Verwunschene Gedanken XXXV.
Die letzten Jahre
Seinen eigenen Sinnen und Kräften sollte man schon misstrauen. Nicht alles, was man sich noch zutraut, kann auch ausgeführt werden. Ein Weg, der früher nur ein kleiner Spaziergang war, wird nach und nach zu einem Kraftakt, wird mühsam und lang, immer länger, je älter man wird. Die körperlichen Freuden, die einstmals die Würze des Lebens waren, werden immer seltener und müssen vielleicht immer teurer bezahlt werden. All die vielen Krankheiten und Wehwehchen, die früher nur ein müdes Lächeln hervorriefen, die langen Nächte, oft schlaflos, werden häufiger. All das ist einfach nicht wegzuleugnen.
Darüber hinaus aber sollte man nicht vergessen, dass dieses Alter auch Vorzüge mit sich bringt. Man kann seinen Tag einfacher und besser strukturieren. Das allein bringt schon seine Vorzüge. Wenn sich zwei alte Menschen treffen, sollten sie nicht nur von ihrem Rheuma, ihrer Atemnot beim Treppensteigen oder den Schmerzen in den Gelenken reden, nicht nur die Leiden und Ärgernisse des Lebens austauschen. Sie sollten sich eher von all den schönen Begebenheiten und tröstlichen Erlebnissen erzählen, die sie erleben, und das sind gar nicht so wenige, wie viele glauben.
Wir Weißhaarigen sind nicht die Generation, die nichts mehr kann, wir können auch Quellen der Kraft sein, des Trostes und der Zuversicht. Wir kümmern uns um Themen, die meist bei den jungen Menschen noch keine Rolle spielen. Eine der schönsten Gaben des Alters ist für mich z.B. der reichhaltige Schatz an Bildern, die man nach einem langen Leben in sich gespeichert trägt. Dieser Schatz ist immer abrufbar und braucht auch keine Festplatte oder eine Cloud im Internet! Wenn die körperliche Aktivität langsam schwindet, wendet man sich diesen Schätzen mit ganz anderen Voraussetzungen zu als in den früheren jungen Jahren.
Menschen, die seit vielen, vielen Jahren nicht mehr unter uns sind, nehmen noch einmal Gestalt an, leben vielleicht auch in uns weiter. Landschaften, Häuser, Städte, inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert oder sogar ganz verschwunden, werden wieder vor unserem inneren Auge sichtbar. Gebirge, Küsten, die wir vor unendlich vielen Jahren einmal bereisten, sehen wir wie in einem Bilderbuch ganz frisch und farbig vor uns. Wir wurden früher von Wünschen, Leidenschaften und Begierden gejagt, und - wie viele andere Menschen - sind auch wir durch unser Leben gestürmt. Voller Ungeduld, voller Erwartung und Hoffnung erlebten wir unser Dasein. Heute, im großen Bilderbuch unseres Lebens blätternd, wundern wir uns darüber, wie schön und gut es doch sein kann, dass wir der Hetze des Daseins entronnen sind.
Hier in diesem Park der alten Menschen blühen Pflanzen, an die man früher nie gedacht hat. Da ist beispielsweise die Blume der Geduld! Wir werden nachsichtiger, gelassener. (Meist jedenfalls.) Wir geben dem Leben der Natur mehr Raum, damit sie sich entfalten kann. (Von aufgezwungenen Ausnahmen abgesehen.) Das Leben können wir an uns vorüberziehen lassen wie in einem Film, manchmal mit Bedauern, manchmal mit Freude, oftmals auch mit Leid. Wir schauen dem Leben unserer Mitmenschen, unserer Familie oder der Nachbarn zu, wie es weiterfließt, bis auch das eines Tages sein Ende findet.
Dass die Gesundheit naturgemäß an erster Stelle steht und auch stehen muss, ist selbstverständlich. Wobei der heutige Fitness- und Wellnesswahn zu wirklich ausufernden Situationen führt. Alle Welt schreit nach Wellnessurlaub, solcher wird angeboten wie saures Bier! Und abgesehen von wirklich gesundheitsfördernden Maßnahmen in Kur- und Urlaub, die es ja unbestritten auch gibt, ist jedes sogenannte Fitnesszentrum nichts weiter als ein kommerzielles Angebot des entsprechenden Hauses. Der Begriff »Wellness« ist ja nicht geschützt. Jedes Hotel, das irgendwo ein Trimmrad stehen hat oder ein paar Hanteln im Keller, bietet »Wellness« an. Wobei die Wenigsten mit diesem amerikanisierten Wort etwas anfangen können.
Jetzt hat dieser Wahn also auch die alten Menschen erreicht. Warum eigentlich? Wenn ich vorher einigermaßen gut und vernünftig gelebt habe, muss ich diese Späße wirklich nicht mitmachen. Die Natur lässt sich auf keinen Fall täuschen. Alt bleibt eben alt!
Jeder will es werden, sagt ein Sprichwort, aber niemand will es sein! Da hilft weder Botox noch Silikon, weder die Fitnesszentren noch alternative Ernährung, da hilft nur die eigene Einstellung zum Leben, zu seinem eigenen Leben. Die Chance, heute hundert Jahre alt zu werden, wird bei uns weiterhin zunehmen. Warum nicht auch bei dir und mir? Insgesamt ist dabei die Sorge vor einer überproportionalen Ausweitung von Gebrechlichkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit im sehr hohen Alter unbegründet. Das sagt eine Untersuchung des Robert-Bosch-Instituts deutlich aus. Rund 14 000 Menschen über Hundert leben zurzeit in Deutschland, ihre Zahl wird in den kommenden Jahren deutlich ansteigen.
Durch gezielte Interventionen für mehr Selbstständigkeit ist es vermutlich in höherem Ausmaß als bisher möglich, Pflegebedürftigkeit auch bei Hundertjährigen abzuschwächen oder sogar zu vermeiden. Wenn ich mich dafür dann aber mit allen Genüssen des Lebens einschränken soll, auf alles verzichten, was noch möglich ist, - dann, ja dann will ich gern auf den hundertsten Geburtstag verzichten!
Gesund leben, körperlich und geistig voll auf der Höhe sein: ja, unbedingt. Aber das alles durch einen zweifelhaften »Wellnessrausch« zu erleben - nein, das muss ich nicht unbedingt haben! Ich kannte einige »Senioren«, die noch mit 80 jeden Morgen durch den Park joggten. Wie schön, dachte ich damals. Dann erfuhr ich aus berufenem Munde, dass z.B. Arthrose und Rheuma sich auch durch Joggen nicht vermeiden lassen, sondern dass gerade die Schonung der angestrengten Gelenke solche schmerzhaften Begleiterscheinungen vermeiden bzw. vermindern lässt. Und wenn dann manche Menschen davon schwärmen, wie toll sie mit sechzig Jahren noch am Leben teilnehmen, so ist das für sie OK, für mich aber gar nicht der Rede wert! Ob das in zwanzig Jahren auch noch so sein wird - auch mit ihrem Fitnessprogramm - darauf möchte ich nicht wetten.
Die Gesundheit eines Menschen, seine gesamte Konstitution verändert sich im Ablauf seines Lebens. Niemand weiss, was das Schicksal morgen mit ihm vorhat.
Einen Abschlusstext von Grypius, (1616-1664) aus seinen Epigrammen halte ich hierzu als Epilog für passend:
weil du alt, glaub mir,
man lacht allein,
weil du, die du doch alt,
durchaus nicht alt willst sein!
(©by H.C.G.Lux)
Kommentare (2)
Beim Lesen deines Blogs, lieber Horst kam mir das Gebet des älter werdenden Menschen von Theresa von Avila in den Sinn, insbesondere diese Stelle
Gebet des älter werdenden Menschen
.......
Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und
Beschwerden.
Sie nehme zu, und die Lust, sie zu beschreiben,
wächst von Jahr zu Jahr.
Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen,
mir die Krankheitsschilderungen anderer
mit Freude anzuhören, aber lehre mich,
sie geduldig zu ertragen.
Lehre mich die wunderbare Weisheit,
dass ich mich irren kann.
........
Mit dem älter oder alt werden ist es wie mit allen anderen Dingen auch, es gibt immer zwei Seiten. Aufhalten lässt es sich nicht, aber wohin ich den Fokus richte, da hat man schon eine Wahl. Danke für deinen zum Nachdenken anregenden Text.
Herzlichen Gruß
Brigitte
Eine der erhabensten Leistungen im Erdendaseins ist es, in selbst erworbener Würde alt zu werden und dies Tag für Tag mit unerschütterlicher Bewusstheit zu leben und zu gestalten.
Wer in hohem Alter solch eine Lebensbetrachtung zu verfassen vermag, steht im alles überragenden Zenit…
..achtet und bewundert
Syrdal