Was haben Sie denn da


Was haben Sie denn da

Während meiner Ausbildung zur Kindergärtnerin lag der Schwerpunkt nicht primär in der Theorie, sondern mehr im Bereich Werken, Gestalten, Musik und Kreativität. So bekam ich den Auftrag, von einem Rind einen Oberschenkelknochen zu besorgen. Der sollte in der Schule zersägt werden, um von den Schülerinnen daraus Schmuckstücke, Brieföffner oder andere kreative Dinge anzufertigen. Ich hatte eine Woche Zeit und ging zu unserem Fleischer, der im Hinterhof noch selbst schlachtete. Dort bestellte ich diesen Knochen, der etwas 40cm lang war und der oben und unten noch mit der großen Gelenkkugel verbunden war.
Ich schleppte dieses Teil nach Hause, nahm den Wäschekessel, stellte den Knochen hinein und kochte ihn stundenlang aus. Dann wurde er gewendet, da die andere Hälfte nicht in den Topf passte. Das Restfleisch löste sich noch immer nicht, also wiederholte ich diese Aktion am nächsten Tag noch einmal. Der Geruch in der Wohnung war unerträglich und die ganze Familie schimpfte oder verspottete mich, denn niemand konnte sich vorstellen, was daraus werden sollte.
Am nächsten Morgen versuchte ich, dieses Ungetüm zu verpacken, ich nahm einen großen Stoffbeutel und deckte die Kugel, die oben rausguckte, mit Zeitungspapier ab. Es war ein windiger Tag und ich musste mit der Straßenbahn fahren, in der noch viele andere Menschen unterwegs waren. Ein Mann drängelte sich durch und riss dabei das ganze Zeitungspapier ab und der große Knochen war für alle sichtbar. Ich wäre am liebsten im Boden versunken, denn alle Gesichter waren entsetzt auf mich gerichtet. Eine ältere Frau sagte: "Was haben Sie denn da?" Ich hatte als Berliner Göre frühzeitig gelernt, schlagfertig und schnell zu reagieren. Also sagte ich spontan und ganz ernsthaft: "Der ist von Oma, sie hat'n appes Been und is jestorben und nun will Opa den Knochen hab'n!" Einige Leute lachten, andere guckten entsetzt oder schimpften laut. Der Fahrer der Bahn hielt, ich musste aussteigen, froh, dass niemand die Polizei gerufen hatte. Ich kam verspätet an, unterwegs immer darauf bedacht, jedem Passanten weit aus dem Weg zu gehen. Johlend wurde ich begrüßt und nach dem ich die Situation aus der Bahn erzählt hatte gab es kein Halten mehr. Selbst unsere Lehrerin amüsierte sich köstlich. Dann wurde der Knochen in viele Teile zersägt, wobei es noch einmal widerlich stank, dann begann jede konzentriert damit, die eigene Idee unter Anleitung umzusetzen.
Es entstanden wunderschöne Schmuckstücke, ich hatte einen asymmetrischen tollen Brieföffner hergestellt, ganz glatt gefeilt und mit Firnis behandelt. Er glänzte wie Marmor, hatte eine wunderschöne Maserung und lag gut in der Hand. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas Edles aus einem Rinderknochen entstehen kann. Diese Geschichte wurde bei der Abschlussfeier in der Aula von der Werklehrerin vor Schülern und Lehrkräften zu allgemeinen Erheiterung erzählt. Ich hatte eine Eins bekommen und der Brieföffner ging durch viele Hände.


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Kommentare (6)

Greta Grünherz

Sehr schöne und spannend erzählte Geschiche, malina!
Danke!
Schade, dass Du keine Bilder von den entstandenen Werken (beigefügt) hast!
Ich finde es überhaupt nicht makaber, aus den Knochen der getöteten Tiere noch etwas Sinnvolles oder gar Schönes herzustellen! Tausendmal - das Leben des getöteten Tieres- wertschätzender, als die "unnützen" Knochen einfach zu verbrennen als "Abfallprodukt"!

Lieben Gruß
Greta💚

malina

@Greta Grünherz  
Danke Greta, leider ist mein wunderschöner Brieföffner durch viele Umzüge verlorengegangen, ich bedaure es noch heute. Meine Ausbildung ist ja schon 60 Jahre her. Lieben Gruß, Malina

Rosi65

Liebe malina,

bis jetzt kannte ich nur "Bone China" (Knochenporzellan), eines der besten und edelsten Porzellanarten die es gibt. Dieses Material zeichnet sich durch sein strahlendes Weiß und eine durchscheinende aber sehr bruchfeste Eigenschaft aus. Es wird mit einem großem Anteil von Knochenasche, meist aus Rinderknochen, hergestellt. 
Ich konnte mich aber nie für dieses Porzellan begeistern, weil ich wohl im Hinterkopf immer die Bestandteile der makabren Zusammensetzung bei der Herstellung sah.

Doch Deine Geschichte ist dagegen ein richtiger "Brüller." Einfach köstlich geschrieben!😄

Beste Grüße
   Rosi65
 

Muscari


Oh, liebe Malina,

Ich kann mir die entsetzten Gesichter der Fahrgäste gut vorstellen, war dies doch ein wirklich makabrer Tascheninhalt.
Aber dann Deine Reaktion: 'n appes Bein von Oma, einfach nur lustig. Berlinerisch eben.

Auch hätte ich nie gedacht, dass man aus einem Rinderknochen so schöne Dinge herstellen kann.
Aber von irgendwoher weiß ich, dass auch heute noch schöne Dinge aus Knochen hergestellt werden. Muss mich mal im Internet umschauen.
Danke für die tolle Geschichte.
Andrea

ehemaliges Mitglied

Echt amüsante Geschichte, und was mich besonders amüsiert ist der Gegensatz: hier die "Steinzeitliche" Verwertung des Knochens für Werkzeug und Schmuck, und da die naturferne Reaktionen der Leute in der Straßenbahn 😂👍.

LG
Arni

malina

@Arni  Ja Arni, die meisten Leute waren entsetzt, Humor war gerade bei den Älteren damals nicht so üblich und junge Leute hatten sich konform und still zu verhalten. Ich denke, gerade in dieser unsäglichen Zeit von Corona brauchen wir mehr Humor und auch den Mut, offen damit umzugehen.
Lieben Gruß, Malina


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