Wilder Schnittlauch


WILDER SCHNITTLAUCH
 
Die Winterwochen rannen dahin, zäh wie die Träume einer alternden Dame am Hof der Königin, die ihre besten Jahre schon lange Zeit hinter sich gelassen hat. Ein bisschen deprimierender Regen, hin und wieder leichter Frost, mehr nicht. Ein Schatten breitete sich über meine Seele. Ich war sehr einsam. Nebel wallte von den Bergen der Highlands und füllte das Gemüt der Menschen am Fluss, vor den Kaminen und in der schlechten Luft der Pubs, in denen der Alkohol das Glück der Familien zum Erliegen brachte. Die Schafhirten und die Bergbauern schauten zum verhangenen Himmel hinauf, hielten die Nase in den salzigen Wind, ihnen war klar, dass ihnen noch schlimme Tage bevorstanden, bevor die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne die Knospen der zarten Blätter und jungen Blüten aus ihrem winterlichen Schlaf wecken würden. Unendliche Sehnsucht nach dem trauten Anblick der anmutigen Hügel von Cornwall durchdrang meine empfindsame Seele.
Die Zeiger der alten Standuhr aus Mahagoni – mein allzu früh dahingegangener Großvater brachte sie eines glücklichen Tages einst  von dem Gestade einer fernen Kolonie in die heimelige Stube und gab ihr dort eine neue Heimat - rückten gegen fünf vor, und draußen ging der  trübe Nachmittag sichtbar in beinahe nächtliches Dunkel über. Nichts auf der Welt ist so anstrengend, fand Camilla Dryfood, wie nichts zu tun zu haben. Es ist unendlich viel anstrengender als zuviel zu tun zu haben, und dieser an ihren Nerven zehrende Tag war ein klassisches Beispiel für die spätjüngferliche Tristesse einer alternden Verkäuferin in einem alteingesessenen Modegeschäft in der Oxford Street im Schatten alter Damenhüte. Auch ein kräftiger Schluck „Beefeater“ aus dem Wasserglas unterhalb der Theke konnte Herz und Gemüt von Camilla Dryfood nicht aufhellen, zu tief härmte ihre betrübte Seele. Sie zog „Wilder Schnittlauch“, das neueste Buch der Erfolgsautorin Rosalinde Knilcher aus einer Schublade, setzte sich auf einen Stuhl nahe der Flasche und begann, die Zeit, bis das Geschäft schließen würde, sich mit der Lektüre zu verkürzen. Sie las.
 
In diesem Augenblick traf sie wie die Keule eines ausbrechenden Schicksals sein ausströmender Mundgeruch: wilder Schnittlauch mit einer unangenehmen Beinote von überlagertem Salzhering. „Warum nur“, durchfuhr es sie wie ein unerwarteter Blitz im Moor von Wifechester, „warum nur habe ich nicht auf den Rat meines Vaters gehört, der mir von Beginn meiner Pubertät an einschärfte: Lass nie einen Mann so nahe an dich heran, dass du die Marke sein es bevorzugten Whiskys riechen kannst.“ Jetzt war es zu spät.
Lady Dorothee Windsear wurde von heftigem Verlangen gepackt, ihre zarten Brüste wieder in der schützenden Hülle ihres in traditioneller Machart aus schottischer Schafswolle gefertigten Büstenhalters zu bergen; in einem heftigen Aufwallen geschlechtsbezogener Gefühle hatte sie ihn hastig abgestreift. Sie quälte sich mit Selbstvorwürfen. Hätte sie doch ihre mit sparsamen Blumen bestickte Bauernbluse nicht ausgezogen! Zu diesem Zweck hatte sie doch nicht ihre Hände sorgfältig manikürt und ihre wässrigen Augen mit reichlich Mascara umrahmt. Bittere Sorgen ließen ihre Stirn mit Falten umwölken. Widerwille durchdrang die Welt ihrer Gefühle gegen  die groben Hände des Landlords mit ihren behaarten Fingerrücken, die so unelegant ihr Werk verrichteten. Mit errötenden Wangen gehorchte sie dem Ruf ihres Herzens.
„Bitte Henry, Earl of Kleenex,“, seufzte Dorothee Windsear mit gebrochener Stimme, die die Befindlichkeit ihrer verletzten Seele widerspiegelte, „bitte missbrauchen Sie den jungen Frühling in den sanften Hügeln der Highlands nicht dazu, einer von einem harten Schicksal getroffenen Lady Ihren starken Willen noch weiter aufzudrängen, als er schon vorgedrungen ist.“
 
In diesem Augenblick musste Camilla Dryfood das Lesebändchen in ihre Lektüre einfügen, denn Georgia Mc’Kaifee, eine alte Kundin, trat über die Schwelle der bleiverglasten Tür zum Laden.
 
(Persiflage nach R. Pilcher)


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