Da kommt ein kleines Wesen zur Welt, es möchte gerne, doch es gibt Probleme: die Nabelschnur um den Hals, Atemnot, es läuft schon blau an. Eine schwierige Geburt für unsere Mutter. Aber das kleine Schwesterchen kommt durch. Unsere Nummer „vier“ in unserer Familie, nun immer ängstlich und scheu. Mit den Jahren verwächst sich die Furcht, das Mädchen passt so ganz und gar in unseren „Club“, unsere Ille braucht halt in manchem etwas mehr Anlauf.

Kindelieb ist Ille. Sie spielt mit den kleineren Nachbarskindern, passt auf sie auf. Als da ein Ackerwagen mit seinen Pferden rückwärts den Berg hinunter rollt, geradewegs auf die da spielenden Kinder, reißt sie das eine Mädchen noch rechtzeitig zur Seite. Als die Gefahr vorüber war, stürmt Ille ins Haus zur Mutter: “Mutti, der Elke ist beinahe etwas passiert!“ Dass sie selbst in Gefahr war, davon redet sie nicht.

Was soll sie nun lernen? Beim Kempinski in Bonn geht sie in die Kochlehre, schildert stolz, wie sie die einzelnen Etappen mit Erfolg durchläuft. Und dann wagt sie alleine die Wanderschaft nach Augsburg.

Alleine, alleine fort vom Zuhause, vom Nest mit den sieben Kindern – die Ältesten waren ja auch schon draußen. Und so sucht sie sich einen Freund, so einen, der auch aus einer kinderreichen Familie stammt, das zwölfte Kind einer Eisenbahner-Familie, die in so einem Häuschen an der Bahn nach Ulm wohnte. Ein Nest mit viel Trubel.

Geheiratet wurde, Erwin war ein Kran- und Bagger-Führer. Es kamen Kinder nach und nach, sechse an der Zahl. Die wollten gesättigt werden. Also wagte Ille den Schritt in die Selbständigkeit, eine Gaststätte wurde gepachtet, Ille stand in der Küche, machte fast alles alleine. Und Erwin war der beste Gast. Erwin war ein Waffen-Narr und tat sich als Falkner um. Sie muss ihn schon geliebt haben, sonst gäbe es wohl nicht die Kinder.

Unsere Mutter fuhr oft von Bonn nach Bayern, um zu helfen und zu trösten. Unser Vater durfte nichts davon erfahren, wie schlimm es da zuging (warum eigentlich nicht?). Auch Geschwister, die nahebei wohnten standen Ille bei. Dann war Schluß, die Brauerei spielte nicht mehr mit. Scheidung, Ille nahm die Kinder an sich.

Die Kinder wurden groß, jedes erlernte einen Beruf. Und dann heirateten sie nach und nach. Auf bayerische Art, so mit allem, was zu einer Hochzeit in Bayern dazu gehört. Und Ille wurde Großmutter – ich habe nicht gezählt, wie viele Enkel es sind – also unsere Eltern haben vierundvierzig leibliche Nachkommen … ich könnte mal nachzählen.

Erwin war gänzlich verschwunden – wir wissen nicht, ob und wo er gestorben ist. Ille hatte noch einmal geheiratet, ist nun Witwe. Das Autofahren hat sieaufgegeben, wozu hat man schließlich liebe Kinder?!

Als ich zurück nach Berlin umziehen wollte, habe ich noch einmal Ille besucht, es geht ihr gut mit ihren dreiundsiebzig Jahren, abgesehen von den altersüblichen Wehwehchen. Unsere Ille.

Und nun bin ich in Berlin. Ich bin rübergefahren, dahin, wo wir damals wohnten. Da fing es an – nee, nee: wir wohnten ja schon draußen in Eichwalde, da stand das Körbchen im Garten unterm Kirschbaum mit Ille drin
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ortwin

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Kommentare (4)

ortwin Ich schrieb es schon einmal: ich werde wohl noch dreißig Jahre brauchen, Berlin und sein wunderschönes Umland (wieder) kennen zu lernen. Wer hier nicht weiß, was er mit sich anfangen soll, der hat sein Leben noch nicht erlebt. Wir werden ungeduldig, wenn wir mal Momente haben, wo wir nichts unternehmen dürfen. Könnt ihr euch vorstellen, wie es da mit meinem Hobby Modelbahn weitergehen soll?

ortwin
ortwin Ich schrieb die Geschichte über meine Schwester.
Im selben Moment kommt von einer ihrer Töchter, der Ältesten, Post mit der Bitte, ihr doch bei der Familienforschung behilflich zu sein. Na, ich habe sie nach Berlin eingeladen, vielleicht kann sie sich aus ihrer Pension im Oberallgäu losreißen und hier ein paar Tage zum "Nachhilfe-Unterricht" verbringen.

ortwin

nixe44 ... mit viel Grünfläche und viele Seen.
Meine Bekannten die ich oft besuchte, wohnten in Zeuthen, Königs Wusterhausen, also diese Ecke.
Weil unsere Bekannten aktive Wassersportler waren, durften wir einen Bootsurlaub
auf den Berliner Seen verbringen.
Nein, sie waren keine Großgrundbesitzer, sondern Normalverdiener.
Mit etwas Geschick, handwerklichem Können und gutem Organisationstalent startete unsere Bootstour. Zu unserem Wasserwandern gehörten ein kleines Segelboot und 3 Ruderjollen(dav.1 mit Wartburg-Motor).
Es war ein schöner Urlaub und wir lernten Berlin und Umgebung von der Wasserperspektive aus kennen(1982).
LG Monika
Juxman Die Geschichte eines Menschen, kurz und bündig erzäglt. Und vielleicht dadurch so eindrucksvoll. Danke.Lieben Gruß, Juxman Heiner.

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