Tragödie der Wildnis.



Tragödie der Wildnis.
Es war Winter, und über die endlosen Weiten der Sibirischen Taiga, fegte ein eisiger, melancholisch heulender Schneesturm hinweg. Seit Tagen beherrschte dieser alles und wie so oft, war kein Ende  abzusehen. Das geheimnisvolle Pfeifen jener  Nordwinde, was ihr klagendes Stöhnen zeitweise übertönte, kündigte Dramen an wie sie nur die Wildnis hervorbringt. Doch wer mit dieser lebt, egal ob Mensch oder Tier, wird seine ihm vorbestimmte Rolle in einem solchen Stück spielen; bis zum bitteren Ende.
Weil vom Hunger getrieben, der Kälte trotzend, hetzten dort Wölfe einen Hirschbullen vor sich her. Von einer schwarzgrauen Wölfin geführt, kannten diese kein Erbarmen. Immer wieder drängten sie das Tier in die hohen Schneewehen des Waldes, um es zu ermüden. Das Angstsekret riechend, welches seine Hufe absonderten, ließ dabei die Meute, wie in einen Jagdrausch verfallen. Doch auf einer Lichtung, die frühe Nacht schwärzte schon den Himmel, stellte sich der Bulle ihnen zum Kampf. Laut schnaufend, senkte er sein mächtiges Geweih da zu tief nach vorn und wühlte mit ihm drohend den gefrorenen Boden auf. Sich dabei im Kreis drehend, weil vom Wolfsrudel umzingelt, blieben seine Peiniger so kurzweilig auf Distanz. Aber letztlich war der Erfolg ihrer Angriffe, dadurch nicht wirklich zu verhindern.
Weil Chancenlos, nur mit dem Mut der Verzweiflung kämpfend, verletzte er bald einige Wölfe schwer. Doch änderte dies nichts. Jaulend, winselnd, kamen sie weiter von allen Seiten und schlugen ihm ihre Zähne ins Fleisch. Sein Fell dampfte vor Erregung und bald färbte sich der Schnee um ihn herum, - tief rot. Verlor er doch wegen der klaffenden Bisswunden, hauptsächlich an seinen Flanken, große Mengen Blut. Es war ein grausiges Bild. Was noch entsetzlicher wurde, als sich die Wölfin, das Leittier, in seinen empfindlichen Nüstern verbiss. Beim Versuch, nach dieser zu treten und sie abzuschütteln, sprang ihm dann ein großer Wolfsrüde an die Kehle. Beide nicht mehr los werdend, bäumte sich der Hirschbulle noch ein paar Mal hoch auf, bis er mit Angst in den Augen und vor Entkräftung zitternd, willenlos zusammenbrach. Sein Schicksal war damit besiegelt. Durchtrennte ihm doch der Wolfsrüde am Hals jetzt die Lebensader. Röchelnd, mit weit aufgerissenem Maul, hauchte dann, so dieser einst herrliche Recke, sein Leben aus. Da lag nun der Kadaver von dem einst prachtvollen Tier, welches durch die natürliche Auslese, in diesem ungleichen Kampf, zugrunde gehen musste. Fast, wie um ihn trauernd, hörte langsam der Sturm auf zu wehen und die uralten Tannen neigten ihre mit Schnee beladenen Äste tief zu Boden.
Was dann geschah, lässt nur erahnen, mit wie viel Ehrfurcht diese grauen Räuber ihr Leittier akzeptierten. Denn während die Wölfin, mit dem Recht eines Alphaweibchens als erste das Opfer in Besitz nahm, hielten sie den von ihr, ihnen gebührenden Abstand. Auch senkten alle unterwürfig die Häupter. Trotz der Fressgier jedes Einzelnen,
wagte es keiner, diese Hierarchische Ordnung zu unterwandern. Ungewöhnlicher Weise,
machte sich die Wölfin aber nicht gleich über die besiegte Beute her, sondern fing erst ein langes, herzzerreißendes Geheul an. Dann -, wie bei einer Königin, die ihre Vasallen nach einer Schlacht zum Gebet auffordert, stimmte das ganze Rudel mit ein. Ob sie auf diese Weise auch um ihre Gefährten weinten, welche durch den Hirschbullen schwer verletzt, die nächsten Tage nicht überleben werden,  oder einfach nur den Himmel an bellten?  Nun -, wer weiß das schon so genau. Als danach, aber das große Fressen begann, schlug die Wölfin sich den Magen voll und verließ das Rudel.
Sie lief zu einer Höhle, wo sonst, ihre fünf hungrigen, neun Wochen alten Welpen, warteten. Dort angekommen, würgte sie einige Fleischbrocken raus, um jene damit zu füttern. Doch, der Bau war leer. In der Luft, so wie am Boden, witterte sie, das ein Mensch da war, welcher diesen Gewalt an tat. Auch spürte ihre sensible Gefühlswelt, deren durchlebte Angst. Alles ab schnuppernd, so als wollte sie das hier geschehene rekonstruieren, lief die Wölfin  nervös hin und her. Ihr Puls raste und es dauerte nicht lang, bis sie sich dazu entschloss, den Menschenspuren zu folgen. Nur wenige Meilen von ihrem Bau entfernt, kam zur gleichen Zeit Wassili, ein Wilddieb, von der Jagd bei seiner Frau zu Hause an. Mit  ihrem Kleinkind bewohnten beide, ein am Rande einer Siedlung stehendes, wohl hundert Jahre altes Holzhaus. Weil frisch dort hin geheiratet, zeigte Wassili, voller Stolz, seinem gerade anwesenden Schwiegervater, den Erfolg seiner ersten Pirsch. Dazu zog er fünf leblose Wolfswelpen aus seinem Rucksack und legte diese vor ihm auf den Fußboden. Aber statt eines bewundernen Staunens, stand dem Alten das kalte Entsetzen im Gesicht. Verriet ihm doch deren Fellzeichnung,
sie gehörten zu der wegen ihrer Intelligenz hier bekannten und von vielen gefürchteten, schwarzgrauen Wölfin. Oh du Gottloser, rief dieser streng gläubige Mann, Wassili zu. Was hast du getan? Nicht nur die Welpen, nein, auch das Muttertier hättest du zur Strecke bringen müssen. Weil diese ihren Nachwuchs jetzt suchen wird, ist nun unsere ganze Siedlung in Gefahr. Sich bekreuzigend, erzählte er ihm dann gruslige Schauergeschichten über dieses Tier, sowie von Männern, die von der Jagd auf jene Wölfin, nie zurückkehrten. Selbst bei einer Lappenjagd, so wusste er zu berichten, war ihr nicht bei zukommen. Sie durchbiss einfach die Schnur  und  entkam  mit ihrem Rudel immer wieder, dieser ihnen sonst tot bringenden Einkesselung. Wassilis Frau, Andruscha, die bei der Unterhaltung weiter weg am warmen Ofen stand,  erschrak plötzlich. Sprang doch eines der tot geglaubten Wolfsjungen überraschend auf. Verängstigt wie ein Kind, dann in ihre Richtung laufend, versteckte es sich winselt hinter ihrem weiten Rock Doch Wassili griff sich den Welpen wieder. Hob diesen hoch und erwürgte ihn. Das mit ansehend, kamen Andruscha die Tränen. Denn weil tierlieb und zart beseelt, zerriss es ihr das Herz. Leise schluchzend, drehte sie sich weg und als sie das tat, drang durch das Fenster ein dämonisches Geheul.
Die Wölfin, jene Mutter der Welpen, war angekommen. Irgendwo da draußen, wird sie nun tagelang warten und in den Nächten die Siedlung umschleichen. Um dem schnell ein Ende zu setzen, schickte Wassili ihr seine beiden Hunde entgegen. Groß und kräftig wie die waren, konnte man erwarten, dass diese sie vertreiben oder gar zerreißen. Aber eine Wölfin, welche ihre Jungen zurück fordert, wird zu der ihr angedichteten Bestie.
Es lässt sich nur vermuten, welch ein Drama da stattfand.
Denn als die Hunde sie attackierten, schlug deren anfangs, dominantes Grollen und Geknurre, bald in Todesschreie um. Wassili bekam eine Gänsehaut. Fühlte er doch, dass er die beiden sinnlos geopfert hatte.Tage später dann, als das Vieh in den Ställen der Siedlung,  nachts nicht mehr nervös wurde, hieß es, die Wölfin wäre fort. Man hoffte, diese hätte die Welpen aufgegeben. Doch, dem war nicht so. Denn oft noch, stand sie wie die Wächterin der Sonne, auf einer Anhöhe im Morgenrot, und schaute in jene Richtung, wo da, irgendwo, ihre Jungen sein müssten.
Vor Sehnsucht nach ihnen fiebernd, stieß die Wölfin dabei Klagelaute aus, die unbeantwortet verhalten in der Ferne. Ob es nun der Himmel oder die Hölle war, was ihr Schicksal steuerte, ihr Mutterherz sollte erneut, noch einmal richtig leiden. Geschehen konnte dieses, als Andruscha um Felle abzuliefern, mit ihrem Kind auf einem Pferdeschlitten, unterwegs, in die nahe gelegene Nachbarsiedlung war. Der Zufall wollte es, das sie hierbei auf die Wölfin und dessen Rudel traf. Weil einige von ihnen, zwischen den Bäumen laufend ihr gefährlich nahe kamen, wendete sie vorsichtshalber den Schlitten, um wieder nach Hause zu fahren. Doch für diesen Versuch, sich der anbahnenden Gefahr, schadlos zu entziehen, war es längst zu spät. Das spürte auch der Hengst welcher den Schlitten zog. Darum, nun sich nicht mehr zügeln lassend, galoppierte er von Angst besessen, entlang dem ihm vertrauten Weg, in Richtung Heimatstall. Unter den Wölfen machte sich derweil die Hysterie breit und eigentlich den Menschen fürchtend, war es dieses Mal aber ganz anders. So, als wollten sie Blutrache für das, was durch Wassili, ihrem Leittier der Wölfin angetan wurde, stürmte die Horde den Flüchtenden nach. Andruscha erkannte, dass ein Entkommen vor ihnen nicht möglich war. Darum schwor sie bei allen Heiligen dieser Erde, wenn kein Wunder geschieht, ihr Kind notfalls zu ersticken. Auf keinen Fall aber, sollte es ein schmerzvolles Ende durch jene Raubtiere erfahren. Hilflos, auf diesem eigentlich für den Holztransport flach gebauten Schlitten sitzend, fand Andruscha auf dessen glatten Boden kaum noch halt. Doch erst in einer Biegung, bei der eine Unebenheit diesen aus der Spur warf, schleuderte es sie und ihr Kind von ihm herunter. Während der Hengst weiter lief,  kamen nun die Wölfe heran. Gleich, um jene verlorenen Seelen einen Kreis bildend, demonstrierten diese ihnen, deren hoffnungslose Lage. Im Schnee auf dem Rücken liegend, drückte Andruscha ihr Kind jetzt ganz fest an sich, schloss die Augen, und fing lautlos an zu beten. Wie viel Zeit dabei verging vermag man nicht zu sagen. Doch  betete sie so lange bis sich ein dunkler Schatten über ihre Augenlieder schob. Regungslos vor Angst, benässte Andruscha sich. Sie wagte weder zu atmen noch zu gucken, was das wohl ist.
Warum auch. Weil ein heißer Hauch ihr kaltes Gesicht streifte, wusste sie  es ohnehin. Es war der Tod, in Gestalt eines Wolfes. Wegen einem Lachen ihres Kindes und dessen Worte wie, Mama, Wauwau, da Wauwau, öffnete Andruscha, auf alles gefasst, dann aber doch die Augen. Was sie nun sah, war die schwarzgraue Wölfin, welche gerade das Kind ab schnupperte. Nicht wissend um die Gefahr, fasste dieses mit seinen kleinen Händen, sie  dabei an die Lefzen. Dennoch wurde daraus kein Spaß. Auch wenn das Tier das duldete, zeigte es letztlich, durch angelegte Ohren und knurrendem Zähne fletschen, sein Missfallen darüber. Jene Drohgebärde beibehaltend, fing dann die Wölfin an, bei Andruscha am Kopf umher zu riechen. Der tierische Speichel, welcher ihr während dessen aufs Gesicht und in die Augen tropfte, brannte zwar wie Feuer, doch wagte sie keinen Wimpernschlag. Es war wohl nur Glück, dass das Interesse der Wölfin, mit mal einem Stück Fell galt, auf dem Andruscha mit der Schulter lag. Irgendwie, fiel dieses wohl vom Schlitten mit runter und gehörte zu eines ihrer verschollenen Jungen. Weniger aggressiv, aber dafür mehr erregt, riss die Wölfin nun daran herum, bis sie das Fell hervorgezogen hatte.  Dann beleckte es sie zärtlich, urinierte auf die Stelle wo es zuvor gelegen, und verschwand mit diesem, zwischen den Bäumen der Taiga. Als sie schon nicht mehr zusehen war machte nun auch der Rest des Rudels auf diese Stelle hin. Erst dann folgte sie ihr. Die Gefahr schien vorüber, und obwohl in Andruscha noch die Angst steckte, war sie ein wenig gerührt von dem gerade erlebten. Denn die Wölfe in ihrer Herrlichkeit, zeigten so viel Großmut ihr gegenüber, wie es ein Mensch für diese Tiere nie aufbringen würde. Hatten diese doch, warum auch immer, sie und ihr Kind verschont. Nach einem Augenblick der Stille,
durchdrang das schrille Geläut von Glöckchen aus Messingblech den Wald. Es waren Glöckchen, wie sie nur Andruschas Hengst am Geschirr trug.
Weil dieses Tier ganz verstört allein zu Hause an kam, hatte sich Wassili mit ihm und ein paar Männer, gleich auf die Suche nach ihr gemacht. Nun angekommen, sprang er vom noch fahrenden Schlitten runter, um seine Frau und sein Kind in die Arme zu nehmen. Sie drückten sich innig, wie es  bis da schon lange nicht mehr vor kam, und nach dem Andruscha ihm erzählt hatte, was ihr wiederfuhr, versprach er,
die schwarzgraue Wölfin mit samt deren Rudel, dem garauszumachen.
Aber genau das wollte Andruscha nicht und gab ihm zu verstehen, sollte dieses jemals passieren, ihn und die Siedlung zu verlassen. Noch hundertfach, wurde darüber berichtet was damals geschah. Doch die Wölfin selbst hat man nie mehr wieder gesehen. Einige sagen, diese wäre weitergezogen um sich ein neues Revier zu suchen. Andere wiederum behaupten, ein Hobbyjäger hätte sie erlegt. Nun, was davon auch immer stimmen mag. Andruscha, so weiß man, schloß die Wölfin,  jedes Mal in ihr Gebet ein und an langen Winterabenden, wenn der glitzernde Schnee im Mondlicht die Nacht erhellte, saß sie noch oft in ihrem Holzhaus am Fenster, um in der Ferne das Heulen der Wölfe zu hören….
Horst Husner


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