Ich nähere mich unaufhaltsam in meinem Alter dem, wo unsere Eltern von uns gegangen sind. Der Vater, ein Fünfer (1905 geboren), ging mit neunundachtzig Jahren heim. So habe ich heute im Vergleich noch acht Jahre, um ihn einzuholen.

Das sind die acht Jahre, die ich damals ohne Kontakt mit dem Zuhause, zu den Eltern lebte, besser zu leben hatte/wollte. Ich weiß nicht, was dem Vater an Leiden in dieser Zeit widerfuhr. Ich erfuhr nur wenig davon, weiß aber inzwischen, dass er einen Schlaganfall hatte, weshalb ja die Wohnung, in der wir nach dem Kriege residierten, gegen eine kleinere mit Aufzug im Treppenhaus eingetauscht wurde. Mich riefen die Geschwister, als Vater mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag.

Vater war im Krieg verwundet worden. Nicht alle Splitter hat man ihm entnommen. Die drückten recht oft auf einen Nerv. So musste ich, als ich noch im Elternhaus lebte, ihn bei einer gemeinsamen Radtour nach Hause radelnd schieben.

Vergleich: wir haben keinen weiteren Krieg mitgemacht. Und nun bin ich längst zu alt, um an einem der jüngsten Kriege mitzumachen, Vater damals ungewollt eingezogen, ich auch für die Bundeswehr, der ich freiwillig vierundzwanzig Jahre angehörte und die mich ja ohne Blessuren entlassen hat.

Unsere Mutter hatte den Ehrgeiz, die Hundert voll zu machen. Auf achtundneunzig Jahre hat sie es gebracht, wobei die letzten Monate ein Kampf für sie gewesen sein müssen, eben weil sie spürte, ihr selbstgestecktes Ziel nicht mehr zu erreichen.

Nach Vaters Tod besuchte ich Mutter, so weit es die Entfernung zuließ, regelmäßig. Sie war müde geworden. Müde vielleicht, weil es nicht mehr ihren Garten gab, müde wohl auch, weil ihr erster Lebensinhalt, unser Vater, mit dem sie fünfundsechzig Jahre minus ein paar Tage eine Ehe führte, aus der sieben Kinder hervorgingen. Sie überlebte Vater noch um dreizehn Jahre.

Müde war sie, gebeugt versuchte sie die nötigen Gänge in ihrer letzten, altersgerechten Bleibe ehrgeizig ohne sonderliche Hilfe zu erledigen. Unsere älteste Schwester hatte sie zu sich in ihre Nähe geholt. Sie hat doch viel an Hilfe gewährt. Unsere jüngste Schwester hatte die Finanzen übernommen. Unser Vater hatte genügend vorgesorgt.

Wer eben konnte, schaute bei Mutter herein. Man spielte zur Unterhaltung mit ihr. Doch allzu lange war das nicht. Müdigkeit überfiel sie oft schon nach einer halben Stunde. Also fand man sie stets im Sessel ruhend, zugedeckt mit einer von ihr gehäkelten Wolldecke.

Ich saß dann nach leisem Eintreten in ihrem Zimmer ihr gegenüber und beobachtete sie. Wenn sie aufwachte oder ich sie beim Eintritt doch geweckt hatte, strahlte sie mich an: „Ach, mein Junge! Mein großer Junge!“ – war ich doch der Erste im Kinderreigen. Sie erkannte uns ohne Brille, war bei klarem Verstand.

Bis man mich anrief und das langsame „Abschalten müssen und nicht wollen“ zu erkennen war. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich neben sie an ihr Krankenbett. Ein schweres Atmen, ein schwaches Röcheln. Ich nahm ihre Hand und versuchte, so wie ich es bei Vaters Liegen im Koma auch versucht habe, mit ihr Kontakt aufzunehmen.

Leise blies ich, wie bei Vater auch, den Familienpfiff „Zieht euch warm an!“ (aus dem Lied der Wolga-Treidler "Эй, ухнем!"). Ob sie Beide noch erfasst haben, was ich ihnen mit auf den Weg geben wollte?!

Da liegen sie nun Beide zusammen in einem Urnengrab, ein Enkel liegt bei Ihnen. Bis auf unsere älteste Schwester haben wir es recht weit bis zu ihnen. Wir wohnen weit verstreut voneinander. Aber mitgegeben haben sie uns so vieles, was sie liebten, was in uns und unseren Kindern weiterlebt.

Vergleich: doch, doch wir gleichen ihnen. Strebe ich vielleicht auch die Hundert an?

ortwin



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Kommentare (1)

Traute Ein schönes beschütztes Leben habt ihr Eurer Mutter gegeben, als Dank, dafür, dass sie Euch auf die Welt brachte und ein leben lang beschützte und liebte.
Ja das Altersgen vererbt sich, aber man könnte es durch ein ganz ungesundes Leben wirkungslos machen.
So zum Beispiel ein Alkoholiker, ein Suchtkranker.
Aber das ist bei Dir nicht der Fall und die Medizin macht es möglich, dass Du noch 6 , 7 Jahre da zu zählen darfst.
Alles Gute und weiterhin interessante Ausschnitte aus Deiner Familienchronik.
Mit freundlichen Grüßen,
Traute

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