleine, feine rhetorische Demonstration:

Jens, der informative und unterhaltsame Rhetoriker: Gespräch (in drei Teilen) u.a. über die „Kunst der Rede“. Sender Freies Berlin (SFB) 1998. Z. B. über die rhetorische Dreiheit: docere, delectare et mover...:

Walter Jens: unterhaltsam, überzeugend

Jens, Gespräch. 2. Teil

Jens...; 3. Teil


Wer über Rhetiorik theoretisch-informativ nachlesen will:

http://de.wikipedia.org/wiki/Rhetorik[/indent]




I. Die berühmte Kurzgeschichte von Walter Jens „Bericht über Hattington“



II. Die Judas-Figur in der deutschen Lyrik




III. Erinnerung an Walter Jens’ erzählerischen Monolog: "’Ich, ein Jud’. Verteidigungsrede des Judas Ischarioth"





* ~ *


I. Die Kurzgeschichte „Bericht über Hattington“ von Walter Jens

Schlusssatz der Parabel von Walter Jens:
[i]„Eines aber ist sicher: Es gibt nicht viele Leute in unserer Stadt, die frei sind von Schuld.“


Lieblingsgeschichten…? Ja, die habe ich. Etliche!

Eine vorangestellte Abschweifung...?

Die Beschäftigung mit dem Thema „Judas“ als lyrischem Motiv wurde ausgelöst durch den erzählerisch und theologisch revolutionären Monolog von Walter Jens aus dem Jahre 1975:

Zu einer Zeit, als in sogenannten geistlichen Traktaten, theologischen Wörterbüchern, Predigten und stereotypen Läster- und Päpstereien noch immer der Judas als die Inkarnation des Verräters und Vorbereiters und Mittäters des Gottesmordes gefeiert, nämlich als Verlorener der Glaubensgeschichte abgestraft wurde, hat Walter Jens Judas – den Verräter – als einen Einsamen und Verratenen dargestellt.

Das durfte ein Protestant, ein Philologe - ein Rhetoriker tun. Da für wurde man nach knapp dreißig Jahren Demokratie-Versuch in der BRD nicht mehr bestraft, außer mit Nichtachtung und dem üblichen Ideologie-Verdacht seitens Strenggläubiger, ob in Pfarrhäusern oder BILD- oder FAZ-oder Kirchenzeitungs-Redaktionen.


So beginnt er, der Böse an sich, zu erzählen:

JUDAS: Ja, das habe ich gesagt; es war so abgesprochen zwischen uns; ich befolgte seinen Befehl, er konnte sich auf mich verlassen. „Gegrüßet seist du, Rabbi" - das waren die vier Worte, die wir vereinbart hatten, wir beiden, er und ich, zum Zeichen, daß es kein Zurück mehr gab für uns, von nun an nicht mehr. Ich ging auf ihn zu, sehr langsam, beinahe bedächtig, er lächelte, ich küßte ihn, und wir umarmten einander. Wir beide: ein paar Sekunden lang ganz allein auf der Welt. (…)
(Aus: W.J.: Die Friedensfrau. Ein Lesebuch. Leipzig 1992: Reclam TB 1300. S. 6)



Diese Judas-Figur hat eine literarische Vorfigur, den Verbrecher Hattington. Ihn möchte ich hier vorstellen:

Diese Story hier habe ich bei Lesungen (ob in der Schule oder vor Gruppen oder in der Familie) nicht nur zu Weihnachten präsentiert, weil sie zwar eine Wintererzählung, aber eine die den Jahreswechsel und die neue Jahreszeit des klärenden, Entdeckung ermöglichenden Frühlings mit einbezieht.

Also klassisch eingeleitet mit dem alles in Frage stellenden Jahreswechsel; vom Schnee im November und der Schmelze im neuen Frühjahr - und von einem Verbrechen. Ein "Judas" scheint unterwegs zu sein... Die Schuldfrage im letzten Satz weist den Text als ein humanistisch-religiöses Dokument aus, wie es nicht viele gibt. Hier wird nicht eine kirchliche, sondern eine anthropologische, menschenrechtliche, eine psychologische Frage jedem Leser anvertraut.


Hier der Text der Parabel:


WALTER JENS: Bericht über Hattington


Der Winter kam in diesem Jahr sehr früh; schon Mitte November hatten wir 15 Grad Kälte, und in der ersten Dezemberwoche schneite es sechs Tage lang hintereinander; am fünften, einem Mittwoch, brach Hattington aus. Er hatte offenbar damit gerechnet, daß der Schnee seine Spuren verschluckte und diese Rechnung ging auf Die Hunde verloren die Witterung, und die Gendarmen kehrten noch im Laufe der Nacht nach Colville zurück. Am Morgen darauf wurde unser Polizeiposten verstärkt, und der Sergeant Smith bekam zwei neue Kollegen: man vermutete nämlich, daß Hattington versuchen würde, auf dem schnellsten Wege zu uns nach Knox zu gelangen; denn hier hatte man ihn, einen seit lange gesuchten Verbrecher, im Mai auf offener Straße verhaftet wahrscheinlich auf eine Anzeige hin, die von der Kellnerin Hope und dem Tankstellenwart Madison kam, bei denen Hattington in Kreide stand. Die Annahme lag also nahe, daß der Zuchthäusler, um Rache zu nehmen, zuerst nach Knox kommen würde.

Von nun an wohnte die Angst in unserer Stadt. Martha Hope verreiste für einige Wochen, Madison hatte den Revolver entsichert neben dem Bett. Aber auch wir anderen waren in Sorge: nach 1o Uhr abends verließ niemand sein Haus, die Kinder wurden von den Eltern zur Schule gebracht. Die Polizei durchkämmte jeden Winkel: kein Keller und kein Speicher, kein Schuppen und keine Baracke, die man nicht mehrfach durchsuchte; sogar die Kanalisationsschächte wurden überprüft. Doch obwohl sich nirgendwo auch nur die schwächste Fährte fand (kein Anzeichen einer Vermutung, geschweige denn eine handfeste Spur), wollte das Gerücht nicht verstummen, einer unter uns habe den Entkommenen, der nur auf seine Stunde warte, versteckt: einmal sollte es der Schankwirt Ellington, ein andermal der Zeitungshändler Bore, das dritte Mal ein zugewanderter Hausierer sein, der seine Waren zwischen Colville und Baxton verkaufte. Das Mißtrauen beherrschte die Stadt; anonyme Briefe wurden geschrieben; im »Colville Star« fand man geheimnisvolle Annoncen: ACHTET AUF BORE oder JUDAS ELLINGTON, WO WARST DU AM 4. DEZEMBER?
Erst als Weihnachten und Neujahr vorbeigingen, ohne daß das geringste geschah, begannen wir wieder Hoffnung zu schöpfen, zumal es jetzt hieß, ein reisender Weinhändler habe Hattington in einer kanadischen Kleinstadt, nahe der Grenze, gesehen. Martha Hope kehrte zurück; Madison verkaufte den Wachhund, in den Wirtschaften war wieder Hochbetrieb, und es hatte den Anschein, als ob unsere Bürger das wochenlang Versäumte in ein paar Tagen nachholen wollten. Die Fenster wurden entriegelt, Sicherheitsschlösser geöffnet, man hörte Lärm und Musik auf den Straßen, und die Maskerade im Saloon, ein Fest wie seit Jahren nicht mehr, dauerte bis gegen sechs Uhr früh.

Aber dann fand man plötzlich, am 11. Januar, unten am Fluß die Leiche von Emily Sawdy, und zwei Tage später wurde Helen Fletcher, ein vierzehnjähriges Mädchen, auf dem Schulweg von einem Maskierten in einen Hausflur gezerrt und in grausamer Weise mißhandelt. Hattington, daran (so glaubte man) gab es nun nichts mehr zu deuteln, war also doch in der Stadt ... Wer aber hatte ihn versteckt? Madison vielleicht, um sich freizukaufen', oder Martha Hope, weil sie erpreßt worden war? Schwarze Listen machten die Runde; Häuserwände und Gehsteige waren mit Verleumdungen bedeckt; und als am 1. Februar das Drei Männer Tribunal beauftragt wurde, das Leben jeden Bürgers genau zu durchforschen, begann eine Hexenjagd, die an die schlimmsten Zeiten denken ließ. Bald gab es kein Geheimnis mehr, das, von Schnüfflern entdeckt, nicht ans Tageslicht kam: Ehemänner, die einmal gefehlt hatten, sahen sich wie Verbrecher behandelt, harmlose Trinker wurden des Mordes verdächtigt; der Frauenverein ließ vor den Kino Vorstellungen Zettel verteilen, auf denen sich die Bürger ermahnt sahen, den Umgang mit gewissen Leuten, wenn ihnen das Leben lieb sei, zu meiden. Auf der anderen Seite mehrten sich gerade in diesen Tagen unter den jungen Leuten Unordnung und Zuchtlosigkeit. Während die Älteren ihre Häuser nach Möglichkeit nur noch zur Arbeit oder zum Kirchgang verließen, versammelten sich die jüngeren abends im Wirtshaus, tranken und johlten, pöbelten die Erwachsenen an und errichteten am Ende ein solches Schreckensregiment, daß wir ihrer nur mit Hilfe einer Art von Zivilpolizei, der Bürgerwehr, Herr werden konnten. Schließlich blieb kein anderer Ausweg, als die Rädelsführer kurzweg zu verhaften und dabei kam dann heraus, daß auch die schlimmsten Radaubrüder sich eher aus Furcht, eines Tages Hattingtons Opfer zu werden, denn aus Obermut zusammenrotteten. Das hat mir wieder einmal gezeigt, wie schnell die allgemeine Raserei im Schatten der Angst und des Schreckens gedeiht. Doch im Übrigen standen die Eltern, was den Verfall der Sitten betrifft, ihren Kindern nicht nach. Ich selbst habe Nächte erlebt, in denen man mich mehr als ein dutzendmal anrief, um mich mit verstellter Stimme zum Boykott angeblich verdächtiger Bürger zu zwingen.

Und dann kam jener 17. März, an dem man Madison erwürgt in seinem Zimmer fand: der Mörder hatte ihm ein Kainsmal auf die Schläfe gebrannt. Von diesem Tage an war es auch den Vernünftigen unter uns nicht mehr möglich, Geduld zu bewahren. Wer jetzt noch zur Besonnenheit mahnte und dem hysterischen Taumel zu begegnen versuchte, sah sich kurzerhand auf die Verdächtigen-Liste gesetzt und das hieß: eingeworfene Scheiben, zerschlagener Hausrat, Drohungen, Anzeigen, Prügel und Ferne. Nur ein paar Wochen noch, und es kam zu Tätlichkeiten unter den Bürgern. Schon Anfang April hatten Fanatiker eine Negerpuppe gelyncht, einige Tage später die Praxis des jüdischen Doktors zerschlagen. Nun ging man einen Schritt weiter: im Zeichen Hattingtons wurden alte, längst verjährte Rechnungen beglichen: Revolver, Messer und Knute regierten, und wer sich widersetzte, dem wurde zum Lohn mit Kreide ein H auf die Haustür gemalt: er ist ein Hattington Freund: ihr könnt mit ihm tun, was ihr wollt; niemand wird ihm beistehen wollen.

Im April hat dann sogar Reverend Snyder, einer der letzten besonnenen Männer kapituliert: von der Kanzel aus befahl er uns, den Mörder und seine Helfershelfer zujagen. Das war am Sonntag vor Ostern, am Tag darauf war die Macht des Winters gebrochen, und die große Schmelze begann. Die Sonne brachte alles an den Tag: am Karfreitag fand man Hattingtons Leiche, hundert Meter vom Zuchthaus entfernt. Weiter war er nicht gekommen, bei seinem Ausbruchsversuch im Dezember. Der Schnee hatte die Spuren verschluckt, der Eissarg seinen Körper geschützt.

Von diesem Tag an begann es still zu werden, hier bei uns in Knox. Wer es irgend ermöglichen konnte, zog weg. Emily Sawdys und Madisons Mörder aber wurde niemals gefunden, das Vergehen an Helen Fletcher nicht gesühnt. Nur ich habe einen bestimmten Verdacht, doch ich schweige, und sonst weiß niemand, wer der Täter war. Eines aber ist sicher: Es gibt nicht viele Leute in unserer Stadt, die frei sind von Schuld.

(Aus dem Buch von W. Jens: Herr Meister. Dialog über einen Roman. München 1963. S. 32-38. - Der parabolische Text steht in vielen Kurzgeschichten-Anthologien und Schullesebüchern; z. B. in: "Verteidigung der Zukunft". Deutsche Geschichten 1960 - 1980. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Dtv 1530. S. 126f. © Walter Jens, Tübingen)

Ja, dies ist eine meiner Lieblingsgeschichten, dieser seltene „Hattington“ von Jens…: und sie „gilt“ nicht nur zur Weihnachtszeit…
Sie ist zwar ein Wintererzählung, aber eine die den Jahreswechsel und die neue Jahreszeit des klärenden, Entdeckung ermöglichenden Frühlings mit einbezieht.
Vom Jahreswechsel; vom Schnee im November und der Schmelze im neuen Frühjahr - von einem Verbrechen... Die Schuldfrage im letzten Satz weist den Text als ein humanistisch-religiöses Dokument aus, wie es nicht viele gibt. Hier wird nicht eine kirchliche, sondern eine anthropologische, menschenrechtliche Frage jedem Leser anvertraut.


* ~ *

Wer mag, kann hier noch mitlesen:

Aufgabenstellung für Schpler oder Leseregruppen:

Zur Analyse des fiktionalen, erzählenden Textes „Bericht über Hattington“ von Walter Jens

Aufgaben für wenn wer nicht nur lesen, sondern auch sich im Verstehen üben will:

1. Kläre die Erzählhaltung und die Perspektive des Erzählers.

2. Erarbeite den Aufbau.

3. Beschäftige dich mit der zentralen Aussage.

4. Interpretiere die Jahreszeiten-, die Schnee-Metaphorik und die religiösen Assoziationen dieses Textes.

5. Darstellung der Parabel, warum sich die zentrale Aussage (Intention) aus der gegenseitigen Abhängigkeit von Erzählhaltung und Aufbau und sprachlichen Darstellungsmitteln erschließt.


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Interpretation folgt.



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Der Erzähltext ist inzwischen auch eingestellt in:

http://www.zeit.de/1963/36/Bericht-ueber-Hattington

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