Was man sich vorstellen kann
Oft sagt man: Oh ja, das kann ich mir gut vorstellen... Und oft kann man es nicht, denn man denkt und empfindet durch das Prisma der eigenen aktuellen Situation, wie sonst auch.
Wie ein Kind, dem die Mama nach dem Frühstück sagt: Nimm doch etwas zu essen mit zu deinem Klassenausflug heute! Und das Kind antwortet: Nein, ich werde nicht hungrig... - im Moment satt, kann es sich eben nicht vorstellen, was es dazu in welchen drei Stunden sagen würde.
Man erfährt also zum Beispiel von jemandem, dass er/sie etwas Grausames erleben musste. Fast automatisch drückt man neben dem Mitleid auch dieses "ich kann es mir vorstellen" aus. Sollte die Person es schon vorher mehrmals gehört haben, darf sie nervös werden, und einfach sagen: Nein, das kannst du sicher nicht.
Ob man sich auch Schönes und Positives vorstellen kann? Und wie man darauf reagieren würde? Das Wichtigste dabei wäre, dass man von der Wirklichkeit nicht erwartet, dass sie einer Vorstellung hundertprozentig entsprechen wird. Und dass manches etwas anders verlaufen wird, als vorgestellt, muss ja nicht enttäuschen. "Anders" bedeutet nicht immer: Schlimmer.
Jetzt, wo sich so viel Böses umher ereignet, muss man sich oft sagen: Ich kann es mir gar nicht vorstellen... Zum Glück gibt es psychische Mechanismen, die die meisten Menschen auch sehr schwierige Erlebnisse überstehen lassen. Eine Vorstellung davon kann grausamer sein, als es für eine Person auch wirklich war; eventuell kommen die Folgen erst später zum Vorschein. Trotzdem - möge man sich nur Gutes vorstellen dürfen...
(Bild aus dem Internet)
Kommentare (9)
@JuergenS
Mit so einer Erinnerung muss man wirklich lange Jahre lang schwer zurecht kommen können. Und da hilft kaum, dass man nicht wirklich schuld daran war. Diesmal kann ich sagen, dass ich mir vorstellen kann, was du erleben müssen hattest, obwohl es etwas Anderes war. Ich weiß, dass ich daran nicht schuld war, und trotzdem werde mir schon immer ab und zu eine Frage wieder stellen müssen: Hätte ich das doch nicht vorbeugen können...?
Liebe Christine,
die richtige Vorstellung einer negativen Situation fehlt, auch wenn man vielleicht glaubt es zu können, falls man sie nicht in ähnlicher Form schon selber erlebt und durchlitten hat.
Wer noch nie einen Arm oder ein gebrochenes Bein wochenlang in einer Gipsbandage trug, weiß nichts von der Mühsal des Betroffenen. Und wer noch nie einen schweren Autounfall hatte, kann sich auch sicher nicht den Moment der Todesangst richtig vorstellen. Außerdem denkt niemand gerne über ein Unglück nach, oder malt es sich auch noch breit in schwarzer Farbe aus.
Mit Entsetzen verfolge ich die Nachrichten und sehe schreckliche Szenarien aus der Ukraine. Ständig sind diese armen Menschen der Angst ausgesetzt, jetzt in der Gegenwart, und dann auch noch in der Ungewissheit ihrer Zukunft. Wie kann ich mich hier, in einem sicheren Zuhause, in ihre Nöte hineinversetzen? Ich versuche es...aber eigentlich ist es ja nur zum Teil so.
Viele Grüße
Rosi65
@Rosi65
So ist das, liebe Rosi. Manches kann man wirklich nur richtig verstehen, wenn selber erlebt. Obwohl es natürlich auch Unterschiede geben kann, zum Beispiel werden die Menschen, die nicht gleich psychisch stark sind, ganz anders ihre schweren Erlebnisse beschreiben. Der Eine weinend, der Andere mit Humor...
Die Situation in der Ukraine ist für mich auch etwas, das meine Lebensfreude einfach kaputt macht. Schon früher musste man immer wieder von irgendwelchen Grausamheiten erfahren, jetzt haben wir Klimawechsel+Corona+Krieg... Die Nachrichten schaue ich mir nicht an; mein Gehirn nimmt Bedrohungen als Tatsachen wahr, und Tatsachen... 😥
Hoffen wir aber, dass es sich doch bald ändert.
Mit lieben Grüßen
Christine
Episodengedächtnis – Erlebnisstruktur.
Wir bauen ab Kleinkind es auf.
Was nie wir gefühlt, erlitten, die Spur,
taucht nicht in der Vorstellung auf.
Vernunft kann sehr vieles nachvollziehen,
dem ist auch rational Geltung verliehen.
Doch das Verstehen, die Empathie,
vollziehen wir ohne Gefühlsbasis nie.
@Manfred36
Genau so ist es, lieber Manfred. Kurz und treffend gereimt. Das kann ich voll
aus eigener Erfahrung bestätigen.
Im Kopf spielt sich eine Menge ab, kann man real alles nachvollziehen, aber die Psyche sollte man nie unter- oder auch überschätzen - je nachdem.
Man muss immer versuchen einen IST-Stand herzustellen und nach vorne schauen, sich strukturieren Schritt für Schritt. Es ist ein wichtiger Prozess,
den man nicht mal nur so eben bewältigen kann. Da verlaufen die Grenzen sehr individuell, weil jeder Mensch eben individuell gestrickt ist.
Dein Kommentar hat mir gefallen. Liebe Grüße zu dir von
indeed
@Manfred36
Genau. Uns sonst - ein faux pas wäre schon immer zu vergeben. Nur wenn absichtlich, und wiederholt, falsch etwas gesagt oder getan - na dann...
Die erlebte Diskrepanz zwischen der Aussage "ich kann mir vorstellen" was der andere durchlebt, mitmacht o.ä. fand ich am krassestens unmittelbar nach dem Tod meiner Frau vor 8 Jahren.
Sogar eine Freundschaft ist durch diese wohlmeinende, aber unbedachte, Äusserung zerbrochen. Statt einfach den Mund zu halten, wenn einem nichts Gescheites einfällt, wird fabuliert, was das Zeug hält.
Nicht gut, ganz im Gegenteil.
@Songeur
Traurige Situationen machen die Menschen oft ungeschickt... Ich habe auch meinen Mann in tragischen Umständen vor 17 Jahren verloren, und ich kann mich auch an Worte, oder Taten erinnern, die nichts helfen konnten, im Gegenteil eben. Selber war ich aber auch mehrmals eine Zeugin, ein Mitmensch, der richtige Worte finden sollte - und nicht gefunden...
Ich glaube, ich konnte all den Menschen, die sich wie ein Elefant im Porzellanladen benommen haben, also mir selbst auch, vergeben. Die Intention zählt, und die war gut gemeint.
ein bisschen kann auch ich mitreden.
Mir ist mal ein, wie sich herausstellte, leicht betrunkener Mann ins Auto gelaufen, an den Folgen starb er.
Im Prozess wurde ich, in zweiter Instanz freigesprochen, weil ich nachweisen konnte, dass er einen unerwarteten Schritt in die Straße gemacht hatte.
Dennoch braucht man Jahre, um damit fertigzuwerden, denn es war ein armer Jugoslawe, und man zweifelt ewig, ob man nicht doch ein wenig......
Kann keiner nachempfinden, muss auch nicht.
grübel inzwischen nicht mehr, es ist 50 Jahre her.