WENN DER WINTER WEICHT
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Eis
oder
Manuela muß mal wieder mit allem allein fertig werden
Eine Wintergeschichte für Berliner Kinder
Von
Xenia D. Cosmann
Masern sind blöd. Die paar Tage mit dem Fieber sind ja noch ganz leicht zu überstehen – aber dann! Das Wort, das Mutti dafür findet, heißt Quarantäne und sie erzählt auch eine spannende Geschichte über die im Hafen liegenden Schiffe dazu. Das braucht sie gar nicht. Manuela kennt viele Seefahrer Geschichten aus der alten Zeit und daher auch das Wort Quarantäne. Manuela sagt schlicht Langeweile und recht hat sie, denn mit dem Lesen und dem Gucken auf den Bildschirm soll sie sich zurück halten. Es gibt kein Fernsehen, kein Internet, keine neuen Geschichten... Die Winterferien kommen gleich. Es sind auch nicht mehr viele Hausaufgaben zu machen. Dafür hagelt es sicher Klassenarbeiten für die Zeugnisse. Gut, daß es die nicht mehr wie zu Muttis Schulzeiten noch vor Weihnachten gibt! Nicht, daß Manuela sich jemals Sorgen um irgendein Zeugnis gemacht hätte. Aber die andern... Manuela fallen eine ganze Menge Jungs ein und sogar ein Mädchen, die faule Marie, Pechmarie.
Manuela hat ganz andere Sorgen und die sitzen jetzt in der leeren Wohnung gefährlich nahe am Rande der Träume, der Tagträume und der Alpträume des Nachts.
Manuela wußte gar nicht, daß sie gern zur Schule geht! Ich muß eben immer erst etwas vermissen, ehe ich weiß, was ich will. Das hat Manuelas Vater gesagt, als er sich von ihr verabschiedet hat. Und dann noch: Ich muß, Manuela, ich muß! Manuela mag keine halben Sätze. Der Satz hätte anschließend weitergehen müssen, mit weil zum Beispiel oder obwohl oder trotz. So, wie Muttis Sätze immer richtig zu Ende gehen: Dein Vater muß weg, weil er ein neues Leben beginnen will. Er hat einen Fehler gemacht. Auch Erwachsene machen Fehler. Jeder Fehler rächt sich! Leider nun auch an dir.
Ich habe den Fehler doch nicht gemacht, ich doch nicht. Manuela hat verzweifelt versucht, nicht zu weinen. Muttis traurige Augen waren Grund genug. Manuela hat fragen wollen, ob der Vater in den Knast muß. Aber erstens drückt man sich nicht so aus wie im Krimi, zweitens glaubt Manuela das eigentlich auch nicht und drittens waren da immer noch Muttis traurige Augen... In dieser Minute hatte Manuela einen glänzenden Einfall: Dann muß ich mir ja die Zöpfe abschneiden, damit alle Einbrecher denken, es ist noch ein Mann im Haus, wenigstens ein angehender.
Mutti lächelt wieder. Manuela hat einen Struwwelkopf wie Karl aus der letzten Bank. Das Haus jedoch ist verkauft. Mutti hat Vaters Schulden bezahlt. Vaters Geschäfte waren nicht in Ordnung. Vater arbeitet jetzt irgendwo in Amerika. Aber alle müssen neu anfangen, nicht nur der Vater. Vielleicht habe ich auch einen Fehler gemacht, denkt Manuela oft. Mutti denkt es auch. Manuela sieht das. Mutti sagt nichts, nie!
Manuela hat nun einen weiten Schulweg. Sie macht ihn noch ein kleines bißchen länger, weil sie nicht mehr an dem alten Haus vorbei will. Es ist ein schönes zweistöckiges Haus aus der Zeit von Muttis Urgroßvater. Es ist rosa und weiß verputzt. Vorn sind runde Giebel zu bewundern, die über alte Eiben ragen und hinten ist nur noch Garten. Und überall ist viel Platz, drinnen und draußen. Wenn Manuela aus dem Bus aussteigt, geht sie sofort rechts um die Ecke. Die Seitenstraße schlängelt sich ein bißchen um mehrere Grundstücke herum, sodaß Manuela nach einer Weile an der Schule am Ende der Hauptstraße heraus kommt. Die Straßen enden nicht an der Schule, sondern an den Bahngeleisen. Manchmal, denkt Manuela, manchmal kann man nur noch wegfahren, weil alle Wege irgendwo enden.
Manuela mag gern weit reisen. Geht aber nicht mit Masern. Die Wohnung ist still und leer.
Vor dem Fenster fällt Schnee. Er macht die Welt noch leiser. Die Grünanlage ist weiß. Darf Manuela vielleicht runtergehen? Sie muß mal telephonieren. Mutti ist, wie immer, in Hetze. Ja, ja, sie erlaubt Manuela in den Schnee hinaus zu gehen, weil diese nun doch nicht mehr so ansteckend sei und außerdem sei ja doch keiner draußen bei dem Wetter. Da ist Manuela aber froh. Für Masern gibt es also auch Knast wie für krumme Geschäfte, bloß kürzer. Manuela möchte rodeln. Sie weiß aber nicht wo ihr Schlitten ist. Im Keller vielleicht? Sie weiß nicht, ob der Schlitten überhaupt noch ihr gehört. Sie weiß nicht ob zu der Wohnung ein Keller gehört, wenn ja, weiß sie nicht, wo er ist. Manuela zieht sich ganz schnell an: einen Pullover und noch einen und dann die lange Jacke mit der Kapuze. Mutti hat gut aufgeräumt. Unter dem Spiegel im Flur ist eine winzige dunkle Kommode und in deren oberster Schublade liegen Manuelas Handschuh. In Manuelas Zimmer ist kein Platz für Kleidung. Unter dem Fenster steht das Schreibpult und an der anderen Wand stehen Bett und Bücherregal. Mehr Möbel gibt es nicht, denn Manuela braucht noch Raum zum Atmen. Den Schlüssel braucht sie nicht zu suchen. Der steckt immer innen im Schloß. Manuela versucht im Treppenhaus keinen Lärm zu machen. Mutti ist nicht da und kann nicht sagen “Laßt mein Kind in Ruhe!“ Wenn einer schimpft. Dumpf fällt die Tür ins Schloß. Ein paar Spatzen flattern erschrocken tschilpend in den Büschen auf und machen Gestöber, leise Wolken, die sich langsam wieder senken. An dem halbhohen, grünen Drahtzaun hängt weiße Spitze. Die Zauntür zieht einen Halbkreis im frischen Schnee. Als Manuela die Klinke herunter drückt, fällt von der oberen Kante ein pulvriger Schauer zwischen Jackenärmel und Handschuh. Kalt!
Kalt, nicht? Fragt da einer. Eh, Kalle, was machst du denn hier? Fällt die Schule aus wegen Neuschnee? Manuela wundert sich. Masern! Sagt Kalle lakonisch. Karl, Manuela und das böse Bärbelchen haben die Masern. Gar garstig! Kalle grinst, Bärbel hat die Masern schon zum zweiten Mal. So was gibt es. Alle anderen haben sich impfen lassen. Bloß ich und du eben nicht, Manny! Manny? Fragt Manuela zurück. Naja, der Kalle versucht umständlich etwas zu erklären, was beinahe nicht zu begreifen ist. Nämlich, weil Manuela nun ihre Zöpfe abgeschnitten habe und weil sie jetzt beinahe so wenig Worte sage wie Kalle und weil sie nicht mehr so den Klamottenfimmel habe, also deshalb könne sie ja, wenn sie wolle, Kalles Freund sein. Nämlich weil sie, die Manuela, eben ganz wie ein richtiger Junge sei, fast. Fast oder ganz?‘ Fragt Manuela zweifelnd.
Früher haben die Mädchen nämlich Ella zu Manuela gesagt, manchmal eitle Ella. Das war früher. Kalle wird rot und antwortet nicht. Manuela korrigiert sich selbst: Vergiß es! Kalle grinst wieder. Er weiß, Manny will. Überhaupt, das mit den Spitznamen, das stimmt ja auch nicht immer so richtig. Ick heiße Kalle mit mir spiel`n sie alle! So hat der sonst stumme Karl sich vorgestellt, als der Klassenlehrer bei Beginn des Schuljahres nach den Namen gefragt hatte. Im Herbst damals, da war ja alles neu gewesen, Schüler, Schulklassen, Lehrer, Lehrfächer und die Wege dorthin auch. Jetzt gibt es Umwege, nicht nur für Manuela. Der Lehrer hatte ganz freundlich gesagt. ‚Dann sehen wir mal zu, daß uns niemand übel mitspielt, Herr Schulz! Alle hatten gelacht, nur Bärbel hatte höhnisch gerufen: Haach, der spielt auch mit Puppen! Jetzt macht der wortkarge Karl um Bärbel einen Bogen und hat ihr Böses Bärbelchen angehängt. Manuela findet das ja nicht ganz verkehrt. Sie hat Bärbels Frage noch nicht vergessen: Was ist dir denn außer deinen Zöpfen noch abhanden gekommen? Meine Cousine läßt sich immer die Haare schneiden, wenn ihr ein Freund wegläuft! Das hat gesessen! Manuela war starr vor Schreck. Heute wüßte Manuela eine passende Bosheit. Nur, es ist zu spät. Bärbel vergißt schnell. Es ist anständiger nicht nachtragend zu sein, sagt Mutti. Das ist sehr schwer, wenn es so weh getan hat und Manuela mit niemandem sprechen kann. Sie kann doch ihre Mutti nicht mit den blöden Bemerkungen Bärbels aufregen! Manuela und Karl stapfen gemeinsam schweigend durch den Neuschnee. Keiner sagt, daß er denkt: Ist das schön!
Manuela beginnt zu erzählen. Sie erfindet Schneegeschichten für die doppelt weißen Birken, die bekränzten Gaslaternen, die eiszapfenbärtige Wasserpumpe mit dem hohen Hut. Karl hört zu. Manchmal lacht er. Manuelas Vergleiche sind ulkig. Sturm! Ruft sie und schüttelt kräftig an dem Kiefernzweig über sich, den sie gerade so erwischen kann. Sie werden tüchtig eingestäubt, dabei geht kein bißchen Wind und die weiße Pracht ist trocken wie Puder. Eine Schneeball - Schlacht würde heute nicht funktionieren. Die Fußabdrücke füllen sich gleich wieder, so locker liegen die Schichten aufeinander und von oben kommen stetig neue kleine Flocken. Es ist gar nicht dunkel, obwohl es schon dämmert. Kalt, sagt Karl noch einmal und Hunger!
Jetzt gehen sie auf dem Wiesenstreifen unter den kahlen Birken immer geradeaus. Da endet dann auch diese Straße an den Bahngeleisen. Das wußte Manuela noch nicht. So weit ist sie in dem Stadtteil noch nicht herumgekommen. Manuela ist müde. Komisch, sonst passiert ihr das nicht! Das muß an der Langeweile und an den Masern liegen. Zwischen den Zäunen des Bahngeländes und denen der Gärten ist ein Fußpfad versteckt, eine Abkürzung. Karl kennt ihn. Manuela hätte den Pfad nicht gefunden. Komm, komm! Ruft Karl und zieht sie am Ärmel zu einem grünen, weiß überdachten Gartentor. Er klingelt. Toll, die Klingel hat keinen Knopf, sondern einen Zug. Man hört aber nichts. Klar, der Garten ist groß, das kleine Haus steht weit weg, tief verborgen hinter irgendwelchen immergrünen Bäumen mit starker Schneelast. Märchenhaft! Das Licht geht an, ein Mechanismus summt, ein Hund bellt, die Schritte knirschen auf gefegten Wegen, Karls Vater öffnet die Tür: Wo warst du denn so lange? Ich habe schon gedacht du bist in der Kneipe versackt! Ach so, nicht der Schnaps, sondern die Mädels! Karls Vater redet viel mehr und viel lauter als sein Sohn und grinst noch viel breiter. Manuela sieht aber hinter dem Lächeln die Erleichterung. Kalles Vater hat sich Sorgen gemacht. Die Masern machen mich ganz schwach. Sagt er. Na, der hat gut reden. Er hatte sie doch gar nicht. Manuela ist schwach und Kalle sieht auch angeschlagen aus. Vielleicht hätten sie doch nicht so lange rumbummeln sollen? Es ist warm in dem kleinen Haus. Kalle zieht die Stiefel aus. Manny, mahnt er, Mantel und Stiefel! Manuela sitzt ganz still am Ofen in der Diele. Sie ist selbst zum Sprechen zu faul. Sie muß aber. Kalle soll mal gleich mit Manuelas Mutti telephonieren. Da muß Manuela wenigstens die Nummer sagen. Die hat sie ja im Kopf. Kalles Vater zieht dem großen Mädchen die Stiefel aus. Die Jacke kriegt sie selbst noch runter aber dann weiß Manuela gar nicht mehr, ob sie von der Ofenbank fallen will oder nicht. Kalles Vater trägt sie in ein Zimmer mit einem karierten Sofa. Die Karos wackeln nur ein bißchen. Der Schlaf kommt gleich zusammen mit der warmen Decke.
Im Auto wacht Manuela wieder auf. Kalles Vater fährt sie nach Hause. Muttis Auto ist kaputt. Heute geht auch alles schief. Manuela sucht ihre Stiefel und zieht sie wieder an. Sie will sich ja nicht noch einmal tragen lassen. Sie schämt sich schrecklich. Das muß sie nicht, sagt Kalles Vater und erzählt eine Menge über Masern. Prompt schläft Manuela wieder ein. Eigentlich ist das gar nicht so blöd von ihr, fest zu schlafen. Auf diese Weise muß sie sich nicht entschuldigen und sich keine Ermahnungen anhören. Es ist bloß peinlich, daß sie sich wieder die Schuhe ausziehen lassen muß. Aber das merkt Manuela sowieso erst am nächsten Morgen, als sie in Decken und Winterkleidung eingepackt neben der Mutti aufwacht. Mutti sagt bloß. Meine Süße!
Auf Karl und seinen Vater ist Verlaß. Manuela freut sich. Mutti vertraut Karl und sie darf mit ihm wieder in den Schnee hinaus, wenn er acht gibt, daß sie nicht zu lange bleiben. Gut! Heute glitzert die Sonne über der Stadt. Mutti ist wegen ihrer Arbeit unterwegs und Manuela kriegt einen Zettel mit zwei Telephonnummern. In der Bibliothek darf man kein Handy klingeln lassen. Das weiß doch jeder. Manuela ist unternehmungslustig. Leise Tropfen platschen von den Eiszapfen am Balkongitter auf die gefrorene Erde in den Blumenkästen.
Manche fallen mit einem klingenden Ton auf das Blechdach darunter. Ein Kleiber, eine Meise und ein grüner Fink versuchen auch Musik zu machen. Sie sitzen auf der Eberesche, dicht am Vogelhaus. Der Kleiber läuft hinauf und hinab. Dann schwirren alle ab. Aha, Nachbars Kater traut sich in den Schnee. Unten klingelt Kalle. Manuela läuft die Treppe hinab. Schönes Wetter heute. Sagt sie zur Begrüßung, wie ungeheuer originell. Karl fragt: Kannst du Schlittschuh laufen oder soll ich es dir beibringen? Manuela und Karl gehen zur alten Eisbahn. Schlittschuhe kann Karl ihr leihen. Manuela lernt und lacht sehr viel. Besonders lacht sie, als eine aufgetakelte Blondine sie anrempelt und schimpft: Blöde Bengels, paßt doch auf! Selber blöd! Sagt Manuela, Bengel sagt sie nicht, sondern Zicke! Kalle lacht auch. Siehste! Manny macht sich, findet Kalle. Er erzählt es zu Hause. Mutti hat gekocht. Das kommt auch nicht alle Tage vor. Die Kinder freuen sich, denn beide haben Pizza und Hamburger langsam satt. Mutti erklärt. Muß sie eigentlich nicht. Ich übertreibe es immer mit der Arbeit! Karl nickt verständig. Der kennt das. Sein Vater arbeitet manchmal die ganze Nacht hindurch. Aber Karls Vater ist wenigstens zu Hause. Die Tür zu seinem Atelier ist gleich neben dem karierten Sofa. Karl hat es gut.
Das Zeugnis kommt mit der Post. Manuela macht den Brief gar nicht auf. Wozu? Sie ist gerade beim Bäcker gewesen. Gestern hat die Sonne die Schneedecke ein wenig getaut und dann war es wieder bitterkalt, als sie weg war. Manche der oberen, dunkelgrünen Blätter vom Rhododendron in der Grünanlage des Mietshauses sind an der Spitze mit kleinen, hängenden Eistropfen geziert und die unteren sind noch von Schnee bedeckt. Auf den flachen Stufen des Eingangs hat sich eine dünne Eisschicht gebildet. Manny hängt die Schlittschuhe über die Schulter und geht zu Kalle. Mal sehen, was der für Zensuren hat. An der Dachschräge von Kalles Haus hängen lange tropfende Zapfen und in der Regenrinne gluckert es. Der schattige Gartenweg und die Treppe sind gefegt und bestreut und in der hellen Ecke neben der Treppe gucken grüne Spitzen aus der weißfleckigen Erde hoch zur Sonne. Morgen blühen die ersten Schneeglöckchen! Kalles Vater freut sich über die Sonne, die weißen Blumen, Manuelas Besuch und Kalles Zeugnis. Mann, ist das gut! Alles Einser! Nur in Musik nicht! Mannomann! Karls Vater ist schrecklich stolz. So fleißig war ich nie! Nie! Karl legt daraufhin seines Vaters große, farbenbunte Hand auf sein Pulloverherz Das bin ich dir schuldig. Das ist doch das Mindeste! Da ist Manuela sehr verlegen. Das war eine schlichte Liebeserklärung. Karl ist gar nicht verlegen und sein Vater nimmt ihn in den Arm. Einfach so...
Manuela geht zum Fenster und fragt: Hast du auch ein Vogelhaus? Meisenringe! Antwortet Kalle. Manuela muß erst etwas essen, auch wenn sie gar nicht mag. Dann können sie endlich auf den nahen See gehen. Dort gibt es nicht so viele Leute mit Schlittschuhen wie auf der alten Eisbahn. Den kleinen, schilfgesäumten See kennt Manny auch noch nicht. Kalle weiß ja gut Bescheid. Hier ist er aufgewachsen, hier an der Bahnlinie. In dem Haus haben schon sein Großvater und sein Urgroßvater gewohnt. Der Glockenzug und das Schild aus Messing sind so alt wie das Haus. Alle hießen sie Karl, die Männer. Aber Bahngeleise gibt es noch nicht so lange wie das Haus. Und Frauen gibt es die? Fragt Manny. Karl schüttelt abwehrend den Kopf. Da ist Manny schon wieder verlegen und fährt schwungvoll Achten auf dem Eis. Das ist nicht leicht aber leichter als reden. Donnerwetter! Bewundert ein Großvater die beiden. Er trägt auch Schlittschuh. Er schiebt einen Stuhlschlitten mit hoher Lehne. In dem Schlitten sitzt keine Großmutter, sondern ein Mädchen. Ein richtiges Mädchen, nein, eine Prinzessin. Manny und Kalle bewundern sie: Eine Prinzessin aus weißem Porzellan und Gold! Karl wird mutig: Kannst Du auch Schlittschuhlaufen oder soll ich es dir beibringen? Schon will Manny ein bißchen eifersüchtig werden, da besinnt sie sich darauf, daß sie fast ein Junge ist. Aber nur fast, denn dann tut sie etwas, was Jungs nun wirklich nicht tun, sie fängt an zu weinen. Die Porzellanprinzessin schaut nämlich Kalle und Manny abwechselnd aus ihren hellen, großen, blauen Augen an und sagt: Ich kann gar nicht laufen! Das tut Manny so leid. Kalle legt ihr den Arm um die Schultern, drückt sie ein bißchen und fragt das fremde Mädchen ganz ruhig: Wie kommt denn das?
Das fremde Kind faßt nach Mannys Hand und sagt Autounfall, wein doch nicht, Junge!
Manny entschuldigt sich, obwohl sie nicht genau weiß, ob sie sich entschuldigen muß und erklärt, daß sie ein Mädchen sei. Das fremde Kind kriegt einen Lachanfall und Kalle grinst schief von oben auf Manny herunter. Sein Arm liegt noch um Manuelas Schultern. Dann laufen beide neben dem Großvaterschlitten her. Das Mädchen hält einen Läufer an jeder Hand und erzählt von sich. Der Großvater läuft schneller und Manny und Kalle müssen sich sputen. Der sportliche Großvater fährt Schlangenlinien und Manny und Kalle fahren flotte weite Bögen, Kreise und Achten um den schnellen Schlitten. Schneller, Großvater, schneller! Jubelt die Prinzessin und Manny und Kalle flitzen und schnaufen. Dann kann der Großvater aber auch nicht mehr. Aus mit der Puste! Üben, üben, über, wie die Philharmoniker! Fordert die Prinzessin. Sie heißt Rosalia und so sieht sie auch aus. Morgen wieder! Verabschieden sich die Kinder.
Das fremde Mädchen winkt und lacht. Karl nimmt Manny mit nach Hause. Es riecht wieder nach gutem Essen. Kalle schiebt Manny in die Küche. Sein Vater zerwuselt beiden die Locken. Kalle lehnt sich an ihn und legt den Kopf in den Nacken. Sein Vater ist sehr groß. Du, Manny ist vielleicht lieb... Da zuckt Manuela zusammen und schüttelt auch einmal abwehrend den Kopf. Ich weiß, Sohn! Mit drei Worten räumt Kalles Vater Manuelas Verlegenheit auf und teilt mit einem Arm Teller aus. Die Suppenterrine steht schon auf dem Tisch. Karl, das Tischgebet! Damit läßt er seinen Sohn los. Manuela setzt sich. Als ihr Vater noch zu Hause war, wurde nie ein Tischgebet gesprochen, jetzt schon, aber nur, wenn auch am Tisch gegessen wird. Wann ißt Mutti eigentlich? Immer geht Manuela morgens mit dem Brot in der Hand los. Manchmal kriegt es dann der dicke Tobias. Mittags ist niemand zu Hause und abends betet und ißt nur Manuela, Mutti tut nur so. Wann schläft Mutti? Wenn Manuela im Bett ist, hört sie durch die angelehnte Tür noch den Computer summen, das Papier rascheln und die Bücher flüstern. Mutti hat nur am Sonntag Zeit zum Kochen, zum Essen, zum Beten und zum Reden. Dabei redet Mutti nicht viel. Mutti hört zu. Sie erzählt manchmal Geschichten. Früher hat Mutti sogar gesungen...
Herr Schulz, kann man das Singen verlernen? Die beiden Kärle gucken ganz verdutzt. Wie meinst du das, Manny? Fragt Karl der Große. Mutti? Fragt der kleine Karl. Manny nickt Meine Mutti! Karls Vater denkt nach aber er findet keine Antwort.
Später im dunklen Auto erklärt er dann: Frag so etwas lieber nicht. Es gibt Fragen, die sind falscher als alle Antworten. Und komm uns recht oft besuchen. Danke! Antwortet Manuela. Sie hat verstanden, was Karls Vater meint und ist sehr froh, daß er nicht mehr gesagt hat.
Mutti ist schon da. Sie hat das Kuvert mit dem Zeugnis aufgemacht. Schlimm? Fragt Manny. Kalle hat nur Einser, fast! Normal! Lächelt Mutti. Nicht Karls Zeugnis ist normal, sondern deines. Ich habe viel zu wenig Zeit für dich und deine Hausaufgaben, dafür ist es sogar erstaunlich gut. Ich habe ein schlechtes Gewissen, da! Sie hält Manuela ein Päckchen hin. Manuela hat es sich nicht verdient. Sie weiß es nach einem kurzen Blick auf das nur sehr mäßige Zensurenbild. Sicher, Mutti hat ein schlechtes Gewissen, aber Geld hat sie schließlich auch nicht. Manny packt aus. Es ist eine winzig kleine Kamera. Die war teuer! Mannys Stimme klingt drohend. Mutti strahlt richtig. Du freust dich wirklich! Manny ist ein bißchen nachdenklich. Mutti, wir müssen uns beide Mühe geben, nicht nur du! Mutti bringt Manny ins Bett und erzählt ein bißchen von ihrer Arbeit. Mutti macht Ordnung in den Bücherregalen anderer Leute. Das kann sie am besten. Aber abends muß sie noch für andere Leute schreiben, weil sie eben kein Geld hat. Sie ist froh, daß sie so viel Arbeit bekommt. Geldsorgen müssen schrecklich sein. Nein, Mutti ist ehrlich, es liege nicht nur an den Sorgen, es liege auch daran daß Mutti beim Arbeiten nur an die Arbeit denken müsse und an nichts anderes. Manuela kennt dieses Nichts. Es war damals ein eisiges Nichts zwischen ihren Eltern. Kann Mutti nicht vergessen?
Manuela will ja nicht drängeln Aber Sonntag dann! Bittet sie. Gut, Sonntag kommt Mutti mit auf das Eis. Manuelas Vater konnte nicht Eislaufen. Gott sei Dank! Konnte? Manuela kann nicht einschlafen. Der Vater hat nicht geschrieben, jedenfalls nicht an Manuela. Nein, er hat nicht einmal an Manuela gedacht, denn Grüße hätte Mutti ausgerichtet. Er hat also auch nicht angerufen. Lebt er noch? Flugzeuge können abstürzen. Wie geht es ihm? Er war meist lustig, wenn er da war und nicht in Geschäften unterwegs. Die Geschäfte waren an allem schuld. Manuela denkt nach, nein, nicht die Geschäfte, sondern Vater. Er hat sich nichts gedacht. Manuela kann sich an keinen Streit erinnern. Dabei streiten doch alle Leute, wenn es um Geld geht, jedenfalls im Fernsehen. Ihre Mutti streitet deswegen nicht, sondern schweigt und arbeitet. Hat Mutti nichts gewußt, gar nichts, bis zu der stundenlangen Konferenz in Vaters Arbeitszimmer? Drei graue Herren waren gegangen, Mutti hat geschrieen, ist hinausgelaufen und hat die Haustür zugeknallt. Vater war grau im Gesicht. Mutti hatte geschrieen: Verschwinde! Es waren sicher noch andere Gründe, die Mutti so haben schreien lassen. Manuela hat nicht gefragt. Sie hätte die Gründe vielleicht auch nicht verstanden. Mit elf Jahren versteht man noch nicht so viel. Aber man kann schon ganz schön viel Angst haben und traurig sein und so...
Nachher schläft Manuela doch noch ein und ist froh, daß sie am nächsten Morgen nicht mehr weiß, was sie geträumt hat. Es sind wirklich Ferien. Maria und Lisa sind verreist, Kalle verreist nicht. Ob das Mädchen Rosalia heute auf dem Eis Schlitten fahren darf? Es ist sehr neblig. Mutti hat warmen Milchkaffe hingestellt, Spritzkuchen und eine bunte Karte Du darfst Karl besuchen. Viel Spaß! Das ist nett. Das hat Mutti noch nie gemacht: Eine Post an der Kaffeemaschine, Postkarte mit Blümchen und Kaffeefleck. Manny kommt sehr zeitig zu Karl, zu zeitig. Er sitzt noch am Tisch. Manny hilft aufräumen und dann spielen sie bis die Sonne kommt ein ganz kniffliges Puzzle. Das ist vielleicht anstrengend. Der Karl, der kann immer alles so gut.
Die Sonne taut kräftig die Eiszapfen vor dem Fenster. Ob das Eis auf dem See noch hält?
Es hält. Kalle weiß es. Was der alles weiß! Er erzählt Manuela unterwegs von Gefrierpunkt und Siedepunkt des Wassers, von Oberflächenspannung und Druckverhältnissen. Manuela kann nicht alles begreifen. Kalle muß die Worte erst erklären und einige Zeichnungen, die er in den feuchten Schnee malt, helfen auch nicht besonders. Nachher, sagt er, nachher zeige ich dir ein Buch, da ist alles drin, was ich über Eis, Schnee, Wasser und Dampf weiß! Manny denkt, er habe das in der Schule gelernt. I, woher denn! Kalles alte Schule sei genau so blöd gewesen wie Mannys, nichts als Ärger, Lärm und Langeweile. Jetzt macht doch das Lernen viel mehr Spaß. Manny weiß das erst seit den Masern. Kalle weiß es schon von Anfang an. Er hat immer Spaß. Kalle ist auch wirklich einer, den alle gut leiden können, Lehrer und Mitschüler und sogar der brummige Hausmeister. Wie macht er das? Kalle weiß es nicht. Zufall! sagt er. Denn er möge längst nicht alle. Das böse Bärbelchen habe er gefressen. Der fällt zu jeder Gelegenheit eine fiese Bemerkung ein! Das findet Manny übertrieben, sie sei eben ein Mädchen. Die sind manchmal so. Kalle schnürt sich die Stiefel zu. Du nicht Protestiert er von unten nach oben und sieht Manuelas Gesicht erröten. Scheiße! Denkt Manuela, sagt es aber nicht. Nein, Das sagt man nicht! Betont Mutti immer. Manuela hat sich fest vorgenommen, sich für ihre müde Mutti ein bißchen mehr zu bemühen. Kalle kann das doch für seinen Vater. Warum ist Manuela nicht selbst drauf gekommen? Sie könnte es doch wie Mutti machen, mehr arbeiten, damit sie an nichts anderes denken muß. An das eisige Nichts will sie nicht denken. Warum meldet sich der Vater nicht? Manuela kann das einfach niemanden fragen. Es geht nicht. Warum nicht? Warum ist denn noch überall Eis um Manny herum, so dicht? Kalle ruft: Komm, da ist es!
Kalle meint nicht das Eis. Er meint das Porzellanmädchen. Manuela gleitet leicht und schnell über das Eis, das auf dem See. Schlittschuhfahren ist ein bißchen wie fliegen. Rodeln ist auch ein bißchen so. Manny weiß jetzt, wo der Keller mit dem Schlitten ist. Aber Kalle sagt, der Schnee sei schon zu feucht an den Sonnenhängen und die richtige Bobbahn sei zu weit weg, mehr als sieben Busstationen. Daß sie zu teuer sei, das sagt er nicht. So was sagt Kalle einfach nicht, komisch. Da fällt Manny ihre neue kleine Kamera ein. Umständlich fummelt sie die Riemen und das Gerät aus der Jacke und kriegt gerade noch rechtzeitig die Begrüßung von Rosalia und Karl in die Kiste. Hey, die tut ja so, als erwarte sie einen Kuß von Kalle! In die Kiste kann man sagen, denn das ist Photographenlatein. Manny photographiert schon viele Jahre. Sie hat Übung! Viele ihrer Bilder hingen an den Wänden im alten Haus: Blumen, Schmetterlinge, Wolken und Türme. Am liebsten sind ihr aber die Bäume. Da hat Manuela wirklich ein paar gute Momente gehabt, damals...
Nein, jetzt will sie mal neue Bilder machen, ganz neue, Bilder mit Menschen, Bilder für Mutti.
Die Kamera klickt. Das wird ein Spaß. Der Großvater nimmt alle drei Kinder auf, damit er ein Erinnerungsphoto bekommt. Aber nur eins, Papier ist teuer und das Photographieren will gelernt sein! Au weia! Jetzt hat Manny schon wieder zu viel gequasselt. War das frech? Nein, der alte Mann lacht, Kalle grinst und Rosa lächelt lieblich. Anders könnte man das nicht ausdrücken. Das schöne Kind ist irgendwie märchenhaft. Sie ist wenig unter Kindern gewesen bis jetzt, weil sie immerzu krank war. Wahrscheinlich ist sie auch ganz selten fröhlich. Manuela fragt nicht aber Karl erfährt natürlich auch ohne Fragen wieder mehr, als jeder andere zu hören bekäme.
Das Mädchen hat keinen Vater, keine Mutter, keine Geschwister, keine Großmutter auch keine Tanten. Sie hat in der Schweiz gelebt. Jetzt ist der Großvater mit ihr weg gegangen von den Bergen und den Erinnerungen. Das versteht Manuela gut. Rosalia hat sich sehr gefürchtet in der riesigen Stadt Berlin. Sie ist einsam. Denn ihr Großvater ist ihre einzige Gesellschaft. Er ist eigentlich noch ziemlich jung, findet Manny. Aber andererseits ist er natürlich keine Gesellschaft für ein Kind. Das Kindermädchen ist auch nicht besonders unterhaltsam. Manuela hat noch kein lebendiges Kindermädchen gesehen. Gibt es denn sowas noch?
Kalle lädt Rosalia ein. Du kannst mich nicht tragen. Ich kann wirklich gar nicht gehen. In deinem Haus hat es doch nicht Schnee und Eis für den Schlitten? Das klingt beinahe entschuldigend. Aber Kalle wischt alle Unannehmlichkeiten beiseite: Mein Vater doch! Rosalia bettelt wortreich und ausdauernd, daß sie endlich mal allein etwas unternehmen dürfe. Sie erhält natürlich die Erlaubnis. Wer könnte auch dieser wunderschönen, lahmen Bettelprinzessin etwas abschlagen? Manny nicht! Manny nimmt ihre Hand und Kalle schiebt den hochlehnigen, alten Schlitten. Der Großvater wird sein Mädchen wieder abholen, wenn es dunkel wird. Erst an der Gartentür fragt Kalle: Hast du keinen Rollstuhl? Der Rollstuhl parkt im Kofferraum des Großvaters und der Schlitten parkt im Winkel neben Karls Treppe. Karls Vater hat grüne Malerhände, er riecht nach Ölfarbe, also nach Arbeit und fühlt sich doch nicht gestört: Werde ich mich daran gewöhnen müssen, für dich Mädels zu tragen? Das ist aber nur Spaß.
Rosalia kann das mit dem Puzzle noch viel besser als Karl, und Manny sieht echt alt aus. Dann fragt Rosalia, komisch, nur ihr Großvater kürzt ihren Namen ab, ob Karl Schach spielen könne. Das ist doch nur für zwei Spieler, sagt Kalle, lieber bringe ich euch Skat bei. Das wird nichts, denn Rosalia darf nicht Karten spielen. Die Karten sind die Bibel des Teufels! Schimpfe das Kindermädchen. Kalle und Manny müssen sich gewaltig anstrengen, um sich das Lachen zu verbeißen. Rosalia glaubt den Mist! Dann holt Karl seinen Atlas und Rosalia muß erzählen und zeigen, wo sie denn vorher gewohnt hat. Das kann sie gut. Mit dem Finger auf der Landkarte fährt sie die Berge entlang, nennt deren poetische Namen, die sie alle kennt. Die Umrisse, wie sie am Horizont erscheinen, malt sie in die Luft, unsichtbare Zacken. Sie erzählt von Bergsteigern, Lawinen, Gletschern und ewigem Eis. Kalle und Manny kriegen richtig Lust in die Alpen zu fahren, kann ja auch Bayern oder Österreich sein, nur hoch hinauf eben. Rosalia ist erstaunt, daß die beiden noch keine Berge, denn Harz und Schneekoppe zählen nicht, also noch keine ganz richtigen Berge gesehen haben. Sie gibt ein bißchen an: Nächste Woche geht es ja vielleicht in die Rocky Mountains, nach Amerika. Das hätte sie nicht sagen sollen. Manny macht ihr Eisgesicht. Ist ja gar nicht wahr, ich gebe ja bloß an und Angst habe ich auch. Ich muß in Amerika zur Operation in ein Krankenhaus, damit ich vielleicht wieder gehen kann. Sei doch nicht neidisch, Manny! Rosalie schaut Manuela an aber Karl antwortet: Manny ist nie neidisch.
Manuela erklärt, daß sie sich nichts aus Bergen mache und aus Amerika schon gar nicht und... Und da klingelt es. Es gibt viel Geräusch und Gerede, tiefe Stimmen, hohe Stimmen, knarrende Treppen und klappende Türen. Mein Vater ist in Amerika. Flüstert Manuela in das leere Zimmer. Karl sagt von der Schwelle: Mein Vater fährt dich nach Hause. Manuela wollte eigentlich noch das schlaue Buch über Wasser und Eis ansehen andererseits... Es ist schon sehr spät. Und so fragt sie: Das Buch, warum hast du es nicht gezeigt? Karl antwortet fest: Das ist nur für uns beide, morgen!
So fährt Karl der Große eine ganz nachdenkliche Manuela durch kalte Dunkelheit. Sein altes Auto ist auch nicht warm. Aber Karls dunkelblaue Augen, die, ja, die sind ganz warm gewesen. Ob er wohl Mannys Flüstern gehört hat? Sein Vater hat es eilig und kehrt unten an der Ecke gleich um, nachdem Manny im Treppenhaus verschwunden ist. Die Kinder haben ihn wieder bei der Arbeit unterbrochen.
Ob Mutti auch noch arbeiten muß? Ist sie nicht da? Die Wohnung ist dunkel. Manny will gerade in der Küche den Kühlschrank öffnen, da hört sie einen Ton. Was war das? Mutti weint im Dunkeln. So hat Manuela sie noch nie gesehen. Wie nennt man das? Ihre Arme hängen seitlich der Knie herab bis auf den Boden. Der Kopf liegt mit dem Gesicht, hinter dem Vorhang von langem Haar versteckt, auf den Knien. Aus den offenen Händen sind weiße, mit großen, spitzen, schwarzen Lettern bedeckte Papiere auf das Parkett gefallen.
Manuela gibt sich einen Ruck. Sie tritt, einfach auf das Papier neben Muttis Stuhl drauf, hebt Mutti ein bißchen an den Schultern an und drückt das verhangene Gesicht an sich. Nun wein dich aus! Tüchtig, Manny ist ja da! Das hilft. Mutti heult und Manny tröstet, bis der Sturm vorbei ist. Mutti macht Licht, trompetet in ein neues Taschentuch und zeigt auf die leicht zerknitterten Blätter. Ein teuerer Scheidungsanwalt! Manny versucht gar nicht erst beim Aufheben irgend etwas zu lesen. So viel Englisch kann sie sowieso noch nicht. Auf manchen Seiten sind feuchte Abdrücke von Mannys Stiefelprofil. Egal!
Ziemlich endgültig, Mutti, kannst du denn einen guten Anwalt bezahlen? Das kann Mutti natürlich nicht. Aber sie hat einen Studienfreund. Und der ist gut! Mutti geht es schon besser. Sie ist wütend. Das hilft. Mutti telephoniert und Manuela macht Pizza warm. Schon wieder Pizza!
Nachher im Bett ist sie fast erfroren. Vater hat gesagt, er käme wieder. Vater hat gesagt, er würde seine Manuela vermissen. Vater hat keine Erklärung gegeben, gar keine. Ob er sich schämt? Eigentlich muß man sich doch nicht scheiden lassen, wenn man nicht noch einmal heiraten will... Um die Teilung eines Vermögens kann es ja nun wirklich nicht mehr gehen... Um seine Tochter geht es dem Vater auch nicht. Manuela sagt Scheißkerl! Es hilft nichts. Leider ist sie nicht wütend. Wut macht warm. Weinen kann sie auch nicht. Manuela fühlt sich wie in oder unter der Eisdecke von dem kleinen See. Prompt träumt sie davon: Eis oben, Eis unten und darüber streift der Wind mit Zischen und Wispern. Gräßlich!
Am nächsten Morgen steht sie sofort auf. In der Wohnung ist es ganz warm. Ob Mutti auch so viel friert? Sie ist natürlich blaß und müde. Aber sie hat sich schön bemalt. Das hilft wenigstens ein bißchen. Mutti setzt sich an den Frühstückstisch. Ab heute wird gegessen! Behauptet sie. Manny sieht, daß Mutti übertreibt. Sie hört es auch in der gespannten Stimme, als Mutti ihr erlaubt zu Karl zu gehen. Das mit dem Anwalt ist eilig. Das Auto muß auch noch aus der Werkstatt geholt werden. Andere Termine hat Mutti dann nicht mehr. Aber deine Arbeit reicht für mindestens eine Nachtschicht! Manny kehrt Strenge heraus und Mutti verspricht Besserung. Naja, besser Mutti arbeitet, als daß sie an das Eis denkt. Vielleicht denkt sie ja auch gar nicht dran? Mutti ist immer noch wütend. Das Telephon klingelt. Manuela geht 'ran. Sie versteht kaum ein Wort, spricht aber nachdrücklich in die erste Pause hinein: Würden Sie mir bitte die Adresse meines Vaters geben? Die Frauenstimme am anderen Ende kommt nach einer Pause wieder in Gang, diesmal mühsam, denn nun wird deutsch verhandelt. Manuela macht das gut. Sie antwortet auf keine Frage. Sie wiederholt nur ihren Satz mehrere Male. Sie bekommt die Versicherung, daß die Kanzlei ihr die Adresse zusenden würde. Dann ist es still. Mutti hat zugehört. Mann, Manny, Mannomannomann! Mutti lächelt überwältigt. Nein, Mutti grinst breit. Gut.
Unterwegs bummelt Manuela auf nebligen Wegen, die sie noch nie gegangen ist. Sie muß nachdenken. Ihre Wut ist kalt. Eine eiserne Fußgängerbrücke schwingt in flachem Bogen über den Teltowkanal. Er ist nicht zugefroren, nicht einmal am Rande. Das Wasser ist schwarz, es ist träge, aber es fließt. Kein Eis! So muß man es machen: immer in Bewegung bleiben! Manny will Kalle gleich nach dem Buch fragen. Sie rutscht ein bißchen aus und greift mit der bloßen Hand nach dem nächsten, gußeisernen Schmuck des Geländers. Es ist ein dicker Eichenzweig mit braunem Laub. Au! Heiß! Nein natürlich nicht! Das Eisen fühlt sich so kalt an, daß es Manuela scheint, als habe sie sich verbrannt. Selbstverständlich ist sie auch hingefallen. Hände und Knie schmerzen. Die Haut ist rot und ein bißchen abgeschürft. Wenigstens ist in den Kratzern kein Sand. Der liegt tief unter der obersten Eisschicht eingefroren. Tauwetter war gestern.
Nun muß sie doch zügig zum Bus. Die rechte Hand tut wirklich weh und am Kinn hat Manny auch blutige Kratzer. Mit der behandschuhten Linken zieht Manuela am Glockenzug. Jetzt ist sie vorsichtig. Der Glockenzug ist ein halbrunder Doppelbogen aus schwarzem Eisen. Kalle steht schon in der Tür. Erst freut er sich und dann nicht mehr. An seinem Gesicht kann Manuela sehen, wie sie etwa aussehen mag. Der große Karl ist noch weniger erfreut. Er sprüht so ekliges, gelbes Zeugs auf Hände, Knie und Kinn. Er wickelt um Mannys rechte Hand eine dünne Binde und betrachtet belustigt die Löcher in Mannys Hose: Die muß Deine Mutti verarzten! Ehe Manuela ein schlechtes Gewissen haben kann kriegt sie eine abgetragene Jeans verpaßt und dann kommt endlich Kalle mit dem Buch. Es ist ganz gut, daß noch nicht die Sonne scheint. Das ist ein spannendes Buch! Da steht drin, wann Wasser gefriert und Manny wundert sich, daß in sehr kalten Wintern sogar die Ostsee zugefroren war. Das Polareis ist noch gewaltiger, und es gibt sogar gefrorene Wasserfälle auf der Welt! Also stimmt das mit der Bewegung auch nicht immer. Und wenn Tauwetter zu geschwind einsetzt, wird es zuweilen zu heftig mit der Bewegung! Wasser wird eine gewalttätige Macht. Manchmal sind Zeichnungen, manchmal Photographien in dem Buch. Geschichten von den gefährlichen, schwimmenden Eisbergen kennt Manuela schon. Kalle blättert die Abbildung eines Gemäldes auf: Ein Segelschiff ist im Packeis eingefroren. Das schöne, stolze Schiff ist tot und niemals wieder wird der Wind die Segel blähen. Mach es weg, mach es weg! Kalle weiß nicht, was Manny so aufregt, daß sie schreit und weint. Kalle hat Angst. Vater! Ruft er laut, Vater, hilf mir! Karls Vater schaut das Gemälde im Buch an, dann Manuela, dann seinen Sohn. Er nimmt Manny in einen Arm und streicht erst Kalle sanft über die rechte Wange und dann immer wieder über Mannys zitternden Rücken. Was der große Karl da murmelt, versteht er wahrscheinlich selbst nicht. Aber es beruhigt! Kalle hält Manny ein gebügeltes Taschentuch hin. Mannys Erklärung wird kurz und deutlich: Scheißscheidung! Dann fügt sie hinzu: Entschuldigung, das sagt man nicht! Karls Vater klopft ihr auf die Schulter und nickt. Er holt Selters. Wasser nachfüllen! Hört Manny undeutlich aus der Küche klingen. Viel deutlicher hört sie Kalles leisen Satz Sie leben wenigstens beide noch.
Manny weiß nicht, ob sie Karl in den Arm nehmen darf. Sie trinkt ein Glas Wasser und läßt sich von seinem Vater erklären, warum sie sich über das gemalte Bild so aufgeregt hat. Sie versteht sich nämlich selbst nicht ganz. Die vielen Photos waren nicht so schlimm. Nein, auf dem Gemälde, nur da war das Eis von innen, Mannys Eis, das eisige Nichts, das Traumeis mit dem bösen Wispern. So ähnlich übersetzt sie sich selbst die schwierigen Sätze von Karls Vater. Jetzt kommt Tauwetter. Dann wird wieder Frühling! Das ist ein Satz, den Manuela versteht. Der kleine Karl steht vor dem Fenster und schaut hinaus in die Sonne mit dem Nebelschleier. Er sieht sehr klein aus, denn das Fenster ist groß. Das Atelier hat fast nur Fenster. Karl legt die Stirn an die kalten Scheiben. Komm raus, Manny, komm raus!
Die Schneeglöckchen blühen. Der Pfad ist zu naß. Es gibt keine Abkürzung heute. Langsam gehen die Kinder zum See. Manny will Rosalia sehen, bevor diese nach Amerika fliegt. Auf dem Eis ist eine sehr dünne Tauwasserschicht. Rosalias Großvater schiebt den Schlitten durch spritzende Pfützen und die Prinzessin lacht. Sie freut sich, sie hat schon auf Kalle und Manny gewartet. Manny erzählt schnell von ihrem Ungeschick an der eisernen Brücke, läßt sich von Rosalia tadeln und diese von den Reisevorbereitungen schwatzen. Montag, wenn die Schule für die andern wieder anfängt, geht der Flieger, ganz früh. Toll! Rosalia wird die Sonne hoch über den weißen Wolken aufgehen sehen! Rosa und Gold! Toll! Manny ist ja schon mal nach Rom geflogen, über die Alpen, aber über das Meer noch nie. Außerdem war es ein Nachtflug. Kalle erzählt von einem Flug über den Wolken. Er erzählt, wie sie aufgerissen seien und wie unten das blaue Meer geglänzt habe. Wo ging es denn hin? Rosalia will es genau wissen. Nach Hause! Aus Kalle kriegt man nichts raus, wenn er nicht reden will. Rosalie lacht. Sie lacht sowieso ziemlich viel. Albern? Nein, aufgeregt. Manuela grübelt. Wenn sie selbst sich aufregt, wird sie auffallend stumm, Rosalie redet unaufhörlich und bei Kalle weiß man nicht, wann er aufgeregt ist, logisch.
Kalle bringt nach dem Eislaufen Manny nach Hause. Er trägt auch die zerfetzten Klamotten. Mutti wird Hose und Jackenärmel flicken müssen. Eh, Mutti ist schon da! Manny staunt. Mutti küßt, Mutti kocht, Mutti knuddelt Kalle und lacht über die Löcher. Manny holt den Nähkorb und sucht schöne bunte Flicken heraus und noch Lederflicken für die Jacke, zwei, obwohl nur ein Ärmel am Ellenbogen zerrissen ist. Kalle hilft beim Kochen. Beim Zwiebelschneiden muß er heulen. Mutti lacht wieder. Bei Mutti ist auch Tauwetter angesagt.
Nachher muß Mutti noch ein bißchen vorlesen, denn sie liest ein Buch, das die Kinder auch gern lesen würden. Geht aber nicht, denn es ist nur eins da, geliehen. Und da ist Mutti ganz nett und fängt noch mal von vorn an, obwohl sie schon auf Seite siebzehn angelangt ist. Die Geschichte ist so spannend, daß alle die Zeit vergessen. Plötzlich ist Karl der Große da und Manny, die ihn hinein geholt hat, faßt ihn bei der Hand, damit er nicht schimpft. Er schimpft nicht. Er sagt nicht einmal Guten Abend! Er lächelt. Kalle sitzt auf dem Teppich hat die Arme um die angezogenen Beine gelegt und den Kopf an Muttis Seite. Auf Kalles Schultern liegt eine Gardine: Muttis lange, lose Strähnen. Möchtest du nach Hause kommen? Kalles Vater klingt ganz und gar nicht böse. Kalle auch nicht: Darf ich wieder kommen? Manny haut ihm mit der linken Faust auf den Rücken. Tschüs, bis morgen!
In dieser Nacht träumt Manny noch verrückter. Sie will es sich überhaupt nicht merken. Das nimmt sie sich vor, als sie ein paar Mal aufwacht. Mutti arbeitet immerzu. Manny nimmt sich auch vor, Mutti zu ermahnen, morgen, morgen, morgen...
Das Tauwetter nimmt zu. Das Eislaufen wird schwieriger. Der Stuhlschlitten steht zu tief im Wasser. Kalle und Manny müssen versprechen Rosalia zu besuchen. Morgen! Sagt Kalle. Heute nachmittag liest uns Mannys Mutti vor! Oh, ich will auch zuhören! Ruft Rosalia. Es klingt ein bißchen neidisch. Manny fühlt sich gedrängt, Rosalia einzuladen und sie weiß doch nicht, ob Mutti das recht wäre. Der Großvater rettet die Situation, denn er erinnert seine Rosy an den notwendigen Einkaufsbummel. Das hilft. Alle Mädchen kaufen gern ein! Außer Manny natürlich, aber das weiß ja Rosalia nicht und sie denkt sichtlich, daß sie nun beneidet würde. Soll sie ja! Kalle trägt zwei paar Schlittschuh und feixt: Manny, du mogelst! Klar, wenn es sein muß, fallen Manny immer ein paar passende Sprüche ein.
Mutti wartet schon auf die Kinder: Vielleicht zu feucht, das Eis? Ich habe für euch besseres!
Was denn, besseres Eis? Jaaaa! Manny und Kalle sind begeistert. Statt Mittagessen gibt es Himbeereis und heiße Himbeeren. Mutti liest vor und Manuela löffelt. Mir ist schon ganz himbeerig, Mutti. Das ist ja schlimmer als Masern! Manuela hat sich ziemlich beschmiert und viel zu viel gegessen. Jetzt ist sie deshalb gar nicht mehr unternehmungslustig. Faultier! Schimpft Kalle. Da stört niemanden. Eislaufen geht ja nicht mehr und überhaupt draußen ist es viel zu naß. Na gut, Kalle ist einverstanden. Sie spielen Schach. Kalle wird böse: Manny, du konzentrierst dich nicht! Er erklärt Manuela ihre eigenen Züge, die falschen und die richtigen. Manny schämt sich. Kalle kann eben alles. Nach dem dritten Spiel hat Manuela so viel gelernt wie noch nie. Kalle verspricht ihr ein Schachspiel für den Computer. Dann kannst du üben und mich besiegen! Kalle hat gemerkt, daß Manny ein kleines bißchen sauer ist. Er geht jetzt auch lieber. Es wird immer noch ziemlich früh dunkel.
Manuela mag nicht fernsehen und Mutti mag nicht vorlesen. Manuela möchte das Buch haben. Mutti denkt, daß es dann beim Vorlesen langweilig wird, denn der Karl, der möchte morgen wieder zuhören. Das Buch ist für alle da. Manny widerspricht: Nein, beim Vorlesen ist es dann ja noch viel schöner. Da weiß ich dann, was kommt. Da bin ich gleich mitten drin, in der Geschichte. Das kannst du mir nicht näher erklären, oder? Fragt Mutti mit einem Blick voller Unverständnis und Zweifel. Nein, Mutti, ich kann es nicht sagen, ich kann nicht alles sagen.
Mutti gibt ihr das Buch und nimmt es ihr auch wieder weg. Manuela ist nämlich beim Lesen eingeschlafen. Dabei hat sie gar keine Masern mehr und langweilig ist ihr überhaupt nicht.
Nein, Manny ist nur müde. Eisessen macht genau so viel Spaß, wie Eislaufen. Vom Eis träumen ist nicht spaßig. Aber Manuela wacht auf und weiß nicht, ob sie geträumt hat. Sie will mal eben bei Kalle anrufen. Vielleicht hat er ja keine Zeit?! Karl hat Zeit und Mutti nicht.
Sie fährt Manny gleich zum See. Kalle wartet schon. Das Eis wartet nicht mehr. Es ist zerbrochen. Der warme Wind in der Nacht hat es zersplittert. Manuela hat den Wind nicht gehört. Auf den Schollen in der Sonne stehen bunte Enten. Frieren die nicht? Die Eisschollen tanzen wie Segelboote. Da kriegt Manny einen Rappel und springt vom Ufer aus auf eine der nächsten Schollen, dann noch ein Sprung und noch ein Sprung. Ist das aufregend! Manny steuert auf schwankendem Eis quer über den See und Kalle hetzt hinterher, bis zum nächsten Uferstreifen. Sie sehen sich strahlend an. Das war wie Segeln, wie Fliegen, fast. Gut, daß niemand auf sie geachtet hat. So was ist bestimmt verboten! Manny, das hätte schief gehen können. Woher hast du gewußt, welche Eisscholle dick genug ist? Warum bist du nicht ins Wasser gefallen? Woher hast du gewußt, wohin das Eis treibt?
Ich wußte es einfach! Manny ist stolz, daß Kalle ihr einfach hinterher geflitzt ist. Du hast vielleicht gefährliche Anwandlungen! Kalle macht kein Hehl aus seiner Angst. Er hat sich die ganze Zeit auf dem schwankenden Untergrund gefürchtet. Er hat immer genau die Sprünge von Manny nachgeahmt. Er hatte es dabei schwerer, denn Manny hatte die Schollen schon in Bewegung gesetzt, schaukelnde, kreiselnde oder vorwärts strebende Bewegungen. Und glatt war es auch, das Eis. Aber schön war es doch! Noch mal? Manny ist in Fahrt. Kalle zeigt auf die andere Uferseite. Da steht Rosalias Großvater. Rosalia sitzt im Rollstuhl. Naja, jetzt müssen sie um den See herumlaufen, sonst gibt es sicher Ärger. Sie rennen wie die Verrückten. Rosalie begrüßt sie sehr bestimmt: Heute müßt ihr mitkommen! Sie sieht traurig aus. Manny versteht das. Es muß schrecklich sein, nicht laufen zu können, ganz schrecklich. Sie flüstert: Ich erzähle dir nachher ein Geheimnis!
Und da hat Rosalia wieder ein Lächeln im Porzellangesicht. Kalle streichelt Manny ganz leise die Hand. Keiner sieht es, nicht einmal Manuela sieht hin. Sie beugt sich tief zu Rosalia herunter und tut, als höre sie dem aufgeregten Mädchen zu. Ihr ist das Blut ins Gesicht geschossen. Und es brennt, es brennt!
Karl schiebt den Rollstuhl und redet sehr verständig mit dem Großvater über das Wetter. Rosalia schwärmt von ihren neuen Kleidern ... wenn ich sehr tapfer nach der Operation übe, bekomme ich zu jedem Kleid passende Schuhe, weiß, rosa, himmelblau. Großvater hat es versprochen. Und dann, Manny weiß gar nicht wieso, verspricht sie Rosalia: Und von mir bekommst du Schlittschuhe, zu Weihnachten vielleicht. Rosalia ist vielleicht tapfer! Viel tapferer als Manny! Wie lange dauert das ganze? Fragt sie. Rosalia weiß es nicht. Der Großvater sagt, daß sie erst wieder im Sommer in Berlin sein werden. Ich schreibe dir! Sagen Karl und Manuela gleichzeitig. Da wird die Porzellanprinzessin wieder ganz aufgeregt vor Freude. Sie redet und redet... Es wird aber trotzdem ein schöner Nachmittag. Rosalie freut sich über das verrückte Geheimnis vom Eisschollensegeln. Wenn die Operation gut geht, wenn... Spekuliert sie. Manny unterbricht: Sie geht gut! Bestimmt! Ich weiß es. Ich kann sehen wohin die Wege gehn... Kalle nickt bestätigend. Rosalie glaubt es und ist auf einmal beruhigt. Sie rollt zum Klavier. Sie spielt nicht sehr schön, aber sie spielt. Kalle hört die Patzer nicht. Manny muß sich Mühe geben ihre Lachfalten zu glätten. Kalle flüstert: Rosalie glaubt ja jeden Mist. Manny, du kannst Hellsehen! Schwöre es, wenns sein muß! Du kannst ja hinter dem Rücken das Fingerkreuz machen! Aber Manny muß nicht falsch schwören. Da ist sie heimlich froh, denn das wäre schon mehr als gemogelt. Die kleine Prinzessin hat auch ein riesengroßes neues Puzzle bekommen, nachdem Manny erzählt hat, wie geschickt der Kalle sei. Es ist die Golden Gate Bridge. Das heißt sie soll es werden, denn als Manny und Kalle sich verabschieden, ist sie noch lange nicht fertig, die Brücke. Rosalia hat mit ihren Fähigkeiten geglänzt. Jetzt hat sie gute Laune. Gott sei Dank!
Es wird langsam dunkel. Zeit zum Vorlesen ist heute nicht mehr. Kalle bringt Manny nur bis zur Treppe vor der Tür und kehrt gleich um. Er darf schon allein im Dämmern nach Hause, Manny nicht. Blöd! Manchmal muß man eben ein Junge sein. Oder so vernünftig sein wie Kalle vielleicht?
Zu Hause liegt ein Telegramm. Es ist von Manuelas Vater. Mutti hat es ungeöffnet auf das Schreibpult gelegt. Sie hängt schon wieder am Telephon. Aber ihr Gesicht sieht eher nach guten Nachrichten aus. Manuela hält das Couvert eine ganze Weile in der Hand. Es leuchtet im diffusen Licht der Straßenlaternen. Manuela knipst die Schreibtischlampe an. Na dann!
Es tut mir leid, es tut mir leid! Ich habe leider keine Zeit! Brief folgt! Papa Manuela hat nie Papa gesagt, nie. Was der alles vergißt! Manuela wird auf einen Brief gar nicht erst warten. Sie überlegt, wie der Vater denkt: In einem Moment ist er ganz ernsthaft bei der einen Sache und im nächsten Moment genau so ernsthaft bei der nächsten. Mutti ist keine Sache, Manuela auch nicht. Eben! Bei ihnen beiden hat er ziemlich lange ernst gemacht. Wenn es ihm einfällt, wird er von Zeit zu Zeit sicher auch beschämt oder traurig sein. Wenn er gerade nichts anderes zu tun hat... Wenn!
Manuela will das gleich auf schreiben. Es geht aber nicht. Bei Lieber Vater! bleibt sie schon stecken. Sie klebt darunter eine ganz neue Photographie: Eis, die tauenden Zapfen am Dach und die in der Fensterscheibe gespiegelten Augen von Karl. Es ist kein Junge, kein Mädchen, kein Haus auf dem Bild. Es zeigt nur dunkle, spiegelnde Scheiben, tropfendes Eis und große, blaue, fremde, Augen. Vater kennt Karl nicht. Darunter schreibt sie: Brief folgt später, Manny.
Der Vater wird lange warten müssen. Wird er warten?
Das Tauwetter hält bis Sonntag an, und es regnet. Es ist naß von oben und von unten. Mutti, was machen wir da? Mutti steht vom Tisch auf, geht zum Telephon und bestellt Karten, Theaterkarten. Das geht ja schnell! Mutti hat gute Beziehungen. Es ist eine Nachmittagsvorstellung, zu der man sehr schwer Karten bekommt. Mutti kann so was! Es gibt ein Musical und das heißt Die Schneekönigin und es wird auf dem Eis getanzt. Mit Tanzen? Tanzen? Da macht Kalle nie mit! Nie!
Auch Manny kann sich manchmal irren. Das mit dem Hellsehen war wohl nichts. Am Nachmittag ziehen sie los. Kalle hat sich fein gemacht! Wahnsinnig ulkig! Mutti hat eingewilligt, daß Manny in langen Hosen geht, das aber auch nur, weil alle, aber auch alle Kleider zu kurz sind. Das kommt bestimmt von den Masern, im Bett wächst man immer. Da wird Manny von Mutti ausgelacht. Gut, sie ist eben einfach gewachsen. Die Hosen sind auch zu kurz. Manny steckt sie in die hohen Lackstiefel und leiht sich von Mutti die kurze Weste, die so schöne goldene Schnüre hat. Am liebsten würde sie noch einen breitkrempigen Hut aufsetzen. So gefällt sie sich.Gut, daß du nicht eitel bist. Lästert Mutti. Die soll mal ganz stille sein. Sie hat sich richtig rausgeputzt, mit Samt, Pelz und Perlen. Für Kalle???
Nein, nicht für Kalle, obwohl der sich laut und anerkennend äußert, sondern für sich selbst. Das kann Manny verstehen. Sie versteckt sich auch in den Kleidern, den Jungskleidern, damit bloß keiner sieht, daß sie ein Mädchen ist und sich gar nicht so stark fühlt, wie sie immer tut. Und Kalle soll das schon gar nicht! Aber Kalle ist ihr Freund... er weiß, daß sie nur ein halber Junge ist. Der Eistanz fesselt alle sehr. Das will Manuela lernen. Kalle will es nicht. Tanzen, das ließe er lieber machen. Aber die Geschichte, die er noch nicht kennt, die hat es ihm angetan. Er bittet Mannys Mutti, sie ihm zu besorgen. Als Manny erklärt, daß die Geschichte eigentlich noch viel altmodischer, langweiliger und auch trauriger sei, als das getanzte Stück mit der ganzen Musik, bittet er trotzdem noch einmal darum. Vielleicht geht es Karl wie Manuela: Man kann nicht alles sagen. Manchmal muß man sich Worte leihen.
Das Ganze geht gut aus und Karl hat es nicht gewußt! Manny hat nichts verraten. Mutti summt auf dem Heimweg. Summen ist fast schon Singen.
Es ist noch nicht so spät, daß Karl der Große kommt. Mutti kann noch vorlesen. Das tut sie auch. Am nächsten Sonntag darf Karl wieder kommen, und dann liest Mutti wieder vor. Da ist nun das Buch in Sonntagskapitel eingeteilt. Auch nicht schlecht, denn Manny hat es bestimmt vorher durchgelesen. Karl hat Geduld.
Manuela schläft in Muttis Bett. Es war einfach so schön heute und morgen ist Montag. Es wird Schule geben, Ärger, Arbeit und Regen – aber kein Eis. Das ist doch schon was!
XEOWYN
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