Wie blöd kann man sein?


Wie blöd kann man sein?
Ich fasse es nicht. Es ist gleich halbzwei und ich soll also hierbleiben und den Rest fertig machen. Ist das überhaupt erlaubt? Meister Johann hat mir gesagt, dass er zu einer dringenden Sitzung muss.
        Pah, dringende Sitzung. Sonnabend nachmittag, was kann da schon dringend sein. Und überhaupt: Sitzung! Was das wohl für eine Sitzung sein soll. Aber, wie sagt meine Mutter immer: »Was du nicht weißt macht dich nicht heiß!«
Leicht gesagt, man macht sich ja seine Gedanken, oder? Wie meinte Lotte, die Enkelin von Johann neulich?
»Ich glaube, der Opa hat ...!«
Mehr hat sie leider nicht gesagt, schade. Hätte zu gern gewusst, was er denn hat?
        Na gut, es ist eben halbzwei und ich hab noch vier Stunden Arbeitszeit. Der Fußboden im Wohnzimmer des Neubaus muss lackiert werden. Ich darf das allein machen. Hat Meister Johann gesagt! Und: Es wäre eine Ehre! Ich werde also honoris causa diese Tätigkeit hinter mich bringen. Ist ja eigentlich etwas, das ich gern mache, man kann so schön dabei träumen.
Habe den klaren Bootslack schon angerichtet, 5% reines Terpentinöl und 5% Sikkative zum Trocknen. Das wird ein Super-Anstrich. Sag mir nicht, das wäre zu teuer! Herr Gewerbeoberlehrer Vollmer hat uns das so empfohlen. Das ist ein Anstrich, der hält mindestens dreißig Jahre!

        Also, dann auf ihn mit Gebrüll! Der Lacktopf ist fast voll, hab mir noch ein Kissen besorgt, - nee, nicht zum Schlafen - für die Knie natürlich. denn 40 Quadratmeter Eichenholzfußboden sind doch ganz schön anstrengend, wenn man die auf den Knien bearbeiten muss; der breite Lackierpinsel tritt in Aktion und »auf geht’s!«
      Macht richtig Spaß. Klar, der Lack ist ziemlich zähe, ich muss ihn ja auch gut einarbeiten, damit die Grundierung ihn aufnimmt. Und der Geruch: Ich liebe diesen Terpentin und Lackgeruch, er spornt mich richtig an.
Aus meinem kleinen Kofferradio klingt das Samstags-Wunschkonzert des NWDR. Ich habe es auf dem Heizkörper abgestellt. Nein, nicht den NWDR, das Radio natürlich. Ich summe und pfeife fröhlich mit:
»Vaya con dios, my darling, vaya con dios my love ...«
        Ist das nicht schön, so ganz allein weit ab der Stadt auf einem einsamen Neubau zu sein, seine Arbeit zu tun, zu singen und Meister Johann einen guten Mann sein lassen. Es ist kurz vor Vier; ich habe die letzten vier m² vor mir, dann ist Feierabend. Plötzlich erstarre ich - wie einstmals Lot im Alten Testament! Ich fasse an meinen Kopf. Der ist zwar noch da, wie aber kann ein einzelner Mensch so blöd sein? Wie ist das möglich? Gibt es da ein Rezept gegen solch eine Dummheit?
        Warum ich an mir selber zweifle, willst du wissen?
Na - das ist ganz einfach: Ich habe meine Lackierarbeiten an der inneren Längsseite des Raumes angefangen. Du ahnst schon was? Genau, das ist die Seite, an der sich auch die Tür befindet! Nun, kurz vor dem Ende, sitze ich vor dem Fenster und bearbeite die letzten Meter!
Ich komme nicht mehr aus diesem Raum heraus! Ich habe mich selbst eingesperrt, denn durch den Lack zu latschen - das wäre ja wohl eine Unmöglichkeit, die viele, viele Stunden Arbeit nach sich ziehen würde.
        Gottlob ist das Fenster meine Rettung! Die letzten Pinselstriche, so halb über dem Fensterrahmen hängend, werden noch mit Ach und Krach erledigt und dann sitze ich draußen vor dem Fenster auf meinem Hosenboden.
Lys Assia singt drinnen auf der Heizung noch
Oh mein Papa - und ich versuche verzweifelt, durch die Haustür nach innen zu gelangen, um meine Jacke zu holen. Aussichtslos, da der Türknopf nur von innen zu öffnen ist.
        Mein Fußweg von Emden-Außenhafen zur Werkstatt dauert eine halbe Stunde, da nun meine Zugverbindung nach Hause auch eine illusorische Zeit angenommen hat, sind nochmals vierzig Minuten Fußweg fällig.
Mutter empfängt mich mit den Worten »Wo warst du denn so lange?«
Ich sage nichts mehr.
Vorsichtshalber ...

(©by H.C.G.Lux)
 

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Kommentare (10)

protes

hallo horst,
es gibt so viele solche geschichten
erinnere dich an den der auf dem ast absägte
auf dem er saß
und irgendwie  sind sie so menschlich
danke für deine geschichte
und herzlichen gruß 
hade

Pan

Es war ein ziemlich dicker Ast, damals, und ich fiel regelrecht in - 
lassen wir das ...
meint mit einem Lächeln
Horst

ehemaliges Mitglied

Das hast Du herrlich erzählt, lieber Horst! Und Du wirst so eine Geschichte kein zweites Mal vollbracht haben. Ich habe richtig lachen müssen!! Danke.

Lieben Gruß von Uschi

Pan

Nein, so etwas Dummes nicht - aber ähnliches, dass sicher großes Unheil angerichtet hätte, wenn der berühmte Schutzengel seine Schwingen nicht ausgebreitet hätte.
Aber das stell ich hier besser nicht hinein.
 Grüße von
Horst

Bücherwurm

Ich bin zwar handwerklich nicht so begabt, aber das hätte mir auch passieren können.
Ich habe diese Geschichte gern gelesen, schon weil sie humorvoll und frisch geschrieben ist.
Brigitte

Pan

Ja Freunde - ich hab daraus gelernt!
Ich streiche seitdem nie wieder einen Fußboden ...
So ein kleiner Handwerkerlehrling musste 1950 halt
alles lernen, auch mal rückwärts ...
meint lächelnd
Horst
 

Syrdal


Wer weiß, lieber Pan, wo deine Gedanken waren. Aber auf diese Weise hast du wenigstens das „Fensterln“ nach Art der Bayern rückwärts geübt, allerdings ohne das hübsche „Dirndl“. Hast vielleicht auf dem langen Heimweg die Sache zum Aufwärmen in umgekehrter Richtung durchdacht…

Na denn, auf in den frischen Lack und heitere Sonntagsgrüße
Syrdal
 

Komet

Herrlich lieber Pan........ich habe Deine Geschichte mit einem Schmunzeln gelesen.

Herzliche Sonntagsgrüße an Dich und Ingrid.

Komet/Ruth

Roxanna

Bei dieser Geschichte musste ich an den Spruch denken: Ein Unglück kommt selten allein. Aber, er wird aus dieser Erfahrung gelernt haben, das vergisst er nicht mehr. Lernen wir nicht aus unseren Fehlern am meisten und nachhaltigsten 😉?

Herzlichen Gruß und einen schönen Sonntag wünscht

Brigitte

Distel1fink7

"Wo warst Du so lange " kenne ich. Einmal hab ich es versucht zu erklären,
ging nicht gut aus. Ich glaube, der Frager will es gar nicht wissen, ist nur
ein Vorwurf. Eine Antwort könnte ja unbequem sein und endet vllt. mit
" Du lügst ja, kann nicht sein." Und was nicht sein kann, ist  eben
auch nicht.
Meine Enkelin 3 Jahre wusste   schon die Lösung  und sagte zu mir
"Omalin, nicht fragen, besser iss. "


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