Tod trifft Tödin:
Ivan Turgenjew und Theodor Weisenborn



Theodor Weißenborn:
Gespräch mit der Todin



Nun ist Herbst. Der Park ist schon totgesagt, und es bläst ein Wind, der treibt mich vor sich her, ähnlich wie vor sechzig Jahren, als ich, freihändig auf dem Fahrrad fahrend, meine Jacke öffnete und entfaltete wie ein Segel, das ich ihm rechts und links von mir vors Gebläse hielt, und er trieb mich dahin und immerfort geradeaus auf der fast schnurgeraden Chaussee von Kempen am Niederrhein bis Wachtendonk, Aldekerk, Geldern und Kevelaer. Den Wind im Rücken, lasse ich mich trudelnden, stolpernden Gangs durch die Kastanienallee dem Café zutreiben, mitsamt einigen frühverblichenen fahlgelben Blättern, einem zerknüllten Tempotaschentuch und einer nicht mehr ganz jungen Zeitung, ich fühle den steten, sanften Schub, der mir das Gehen erleichtert, fühle mich getragen, genieße es, lasse es zu, und so schiebt mich der Wind dahin, wohin ich will, öffnet mir auch noch die Tür zum Pavillon, und erst dort, um die Tür hinter mir zu schließen, muss ich mich ihm widersetzen.
Nicht Regen, aber ein feuchter Nebel weht durch den Park. Herbstlaub fällt von den Zweigen, wird schräg fortgewirbelt, lässt sich davontragen, von da nach dort, matt, widerstandslos, manche Blätter gleiten über die Lichtungen zwischen den Baumgruppen wie Vögel ohne Flügelschlag, und ich denke: tot. Tote Blätter, feuilles mortes, wie die Franzosen sagen.
Nicht viele Gäste sind hier. Vielleicht wegen des trüben Wetters. Ich sitze allein am Tisch, zwei oder drei der anderen Tische sind noch frei. Ich blicke durch die große beschlagene Scheibe, in die ich mit dem Ärmel eine klare Stelle gewischt habe, blicke hinaus, verrühre Zucker und Milch und habe nichts zu tun außer diesem: dem Verrühren der Milch und des Zuckers.
Und es ist nichts zu erwarten aber alles geschieht.
Aus der Tiefe des Parks, auf dem rötlichen Makadamweg, kommt eine hagere, große, ganz in Schwarz gekleidete Frau heran, die an einem schwarzen Stock mit waagerechter Krücke und schwarzem Gummifuß geht. Es ist ein Stock, wie Orthopäden ihn verschreiben. Sie geht sehr langsam, kommt nun auf den Eingang des Pavillons zu, und: la mort, denke ich, es ist die Todin.
Der Tod ist im Französischen weiblich, wie auch im Russischen, so dass es bei genauer Übersetzung "die Todin" heißen muss. Ich denke an Turgenjews Novelle von den "lebenden Gebeinen" und denke: das ist die Todin, die Lukerja erscheint, um ihr zu sagen, dass ihr Leben noch bis nach dem Petrifasten währt, und für eine Sekunde durchfährt mich das Gefühl der Zärtlichkeit des turgenjewschen Erzählers, die die Zärtlichkeit des erzählenden Iwan Turgenjew ist, und ich schließe die Augen und öffne sie erst wieder, wie eine Frauenstimme mich fragt, ob ich erlaube, dass man hier Platz nimmt.
Und wie ich aufblicke, sehe ich, dass die Todin da steht und sich setzen möchte. "Aber natürlich!" sage ich, und sie setzt sich, mit einiger Mühe, sie hatte einen Oberschenkelhalsbruch, sagt sie, aber es geht schon wieder, und nun sitzt sie mir gegenüber, traurig und alt und seufzt ich weiß nicht so recht, warum, aber, da bin ich sicher, ich werde es bald erfahren. Die Todin hat meine Gesellschaft gesucht. Vielleicht sucht sie Schutz. Was kann man da tun?
"Sie sind in Trauer?" habe ich behutsam gefragt.
Sie hat zum Fenster hingeblickt und gesagt: "Ich bin immer in Trauer."
Und als ich sie, wohl etwas verwundert, ansah, fügte sie hinzu: „Es sind so viele, wissen Sie."
"Ja, weltweit", sagte ich.
"Auch hier", sagte sie. "In jeder Sekunde. Bei jedem Ticken. Man kann es hören. Ich höre es immerzu. Vor allem des Nachts. In der Dunkelheit, wissen Sie."
"Die Geräusche sind dann lauter", sagte ich. "Ja", sagte sie. Sie trank ein Mineralwasser. Sie sah zum Fenster hinaus, lange Zeit, dann sagte sie: "Vergangene Nacht haben sie gleich zwei geholt."
"Wer hat wen geholt?" fragte ich. "Der Leichenwagen", sagte sie. "Zwei aus dem Heim. Aus dem Pflegetrakt. Nein, eine aus der Intensivstation. Aus der Geriatrischen."
Ich schwieg.
"Fast jede zweite Nacht", sagte sie. „Es geht im Aufzug runter. Auf der Bahre. Vom OP neben der Intensivstation direkt runter in den Keller. In den Kühlraum. Da werden sie eingesargt, und dann von der Tiefgarage aus raus und zum Friedhof."
"So viele?" sagte ich.
"Fast zweihundert jedes Jahr", sagte sie. "Totiens, quotiens. Soviele Zugänge, soviele Abgänge. Immer konstant. Sie machen es nachts, damit keiner etwas davon merkt. Das mögen sie nicht."
"Sie meinen die Heimleitung?"
"Nicht nur die. Auch die Ärzte. Sie mögen es nicht. Man soll es nicht sehen. Sie bringen sie heimlich runter und dann aus dem Haus. Immer des Nachts. Meistens gegen vier Uhr morgens."
"Und woher wissen Sie das?"
"Weil ich nicht schlafen kann. Ich stehe nachts auf und gehe umher. Durch den Flur. Vom Flurfenster aus, am Ende des Flurs, da kann ich die Ausfahrt der Garage sehn. Da fahren sie rein, und da kommen sie raus. Das Tor geht auf und zu, da hört man nichts, das geht ganz geräuschlos. Alles automatisch."
Ich habe nicht gewusst, wie ich die Todin hätte trösten können, und so habe ich geschwiegen. Vielleicht, dachte ich, vielleicht fällt mir noch etwas ein, dann sage ich es. Wenn ich das Gefühl habe, dass es stimmt und dass es ihr guttut.
Vielleicht hat es der Todin gutgetan, dass ich schwieg.
"Am schlimmsten ist es auf der Pflegestation", sagte sie. „Die Obstipation, wissen Sie. Sie werden ausgeräumt, so nennt man das. Entleert. Mit speziellen Löffeln. Man hört sie schreien. 'Sie quieken wie die Schweine', sagt die Schwester".
"Was soll man machen?" fragte ich.
"Ich weiß es nicht", sagte die Todin. "Vielleicht würden sie lieber hungern."
"Auch ver hungern?"
"Einige vielleicht. Ich selbst ganz bestimmt. Aber man fragt sie nicht, was sie wollen. Man zwingt sie zu leben."
"Nur ein lebender Patient ist ein guter Patient", sagte ich. "An den Toten verdient nur noch das Bestattungsgewerbe.
"Ich glaube, es ist eher das Prinzip", sagte sie.
"O je!" sagte ich, „Prinzipien machen mir Angst. Pascal hat gesagt: 'Übertriebene Tugenden werden zu Lastern'." "So ist es", sagte sie. Die Todin trauerte um die Lebenden und die Sterbenden, auf deren Wohl sie bedacht war, das sie gefährdet sah und zu dem sie gern beigetragen hätte, wären die Apparate und ihre Bedienungsmannschaften nicht mächtiger gewesen.
"Es ist die Lautlosigkeit", sagte sie, "die lautlose Gewalt, mit der sie alles ersticken. Indem sie das Sterben ersticken, ersticken sie das Leben."
Die Todin war Arztwitwe. "Mein Mann", sagte sie, „hätte sich nie zu so etwas hergegeben. Er hat immer gesagt: Es geht nicht darum, Jahre an das Leben zu hängen, sondern Leben in die Jahre zu bringen'."
"Das gefällt mir!" sagte ich.
Die Todin schwieg und fragte dann, aus einem Nachdenken heraus: „Was meinen Sie, wie ist das mit dem Leben nach dem Tod?"
Ich war überrascht. Das müsste sie selbst doch am besten wissen, dachte ich, so wie die Tage und die Stunden ihr bekannt sein mussten wie Lukerjas Tod nach dem Petrifasten. Aber: vielleicht will sie dich prüfen, dachte ich, und so sagte ich heiter: "Ich denke, wir kehren dahin zurück, von wo wir gekommen sind. Wenn das Seinsganze oder der Urgrund oder Gott eine Frau wäre, könnte man sagen: Wir regredieren in uterum."
"Das denke ich auch", sagte sie. "Das ist sehr hilfreich. So oder so ähnlich, mit anderen Worten, sage ich's auch, wenn mich jemand fragt."
Sie hat nicht meinen Rat, aber doch eine Bestätigung, eine Bestärkung, also eine Firmierung gesucht, dachte ich. Auch sie, die Todin, braucht eine Hilfe. Man muss der Todin zu Hilfe kommen wie der Gottheit, der Welt und dem Leben.
"Neulich, mitten in der Nacht, war's wie ein Blitz", sagte sie. „Ich hab gleich auf die Uhr gesehn, es war halb drei, und ich wusste: Jetzt ist es geschehn. Und als ich am andern Morgen in die Zeitung sah, da hab ich's gelesen: in der Nacht, genau um halb drei, war der Bundespräsident gestorben."
"Theodor Heuss", sagte ich.
"Nein. Carl Carstens", sagte sie.
"Carstens Bundespräsident?" sagte ich. "Da stimmt doch etwas nicht!"
Sie sah mich groß an und lächelte dann: "Nun ja", sagte sie, "wir haben wohl alle unsere kleinen Macken."
Da überlief's mich siedend: was ich verdrängt hatte, der Gedanke an meine Amnesie war wieder da. Oder sollte ich sagen: was hätte da sein müssen, was ich hätte wissen müssen, das war fort, war wie ein Loch, buchstäblich ein Loch in meinem Kopf, aber nicht in der Kalotte, sondern ein Hohlraum in ihrem Innern, darin nur ein Staub, ein Gebrösel noch war, vielleicht ein Gerinnsel oder ein Rest geronnenen Blutes.
Ich wünschte, die mündliche Prüfung in Geschichte wäre unterblieben. Ich war ohnehin in der Schule nie weitergekommen als bis zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung, war nach dem Abitur an die Front gekommen von dort hätte ich berichten können, aber Steffi hatte mich geschont und nicht gefragt, und mein Vater, der wohl auch Hohlräume im Kopf hatte, war nur neugierig gewesen, zu erfahren, ob die Kathedrale in Minsk noch stehe, und hatte ästhetisierend von den Sonnenuntergängen am Paipussee (oder war's am Ladogasee?) geschwärmt.
Nun war ich ein Krüppel, eine halbe Portion, und auch das Tempo, in dem ich die Schachaufgaben gelöst hatte, die der Zivi für mich gesammelt hatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Zu derlei isolierten Leistungen waren auch Schwachsinnige mittleren Grades fähig, die konnten manchmal im Kopf siebenstellige Primzahlen ausrechnen.
Die Todin hatte sich freundlich verabschiedet, hatte mir die Hand gegeben und war gegangen.
"Auf Wiedersehen!" hatte sie gesagt.
Das Gespräch mit der Todin war angenehm gewesen, und mit dem Gefühl einer sanften, nicht schmerzlichen, eher wehmütigen Trauer war ich zurückgeblieben, ihr nachblickend, wie sie auf dem feucht dampfenden Makadamweg davonging in Richtung des Hauses und in der Tiefe des Parks, fern am Ende der Allee, in weißlichem Nebel verschwand. Ich hatte das Gefühl, ihr nachgehen, sie einholen zu müssen, um von dort, wo sie meinem Blick entschwunden war, zurückzuschauen auf mich selbst, der ich hinter ihr zurückgeblieben war oder vor dem ich davongelaufen war, der mich einzuholen suchte und auf den ich nun wartete wie auf einen Verlorenen, nach dem ich mich sehnte und den ich hätte in die Arme schließen mögen wie Steffi, die mir vorausgegangen war dahin, von wo wir gekommen waren, der ich folgte, um sie einzuholen, und die mich erwartete, vielleicht nach dem Petrifasten.


*

(Zuerst als Teil des Aufsatze "Die Todin und der Tod" in: Religion heute. Heft 56/Dezember 2003. S. 257f.)
Vgl.:
Aufsatz über die "Todin" und der "Tod"

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Erläuterungen:

Städtenamen am Niederrhein = mit dem Zentrum des Wallfahrtsortes Kevelaer, die die an Amnesie leidende erzählende Er-Person als Jugendlicher kennen lernte.

Petrifasten = Begriff in der christlichen Orthodoxie, nach Quintus S. F. Tertullian als einer besonderen Form des mit Zitaten belegten Petrifastens; vgl. den Begriff bei Tertullian: ÜBER DAS FASTEN. Gegen die Psychiker.

Turgenjew = S. den Ausschnitt aus diesen Novellentext, aus "Aufzeichnungen eines Jägers" (1852); hier im zweiten Teil wiedergegeben.

Löffel = Ausschabeinstrument bei Obspitationen.

regredieren in uterum = psychoanal. Begriff für die Vorstellung der Trans- als Regressio post mortem (also die Rückkehr in eine transzendentale“ Gebärmutter“ als mögliche Erklärung des Weiterlebens und der Jenseits-vorstellungen)

Knochen = veränderte Wiedergabe von "Rückgrat" (dem Krankheitsgebiet der jungen Frau bei Turgenjew), bzw. Knochengerüst?

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Dieser Kurzgeschichte unseres Zeitgenossen und Autors Theodor Weißenborn liegt wirklich eine klassische Erzählung aus der russischen Dichtung zugrunde: Ivan Turgenjews "Die lebendige Reliquie", aus seinem Erzählband "Aufzeichnungen eines Jägers" (1852).

Vorbemerkung:
Der Begriff "Knochen", den der leicht amnesierende Erzähler gebraucht - ob er wirklich in einer Übersetzung, in einem Titel gegeben ist? Die mir bekannt gewordenen Übersetzungen bieten alle "Die lebendige Reliquie":

Zum Inhalt der Novelle: Zu seiner Überraschung wird der Erzähler, der Arzt Pjotr Petrowitsch, der sich auf der Jagd befindet, von seinem begleitenden Führer auf das abgelegene Gut Alexejewka geführt, das seiner (des Arztes) Mutter gehört und das er seit seiner Jugend nicht mehr betreten hat. Bei einem morgendlichen Spaziergang gerät er auf einen abgelegenen Fußweg.



Iwan Turgenjew:
„Die lebendige Reliquie“ (Ausschnitt):

Ich schlug diesen Pfad ein und erreichte den Bienengarten. Neben diesem befand sich ein kleiner Schuppen aus Flechtwerk, wie er zum Einstellen der Bienenkörbe für den Winter dient. Ich blickte in die halbgeöffnete Tür hinein: Es war darin dunkel, still, trocken; es roch nach Minze und Melissen. In einer Ecke war eine Pritsche angebracht, und auf dieser lag unter einer Bettdecke eine kleine Gestalt ... Ich wollte schon weitergehen ...
"... Herr, Sie, Herr! Pjotr Petrowitsch!" rief eine Stimme, schwach, langsam und tonlos wie das Rascheln von Riedgras im Sumpf.
Ich blieb stehen.
"Pjotr Petrowitsch! Kommen Sie bitte her!" wiederholte die Stimme. Sie kam aus der Ecke, von der Pritsche, die ich bemerkt hatte.
Ich kam näher und erstarrte vor Verwunderung. Vor mir lag ein lebendiges menschliches Wesen; aber was war denn das?
Der Kopf war vollkommen ausgetrocknet, einfarbig, bronzen, genau wie auf einer alten Ikone; die Nase schmal wie die Schneide eines Messers; die Lippen fast unsichtbar; ich konnte nur die weißschimmernden Zähne erkennen, die Augen und einige dünne Strähnen der Haare, die unter dem Kopftuch auf die Stirn fielen.
Auf einer Falte der Bettdecke neben dem Kinn bewegten sich langsam zwei winzige, gleichfalls bronzene Hände mit spindeldürren Fingern. Ich sehe genauer hin: Das Gesicht ist nicht nur nicht abstoßend, es ist sogar schön, doch schrecklich und ungewöhnlich. Und dieses Gesicht erscheint mir um so schrecklicher, als ich sehe, daß sich ein Lächeln vergebens bemüht, sich auf den metallenen Wangen auszubreiten.
"Sie erkennen mich nicht, Herr?" flüsterte wieder die Stimme; sie verdampfte gleichsam auf den sich kaum bewegenden Lippen. "Wie sollten Sie mich auch erkennen! Ich bin Lukerja ... Erinnern Sie sich noch, dieselbe, die bei Ihrer Frau Mutter zu Spaßkoje den Reigen anzuführen pflegte... erinnern Sie sich noch? Ich war immer die Vorsängerin im Chor."
"Lukerja!" rief ich aus. "Bist du es? Ist es möglich?" "Ja, ich bin es, Herr. Ich bin Lukerja."
(...)
"Dann hatte ich auch noch diesen Traum", fuhr Lukerja fort. "Ich sitze unter einer Weide an der Landstraße, habe ein geschältes Stöckchen in Händen, einen Sack auf dem Rücken, und mein Kopf ist mit einem Tuch umbunden ich sehe ganz wie eine Pilgerin aus! Und ich muß irgendwo weithin wallfahren. Lauter Pilger kommen an mir vorbei; sie gehen langsam, wie widerwillig, alle in die gleiche Richtung; sie haben alle traurige Gesichter und sehen sich alle ähnlich. Und ich sehe: Eine Frau, die um einen ganzen Kopf größer ist als alle und so merkwürdig, gar nicht russisch gekleidet, wirft sich zwischen ihnen hin und her. Auch ihr Gesicht ist so merkwürdig vom Fasten ausgemergelt und streng. Alle anderen weichen ihr aus; sie aber geht plötzlich auf mich zu. Sie bleibt stehen und sieht mich an; ihre Augen sind aber so gelb wie die eines Falken, groß und seltsam hell. Ich frage sie: 'Wer bist du?' Und sie antwortet mir: 'Ich bin dein Tod.' Statt zu erschrecken, bin ich so furchtbar froh und bekreuzige mich. Und jene Frau, das ist mein Tod, sprich zu mir: 'Du tust mir leid, Lukerja, aber ich kann dich nicht mitnehmen. Leb wohl!' Mein Gott, wie traurig wurde es mir da ums Herz..! 'Nimm mich mit', sage ich ihr, 'Mütterchen, liebes Täubchen, nimm mich mit!' Und die Frau wandte sich zu mir um und redete mir zu ... Ich verstand nur, daß sie mir meine Stunde bestimmte, aber sie sprach so undeutlich ... 'Nach den Petrifasten', sagte sie mir ... Da erwachte ich ... So sonderbare Träume habe ich immer!"
Lukerja hob die Augen zur Decke ... wurde nachdenklich ...
"Aber mein Unglück ist, daß ich oft eine ganze Woche nicht einschlafen kann. Im vorigen Jahr kam hier eine Dame vorbeigefahren; sie sah mich und gab mir ein Fläschchen mit einer Arznei gegen die Schlaflosigkeit; sie sagte, ich soll jedesmal zehn Tropfen nehmen.
Die Tropfen halfen mir gut, und ich konnte schlafen; jetzt ist aber das Fläschchen leer ... Wissen Sie nicht, was es für eine Arznei war, und wie ich sie mir verschaffen kann?"


[Der Arzt vermutet, dass die mitleidige Ärztin Opium gab und nimmt sich vor, auch mit einem solchen Medikament zu helfen; doch die Novelle endet anders:]

Einige Wochen später erfuhr ich, daß Lukerja gestorben war. Der Tod hatte sie also doch geholt ... und sogar "nach den Petrifasten". Man erzählte, sie habe an ihrem Sterbetag immer Glockenläuten gehört, obwohl die Kirche mehr als fünf Werst weit von Alexejewka lag und es ein Wochentag war. Lukerja hatte übrigens gesagt, das Läuten sei nicht von der Kirche gekommen, sondern "von oben". Wahrscheinlich wagte sie nicht zu sagen: vom Himmel.

*
(Übersetzt von Alexander Eliasberg; aus dem Jahre 1929; hier abgedruckt nach „Die wirkliche Welt“. Realistische Erzähler der Weltliteratur. Eine Anthologie. Hrsg. von Hermann Kesten. Frankfurt/M. 1963. S. 19 - 31.

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