Theodor Fontane - ein lebendiger Klassiker


A.St. R.: Fontane-Aufsatz II




- Der Aufsatz wird noch ergänzt -






~ In Neu-Ruppin, im Fontane-Land, wo man sich zum Dichter auf die Bank des Mitlesens oder der Wanderungen setzen kann ~



Theodor Fontane -

ein lebendiger Klassiker, ob für die eigene Lektüre oder für Bildungserlebnisse in der Schulbank, ob für Deutsch oder Religion oder Geschichte



(Aufsatz zu "Literarisches Stichwort GOTT im Spannungsfeld von Literatur und Theologie“. Folge 2007/XLI)



Gelesen (oder verfilmt...) wird heute der Realist Thoeodor Fontane hauptsächlich wegen seiner Romane, ob „Effi Briest“, ob „Irrungen, Wirrungen“ (der letztlich in NRW als Zentral-Abitur-Text absolviert wurde), ob "Der Stechlin", ob sein früher Kriminalroman "Unterm Birnbaum" (ein spannender Sozialkrimi).

Diese Texte sind virtuose Zeugnisse materieller, psychologischer, sozialer und religiöser Rollen- und Standeskonflikte aus preußischen Landen - im Rang des europäischen Realismus.

Auch seine Balladen erfreuen sich in allen Stufen des schulischen Interesses, ob als Quiz-Surrogate bei Günther Jauch, ob als abzufragendes Kanonwissen in Unter- und Mittelstufen. Ich verweise nur auf „Die Brücke am Tay“ (übrigens ein Gedicht zur „versäumten“ Weihnachtsfeier zwischen Eltern und Sohn): Erlebnisse und Fiktionen von gestern, für heute und morgen, wenn die Begeisterung der Lehrer dazu reicht, d.h. den sprachlichen und geistigen Reichtum vermittelt.

Nicht nur zur Pfingstzeit (vgl. den ersten Arbeitstext) oder anlässlich des „Christfestes“ – nein, häufig überrascht mich folgender Gedanke:
Wenn und ob und wie Priester, Bischöfe, Theologie-Professoren oder gar Päpste in ihrer geistigen Selbst- und Themenisolierung auch kritisch-religiöse Dichtung, z. B. von Fontane, zur Kenntnis nähmen… - ob zum Thema Liebe mit oder ohne Ehe, Sonntagspflichten, Naturliebe und Leben mit Tieren, ob Glaubensfreiheit: aufgeklärtes Leben, soziales Streben und poetisches „Weben“ (wie das fast unbekannte Wort für „Struktur“ lautet) – ob von Gegenwarts- oder klassischen Dichtern.

Das Stichwort „Judentum“ bei Th. F. habe ich hier ausgespart.

Lediglich zwei kleine Sprüche sollen mein Interesse an Fontane demonstrieren, ohne dass ich sie hier extra „auslege“:

„Sei heiter!
Es ist gescheiter
Als alles Gegrübel:
Gott hilft weiter –
Zur Himmelsleiter
Werden die Übel.“


Und eine Fontanesche „Schulscene“:


Lehrer: „Nenne mir vier Tiere in Afrika.“ - Schüler: „Drei Löwen und ein Rhinozeros“.


Beide „Textszenen“ zeigen, dass hier ein Poet denkt und schenkt; einer, der Natur- und Sozialgeschichte, Religion und Pädagogik „er-kannte“ und gestaltete als Exempla humana. Für ein Leben in Heiterkeit und Freiheit: „aufgeklärt“ heißt: unverbildet erzogen.


Ein Überblick zu den von mir ausgewählten Texten:


1. Gedicht zu kirchlichem Anlass: „Pfingsten 1850“

2. Zu Glaubensfragen: Gedankliches zu den Religionen: Christentum und Humanität


3.1. – 3.4. Kritisch und ökumenisch gedacht von Th. F.: Über Katholizismus und Protestantismus

4. Thema Tierliebe: das Gedicht „Der Kranich“

5. Wegen Kulturbewusstsein, das Gedicht „Kirchenumbau“

6. Urgeschichtlich und aktuell: seit der „Arche Noah“: „Es kribbelt und wibbelt weiter“

7. Dezemberüberraschung: „Des armen Mannes Weihnachtsbaum“

8. Lektüre-Hinweise.:


Fontane-Texte:

Text 1:
Theodor Fontane:
Berlin 1850


Pfingsten ist das Fest der Freude,
Das da feiern Wald und Heide. (Uhland)


Pfingsten war’s! nach langen Jahren
Kehrt ich heim zur Vaterstadt,
Hatte Sehnsucht nach den Laren
Und die Fremde herzlich satt.
Tanzte schon im Kolosseum,
Rutschte schon im Tivoli,
Schlürfte Kaffee im Odeum –
Und Bouillon bei Stehely.

Fröhlich kam ich hergeschlendert
Durch das Anhaltiner Tor, -
Gott, wie kam mir so verändert
Alles in den Straßen vor.
Todesstille aller Orten;
Nur ein Polizistenpaar
Forschte nach, ob hier und dorten
Noch ein Laden offen war.

Vor dem elterlichen Hause
Stand ich endlich im Portal,
Schellte dann mit mancher Pause
Wohl ein halbes Dutzend Mal.
»Das ist ja zum Geierholen!
Aufgemacht! Potzsapperment,
Steh hier draußen wie auf Kohlen,
Aufgemacht! Mordelement.«

Endlich kroch des Hauses Stütze,
Ein erkrankter Greis, hervor,
Eine weiße Zipfelmütze
Zog er über Stirn und Ohr.
»Welch ein Fluchen! wie beschädigt,
Wie verdorben bist du – Kind.
Bete, bete, - geh zur Predigt,
Wo die Hausbewohner sind.«

Schier verwundert ging ich weiter,
Und es war mir just im Sinn
Nicht so lustig, und so heiter,
Wie ich das gewöhnlich bin.
Langewelle, Durst und Ärger
Trieben mich ins Türk’sche Zelt,
Wo ich schnell ‚Johannisberger,
Vierunddreiß’ger’, mir bestellt,

Aber ach, den toten Wänden
Sprach ich mein Verlangen aus,
Denn von dienstbeflißnen Händen
Fand ich keine dort zu Haus.
Endlich ließ im schwarzen Fracke
Sich ein Kellner vor mir sehn,
Eine furchtbar dicke Backe
Ließ ihn nicht zur Kirche gehn.

Und ich fordre heftig wieder
Meinen Vierunddreiß'ger mir;
Sieh, da sinkt der Kellner nieder
Und ohnmächtig wird er schier.
»Gott im Hummel«, ruft er kläglich –
»Geh nicht; mit ihm ins Gericht,
Trinken will er - feiertäglich!
Ach, er weiß nicht, was er spricht.«

Lächelnd meint ich: "Nun, mit Biere
Will ich auch zufrieden sein,
Aber brocke mir Lektüre
In den Gerstensaft hinein."
Er verklärte sich; die Bibel
Bracht er freudestrahlend mir
Ein Gesangbuch, eine Fibel,
Aber - Wasser nur statt Bier.

Doch das schien mir zu vergnüglich,
Und ein nicht verdientes Glück,
Ich begab mich unverzüglich
In die fromme Stadt zurück.
Dorten wurde höchst moralisch
Ganz urplötzlich mir zu Sinn,
Oder war's nur theatralisch,
Kurz, ich ging zur Kirche hin.

Wunderbar! - Zur Andacht riefen
Priesterwort und Orgelton,
Aber die Berliner schliefen
Allesamt und schnarchten schon.
Mir zur Seite sprach im Traume
Eine Köchin äußerst fromm:
„Wilhelm, komm! im Jrienen Baume
Ist Musik und Tanz; - oh, komm.“


*
Angaben:

Zur Entstehung:

Das Gedicht entstand im Jahre 1842; verblieb aber über Fontanes Tod hinaus im Nachlass verborgen. Entstanden im Januar 1842; zuerst gedruckt in der Berliner „Vossischen Zeitung“. Nr. 51. 26. Oktober 1924. -
Text und Erläuterungen aus: Th. F.: Gedichte. Bd. 2. Große Brandenburger Ausgabe. Berlin 1995. S. 283ff.; wie auch die anderen daraus zitierten Texte in der handschriftlichen Diktion F.s.)

Zum Kontext:
Zu Neujahr 1842 hatten, wie die Kulturzeitschrift »Eisenbahn«, in der Th. F. gerne veröffentlichte, berichtete, 57 Berliner Geistliche zur strengeren Einhaltung der Sonntagsruhe aufgerufen und dazu aufgefordert, »die Sonntagsfeier und den Kirchenbesuch in ihrer alten Heiligkeit wiederherzustellen«. Man hatte »über diese Angelegenheit« an den Kirchentüren eine Broschüre verteilen lassen, die in 20.000 Exemplaren gedruckt worden war. Die »Eisenbahn« wendete sich gegen diese von Friedrich Wilhelm IV. geförderte Frömmelei und stellte fest: »Wo der Geist entwichen ist, muß auch die Form in Stücken gehen« (Nr. 6. 15. Januar).
Th. F. äußerte sich zu Lebzeiten öffentlich nicht politisch; er schrieb lieber „Psychogramme“, gleichnishafte Gedichte und Reportagen; und sammelte sie in Handschriften und erlebte, dass sie nicht veröffentlicht wurden; er verfasste auch kritische Gedichte gegen Kult(-ur) des preußischen Staates, der (und die) sich ständisch reglementiert und frömmelnd religiös gab; polizeistaatlich politisch und rüstungsversessen militärisch – und antidemokratisch sich aufbaute für das spätere, deutsche allherrschaftliche Kaisertum, worin sich Protestantismus und Katholizismus vereint sahen. – Th. F. setzte verhüllend und politisch entschärfend die Jahreszahl „1850“ hinzu.

Worterläuterungen:

„Pfingsten ist das Fest der Freude“: leicht abgewandeltes Zitat nach Ludwig Uhlands Ballade »Der schwarze Ritter«. – Das Gedicht gehört also in die Motivik der freiheitlichen, naturfrohen Pfingst-Tradition; vgl. auch Goethes „Reineke Fuchs“.
„Kolosseum“: Vergnügungslokal in der Alten Jakobstraße; 1843 abgebrannt.
„Tivoli“: Vergnügungslokal am Kreuzberg, damals noch bei
Berlin gelegen.
„Odeum“: Lokal in Berlin, in der Tiergartenstraße
„Stehely“: Konditorei in Berlin (Ecke Charlotten- und Jägerstraße)
„Anhaltiner Tor“: Anhalter Tor am Askanischen Platz, erbaut 1839/40
„Türk'sches Zelt“: Gaststätte in Charlottenburg, in türkischer Manier eingerichtet
„Johannisberger“: Besonders geschätzter Wein aus Johannisberg in Nassau
„Jriener Baum“: Gasthof »Zum Grünen Baum« in der Berliner Klosterstraße. Unterhaltungsstätte des von Th. F. oft zitierten „einfachen Volkes“.

*

Aufgabenstellung:

1. Gib eine prosaische Wiedergabe der Handlung dieses Erzählgedichts.
2. Verfasse nach den Erläuterungen, eine Zusammenfassung der Aussage.
3. Beachte die suggestiven Topoi des Berichts: „Heimkehr des Sohnes“; Wiederintegration in Familie und heimische Kirchenstätte - und die abschließende Wahrnehmung der sozial wirksamen Stimme des „Volkes“.
4. Fasse die religiösen und politischen Intentionen des Gedichts in eigenen Worten zusammen.

Text-Angebot 2:
… zu Glaubensfragen:

Fontane in privaten, zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Zeugnissen über Christliches und Ideelles, kurz vor der Jahrhundertwende:
Viele eingestreute Sätze, kleine Bekenntnisse, überraschende Sentenzen bereichern die Fontaneschen Briefe, Aufzeichnungen, Reportagen und Romane:

„Das Bedenkliche am Christenthum ist, daß es beständig Dinge fordert, die keiner leisten kann und wenn es mal einer leistet, dann wird einem erst recht angst und bange und man kriegt ein Grauen vor einem Sieg, der besser nicht erfochten wäre. Das einzig Große sind die Dome und die Bilder und vielleicht die Klöster, aber Märtyrer und Scheiterhaufen ängstigen mich blos statt mich zu erheben.“ [1891]

„Persönlich bin ich ganz unchristlich, aber doch ist dies herrnhutische Christenthum, das in neuer Form jetzt auch wieder bei den jüngeren Christlichsozialen zum Ausdruck kommt, das Einzige, was mich noch interessirt, das Einzige, dem ich eine Berechtigung und eine Zukunft zuspreche.“ [1896]

„Was wir Glauben nennen ist Lug und Trug oder Täuschung oder Stupidität, was wir Loyalität nennen, ist Vortheilberechnung, was wir Liebe nennen ist alles Mögliche, nur meist nicht Liebe, was wir Bekenntnißtreue nennen ist Rechthaberei. »Das ist sein Fleisch und Blut«, »das bedeutet sein Fleisch und Blut« - auf diesen Unterschied hin wird verbrannt und geköpft, werden Hunderttausende in Schlachten hingeopfert, und eigentlich eine Handvoll verrückt fanatischer Pfaffen ausgenommen ist es jedem gleichgültig. Ich habe noch keinen kennen gelernt, dem es nicht gleichgültig gewesen wäre.“ [1888]

„Ich respektiere jeden ehrlichen Standpunkt, also natürlich auch den streng religiösen oder vielleicht auch den streng sektiererischen [ ... ]. Es verstimmt mich aber immer tief, wenn Gläubige die Ungläubigen, Positive die Negativen wie Kaff von oben herab behandeln wollen.“ [1897]

„Die ganze Welt - das ist die Macht des Überkommenen - steckt in dem Vorurtheil, daß der Glauben etwas Hohes und der Unglaube etwas Niederes sei. Wer sich zu Gott und zur Unsterblichkeit seiner eignen werthen Seele bekennt, ist ein »Edelster« oder dergleichen, wer da nicht mitmacht, ist ein Lump [ ... ]. Ich persönlich kenne keinen Menschen, habe auch nie einen gekannt, der den Eindruck eines Vollgläubigen auf mich gemacht hätte. 99 stehen ebenso, der Hundertste möchte es bestreiten, kommt aber nicht weit damit. So steht es wirklich. Und dabei Forderungen an unser Gemüth, als lebten wir noch zur Zeit der Kreuzzüge. Läuft es so still hin, so schadet es nichts, kommen aber die Provokationen, an denen kein Mangel ist, so haben wir als Antwort darauf, Panizza . Hohn war immer eine berechtigte Form geistiger Kriegführung.“ [1895]

„Das ‚Ich’ zu opfern ist etwas Großes, aber es ist eine Spezialbeschäftigung, Vorstufe zur Heiligkeit oder schon die Heiligkeit selbst, ein Etwas, das man bewundert, danach man aber unter gewöhnlichenVerhältnissen nicht leben kann. Dazu giebt es besondere Anstalten: Klöster Wüstenhöhlen, Lazarethe, Hospize.“ [1892]

„Wenn dritthalb tausend Jahre nichts geändert haben, wo soll da die Aendrung herkommen. Ich glaube, das ist so von Anfang an entschieden: das Glücks und Leidensmaß bleibt dasselbe, das Sündenmaß bleibt dasselbe und das Maß von Anstrengung, das Sündenmaß zu verkleinern bleibt auch dasselbe.“ [1894]

„All den großen Sätzen der Bergpredigt haftet zwar etwas Philiströses an, aber wenn ihre Weisheit richtig geübt wird, d. h. nicht in Feigheit sondern in stillem Muth, so sind sie doch das einzig Wahre und die ganze Größe des Christenthums steckt in den paar Aussprüchen. Man begreift dann Omar als er die alexandrinische Bibliothek verbrannte: »steht es nicht im Koran, so ist es schädlich, steht es im Koran, so ist es überflüssig.« Das ist das Resultat, wenn man lange gelebt hat: alles was da ist, kann verbrannt werden, und wenn nur zehn oder zwölf Sätze, in denen die Menschenordnung liegt (nicht die Weltordnung, von der wir gar nichts wissen) übrigbleiben. Es ist auch recht gut so; nur für einen Schriftsteller, der vom Sätzebau lebt, hat es etwas Niederdrückendes.“ [1893]

„Schopenhauer hat ganz Recht: »das Beste, was wir haben, ist Mitleid.« Mitleid ist auch vielfach ganz echt. Aber mit all den andern Gefühlen sieht es windig aus. Trotzdem brauchen wir sie, brauchen den Glauben daran, wir dürfen sie nicht leugnen, weil sich sonderbare Reste davon immer wieder vorfinden und selbst wo gar nichts ist, müssen wir dies Nichts nicht sehen wollen; wer sein Auge immer auf dieses Nichts richtet, versteinert. Die Wahrheit ist der Tod.“ [1893]

„Unser Publikum müßte endlich lernen, daß der Unglauben auch seine Helden und Märtyrer hat ... „Man kann's nicht wissen“, sagte eine alte Judenfrau, die ein kleines Kreuz heimlich auf der Brust trug, und: ‚Man kann's nicht wissen’, sag auch ich.“ [1895]

(Die Zitate sind entnommen der informativen und bezaubernden Anthologie: Allerlei Glück. Ein Lesebuch. München: dtv 12538. S. 211ff.; dort auch die näheren Zusammenhänge.)

Diese Texte, Apercus, Folgerungen und Reflexionen sind entnommen dem Brief- und Erzählwerk F. s. Sie bilden Beispiele für die berühmten Fontanesche „Causerien“, die geistfunkelnden, dialektischen Sentenzen .

Aufgabenstellung:
1. Welche Aussagen sprechen dich an: Überprüfe dies Texte nach deinem eigenen Interesse, dem eigenen Betroffensein und wähle Beispiele für die Diskussion aus.
2. Welche historischen Zusammenhänge und situativen Bedingungen nimmt F. auf?
3. Erkläre F. s Interessen; mache die allgemein-prinzipiellen Setzungen und die subjektiv individuellen Momente deutlich.
4. Verfasse eine argumentative Reaktion auf die von dir ausgewählten Beispiele und Aussagen.


Texte 3.1. – 3.4:

3.1. Kritisches über Religionen, mit den sich Th. F. auseinander setzte:


Nun ein Wort über den Katholicismus.
Ich verschließe mich nicht gegen das Großartige seiner Organisation, nicht gegen die Herrscherweisheit die aus seinen Institutionen spricht, nicht gegen die Hoheit und Heiligkeit gewisser Schöpfungen und ihrer Grundprinzipien, - ich gebe auch zu, daß aus dem Albernsten und Abgeschmacktesten immer noch ein Theilchen schöner heiliger Ernst – sei’s auch nur mit der Nasenspitze - hervorguckt aber das Ganze wie’s da liegt ist doch nur eine große Volksverdummungs- im günstigsten Fall eine klug eingerichtete Volksbeherrschungs-Anstalt und hat nur deshalb ein Recht zu sein, weil die große Masse zu allen Zeiten dumm und unselbstständig gewesen ist und der Katholicismus aus diesem Grunde sich schmeicheln darf »einem tiefgefühlten Bedürfniß gründlich abzuhelfen«.
Auf unsereins wirkt die ganze Geschichte mit ihrem Hochamt, ihren Messen, ihren Kirchenmusiken, ja selbst mit ihrem dichtgedrängten Publikum (lauter Gallerie-Gesichter ) wie eine Aufführung der Meyerbeer'schen »Hugenotten« nur daß man das Theater doch noch ungleich gehobner, erbauter und belehrter verläßt, und als ich vorgestern einen Pfaffen gegen das Schauspiel schimpfen hörte, konnt’ ich den Gedanken nicht unterdrücken: Brotneid! er fürchtet (und mit Recht) die Concurrenz. Dennoch ist die künstlerische Seite - worunter ich die Pracht der Kirchen und Dome, die Meisterwerke der Malerei an den Wänden, und das oft Bezaubernde der geistlichen Musik verstehe - immer noch der Glanz- und Höhepunkt des Ganzen.
Von dem Moment ab wo der ‚Clerus’ aufmarschirt und theils mit alten mumienhaften, theils mit fanatisch-brutalen, am meisten aber mit stupiden, langweiligen und selbst gelangweilten Gesichtern seine Litaneien jammervoll herunterplärrt, ist alle Illusion gestört und während man in der guten Komödie der Künste fast die Komödie vergaß und nahbei zu religiöser Erhebung kam, vernichtet die schlechte Religions- Komödie: dies Plärren, Leiern, Knixen. Kopfschütteln und Kniebeugen den ganzen Eindruck des Kunst-Cultus wieder wie mit einem Schlag und die Seele athmet erst wieder auf, wenn der betäubende Weihrauchduft hinter ihr liegt und Gottes Sonne auf offner Straße lacht und grüßt.
Summa Summarum: der Protestantismus kann einpacken, ich habe den festen Glauben, daß die Menschheit auch mit ihm nicht abschließen, auch ihn überwinden wird, - aber gegen den Katholicismus gehalten muß er unser Freund und unsre ganze Liebe sein, denn wir, die wir ein Stück himmlischer Freiheit gekostet haben, können nur in ihm, oder doch durch ihn das finden was wir gebrauchen. (…)
(Fontane an seine Ehefrau Emilie; aus: Emilie und Theodor Fontane. Der Ehe-Briefwechsel. Bd. 1. 1844-1857. Berlin 1998. S. 25f.

[Zur Aufgabenstellung s. 3.2.]

Text 3.2.:
Fontane über den Protestantismus

Die Scheinheiligkeit der Kirche und ihrer irdischen Vertreter war es, die ihm am stärksten missfiel und Lächerliches ist das Attribut, das Klerikales äußerlich sofort auszeichnet - in den Augen Fontanes.

„Die kirchliche Welt, und wenn es auch nur ihr Ausläufer in Gestalt eines Kantors wäre, hat an Lächerlichem und Bedenklichem vor dem Rest der Menschheit immer einen Schritt voraus.“ [1888]

Das missionierende Wesen, das die meisten Prediger naheliegenderweise auszeichnet, wird unerträglich, sobald ihr Bestreben, diese Mission zu erfüllen, sich als unlauter und polemisch erweist. So sehr er den Katholizismus kritisierte, so widerstrebt ihm auch in seinem Pietätsgefühl und der Achtung für die Relikte vergangener Größe, dass acht- und ehrlos damit verfahren wird. Von übereilter und unbedachter Reformation spricht er im folgenden Gedicht – zwar nicht mit Häme, aber dem kulturellen Unterscheidungsvermögen, was im „Kattolschen" da geschieht.

Anlässlich der Lutherfestspiele von 1893 eröffnet uns Fontane seine Sicht des Luthertums, das sich seiner Ansicht nach in einer schweren Krise befindet. Auch dieses, wenn es ihm im Gesamten auch weniger gefährlich als der katholische Glaube scheint, hält seinem Urteil nicht stand. Die Dogmen, die das eine wie der andere ausweist, sind nicht in Übereinstimmung zu bringen mit seinem Wunsch, der Mensch möge sich befreien von der Herrschaft unprüfbarer Glaubenssätze und seinen Verstand eigenverantwortlich gebrauchen.

„Ich wüßte nichts zu nennen, was so in der Decadence steckte, wie das Luthertum. An die Stelle bestimmter Dogmen, die Produkt der Kirche waren, hat Luther Dogmen gesetzt, die seiner persönlichen Bibelauslegung entsprachen, und diese neueren Dogmen, die übrigens mit den alten vielfach eine verzweifelte Ähnlichkeit haben, sollen nun, trotzdem die Forschung frommer Männer ihre Fragwürdigkeit dargetan hat, mit demselben Feuer- und Schwert-Rigorismus aufrecht erhalten werden, wie die alten ... Ein lebendiges Luthertum kann wohl Lutherfestspiele schaffen, aber mit Ach und Krach zusammengebrachte Lutherfestspiele können kein lebendiges Luthertum wiederherstellen.“ [1893]

Erläuterungen:
Th. und Emilie Fontane waren lebenslang ein Paar, das das erste Beispiel für eine gelebte Arbeits- und Partnerschaft in der deutschen Literatur ist; sie als Ehe- und Haufrau musste viele schwierige, berufliche Entscheidungen des erfolglosen Journalisten und Dichters mittragen, insbesondere für die Kinder. Wo sie Widerspruch, ja, selten auch Widerstand, formulierte, war er der psychologisch verständnisvolle Berater und vermittelnde Selbst-Analytiker, für seine künstlerischen Freiheitsbedürfnisse und auch für ihre häufigen wirtschaftlichen Nöte.



Aufgabenstellung:

1. Welche Konflikte und Unverträglichkeiten sieht Th. F. im „Katholicismus“? Von welchem Anspruch aus kritisiert er ihn?
2. Erarbeite Fontanes Parteinahme zu Gunsten des Protestantismus.
3. Überprüfe die Argumente und setze dich mit den historischen und religiösen Argumenten auseinander.
4. Gibt es heute noch Merkmale und Anlässe für eine solche „Konfessionskunde“? sind die beiden Großkirchen deiner Kenntnis und deinen Ansprüchen nach gereift?
5. Verfasse mit Fontanescher Intention eine Stellungnahme zu gegenwärtigen konfessionellen Streitpunkten (z.B. Alleinvertretungsanspruch des kath. Papsttums; der Fälle von sexuellem Missbrauch; die un-ökumenischen Kirchentage; die Arbeit an der gemeinsamen Bibelübersetzung…)

Text 3.3.

Vom Nutzen einer „kühlen Kirche“

Th. F. erzählt in „Der Stechlin“ (dem Altersroman von 1899; im Kap. 19) von einer angenehm kühlen, leeren Kirche, in der sich die „Bekehrung eines Ungläubigen“ vollzieht. - Die adeligen Herren und plaudernden Gesellschafter Molchow, Gnewkow und Beetz unterhalten sich über Kunst und Kirchen:

„ (...) Und als nun also die reiche Amerikanerin so runde vierzig Jahr später ihn wiedersah und sich bei ihm bedanken wollte von wegen des Bildermuseums, in das er sie halb aus Verlegenheit und halb aus Ritterlichkeit begleitet und ihr mutmaßlich alle Bilder falsch erklärt hatte, da hat er all diesen Dank abgewiesen und ihr - ich seh' und hör' ihn ordentlich - in aller Fidelität gesagt, sie habe nicht ihm, sondern er habe ihr zu danken, denn wenn jener Tag nicht gewesen wäre, so hätt' er das ganze Bildermuseum höchstwahrscheinlich nie zu sehen gekriegt. Ja, Glück hat er immer gehabt. Im großen und im kleinen. Es fehlt bloß noch, daß er hinterher auch noch Generaldirektor der königlichen Museen geworden wäre, was er schließlich doch auch noch gekonnt hätte. Denn eigentlich konnt' er alles und ist auch beinah alles gewesen.“

„Ja“, nahm Gnewkow, der aus Langerweile viel gereist war, seinen Urgedanken, daß solcher Park eigentlich ein Glück sei, wieder auf. „Ich finde, was Molchow da gesagt hat, ganz richtig; es kommt drauf an, daß man reingezwungen wird, sonst weiß man überhaupt gar nichts. Wenn ich so bloß an Italien zurückdenke. Sehen Sie, da läuft man nu so rum, was einen doch am Ende strapaziert, und dabei dieser ewige pralle Sonnenschein. Ein paar Stunden geht es; aber wenn man nu schon zweimal Kaffee getrunken und Granito gegessen hat, und es ist noch nicht mal Mittag, ja, ich bitte Sie, was hat man da? Was fängt man da an? Gradezu schrecklich. Und da kann ich Ihnen bloß sagen, da bin ich ein kirchlicher Mensch geworden. Und wenn man dann so von der Seite her still eintritt und hat mit einem Male die Kühle um sich rum, ja da will man gar nicht wieder raus und sieht sich so seine fünfzig Bilder an, man weiß nicht wie. Is doch immer noch besser als draußen. Und die Zeit vergeht, und die Stunde, wo man was Reguläres kriegt, läppert sich so heran.“

„Ich glaube doch“, sagte der für kirchliche Kunst schwärmende Baron Beetz, „unser Freund Gnewkow unterschätzt die Wirkung, die, vielleicht gegen seinen Willen, die Quattrocentisten auf ihn gemacht haben. Er hat ihre Macht an sich selbst empfunden, aber er will es nicht wahrhaben, daß die Frische von ihnen ausgegangen sei. (…)“
Vgl.:
http://de.wikisource.org/wiki/Stechlin_(Fontane)/Kapitel_19

Zu beachten ist, dass Fontane sich hier in Rollenprosa ausdrückt: Freunde unterhalten sich im “Stechlin“, dem großen Alterswerk, das eine Summe der Kunst und des Gesellschaftsverständnisses von Th. F. darstellt:

Aufgabenstellung:

1. Stelle die Aussage in ihrer Abfolge dar.
2. Beachte die Widersprüchlichkeiten:
Kirche (ohne Konfessionsangabe); Gefühl der Erholung; Überbrückungsfunktion des Aufenthalts; Zwangsregel des Kirchenbesuchs…

Text 3.4.
Theodor Fontane:
Kein Wunder!

Wozu dies Ausposaunen,
Dies Christusbildbestaunen,
Weil es die Augen jüngst verdreht
Es wird das Bild des Herren
bald Mund und Nas' aufsperren,
Wenn ihr so fort den Krebsgang geht.

Es herrscht in eurem Lande -
So viel zu Christi Schande,
Daß mir es ganz natürlich scheint,
Wenn ich mit Nächstem lese:
In jeder Diözese
Hat jüngst ein Christusbild geweint.
*
(1841) - Aus: Th. F.: Gedichte. Bd. 2. Große Brandenburger Ausgabe. Berlin 1995. S. 48-

Aufgabenstellung:

Formuliere nach eigenem Interesse als „Causerie“ eine Antwort auf diese suggestiv-fiktionale Ansprache:
„Herr Fontane: Könnten Sie einem jungen Menschen eine unbildliche Antwort als Interpretation geben zu ihrem Gedicht “Kein Wunder!“?


Text 4:
Theodor Fontane:
Der Kranich

Rauh ging der Wind, der Regen troff,
Schon war ich naß und kalt;
Ich macht’ auf einem Bauerhof
Im Schutz des Zaunes halt.

Mit abgestutzten Flügeln schritt
Ein Kranich drin umher,
Nur seine Sehnsucht trug ihn mit
Den Brüdern übers Meer;

Mit seinen Brüdern, deren Zug
Jetzt hoch in Lüften stockt,
Und deren Schrei auch ihn zum Flug
In fernen Süden lockt.

Und sieh, er hat sich aufgerafft,
Es gilt ja Lenz und Glück;
Umsonst! der Schwinge fehlt die Kraft,
Und ach, er sinkt zurück.

Und Huhn und Hahn und Hühnchen zum Schabernack
Umgackern ihn voll Freud;
Es jubelt stets das Hühnerpack
Bei eines Kranichs Leid.

(Aus: Th. F.: Gedichte. Bd. 2. Große Brandenburger Ausgabe. Berlin 1995. S. 254; der Text gehört zum Zyklus „Eine Herbstreise“, entstanden 1841.)

Zum Text:
Das Gedicht nicht primär religiös; zeigt aber F.s Konsequenz seiner Humanität, als Menschen- und Tier-Liebe. – Es ist als Parabeltext auch ein mitfühlend-empathisches Gleichnis von Fontanes Auffassung seiner eigenen Stellung als bevorrechtigter, aber nicht anerkannter Künstler unter dem notorischen Federvieh der preußischen Kultur- und Bildungshöfe und ihres „Paradeviehs“.
Das Angebot mit einer Schülerinterpretation mag ungewöhnlich sein; greift aber zurück auf derzeitige Umgangsformen mit literarischen Texten und schulischen Produktions- und Korrekturbedingungen, in den Tagen des Internets, das nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Bildung zu dienen vermag.

Zur Aufgabenstellung:
Ich biete hier eine ungewöhnte Aufgabe an: Neben der „normalen“ Texterfassung verweise ich auf eine Interpretation, die in einem Internet-Schüler-Forum veröffentlicht wurde.

4.1. „Normale“ Aufgabenstellung zum o. Text: Fasse den Text des Gedichts zusammen:
4.1.1. kläre den Sinn nach allgemeinen literarischen Prinzipien: Inhalt, Struktur, Form und Intention;
4.1.2. setze dich auseinander mit der Behauptung: Das Gedicht ist nicht nur ein Beispiel für die Rolle des Mitleids in jedem literarisch beispielhaften Text, sondern bietet eine Parabel gemäß der Katharsis, die sowohl ökologisch als auch religiös bestimm ist.

4.2. Alternative Aufgabenstellung als Beschäftigung mit einem Schüler-Aufsatz:
Lade folgende Schülerarbeit aus dem Internet herunter: „’Der Kranich’ von Theodor Fontane“ (der Text bezieht sich auf eine früh veröffentlichte Gedichtfassung, die Th.F. später korrigierte):
URL.:
http://www.schoolwork.de/forum/viewtopic.php?t=2391&sid=a4b96c8c70890271e15bc0d2ecbc0a7d

4.2.1. Erarbeite die Gedichtinterpretation des Schülers, indem du sie nach den grundlegenden Informationen auswertest.
4.2.2. Stelle wichtige, inhaltliche Aussagen heraus: sowohl positive, als auch weniger überzeugende.
4.2.3. Setze dich mit der Übertragung der Aussage zur „Gefangenschaft“ des Kranichs auf das Schicksal der Juden auseinander; bewerte sie mit eigenen Argumenten und Zitaten.

Hier erhältst du weitere Informationen:

http://www.fontaneseite.de
http://www.fontane-gesellschaft.de


Text 5:

Theodor Fontane:
Kirchenumbau
(Bei modernem Gutswechsel)


Spricht der Polier: »Nu bloß noch das eine:
Herr Schultze, wohin mit die Leichensteine?
Die meisten, wenn recht ich gelesen habe,
Waren alte Nonnen aus ›Heiligen Grabe‹.«

»Und Ritter?«

»Nu Ritter, ein Stücker sieben,
Ich hab ihre Namens aufgeschrieben,
Bloß, wo sie gestanden, da sind ja nu Löcher:
1 Bredow, 1 Ribbeck, 2 Rohr, 3 Kröcher,
Wo soll'n wir mit hin? wo soll ich sie stell'n? «

»Stellen? Nu gar nich. Das gibt gute Schwelln,
Schwellen für Stall und Stuterei,
Da freun sich die Junkers noch dabei.«

»Und denn, Herr Schultze, dicht überm Altar
Noch so was vergoldigt Kattolsches war,
Maria mit Christkind ... Es war doch ein Jammer.«

»Versteht sich. In die Rumpelkammer!«
[Tatsächlich: Die Quellenangabe ist gar nicht mitgedruckt worden; blieb einfach „ausgeblendet“; aus Versehen angeclickt. – Sorry: hier also vollständig. Gut, dass Sie sorgfältig lesen! Der Titel lautet genau so:
„Kirchenumbau (Bei modernem Gutswechsel)“]


Text 5:
Theodor Fontane:
Kirchenumbau
(Bei modernem Gutswechsel)

Quelle:
Als fünftes Gedicht des Zyklus „Aus der Gesellschaft“ geschrieben zwischen 1885 und 1889; zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift „Zur guten Stunde“ (Bd. 4. Nr. 51) und in Fontanes eigener Sammelausgabe „Gedichte“(der 3. Auflage 1889).

Angaben zum Text:
Das Gedicht ist der Text Nr. 5 aus dem Zyklus „Aus der Gesellschaft“ (Erstdruck 1898). - Fontane hat in dieser kritischen Folge Anekdoten und Berichte aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld verarbeitet, die er teilweise auch in Romane einbezogen hat.
Zur Klärung der satirischen Absicht: Er lässt hier den Polier, also den Baumeister, mit dem neuen Gutsbesitzer auftreten, der nach dem Kauf des Schlosses oder Herrenguts Umbauten veranlasst, sie bedeuten beispielhaft für den Kirchbau, der früher immer zu einem solchen Besitz gehörte, große, herrisch unsensible Umbrüche.
Th. F. kritisiert also den „Herrn Schultze“, der dem durch niederdeutsche Sprachakzente charakterisierten „Polier“ rigorose Anweisungen erteilt, die einem ideologischen Bildersturm gleich kommen.
Die genannten Adelsgeschlechter sind historisch verbürgte Namen; so erhielt Th. F. lebenslang von Mathilde von Rohr, einer Adelsfrau und Oberin eines evangelischen Damenstifts, Unterstützung und Informationen aus der brandenburgischen Adelwelt. – An was erinnert dich z.B. die Nennung des „Ritters“ aus dem Hause „Ribbeck“?

Aufgabenstellung:
1. Gib den Dialog des „Poliers“ und des Gutsbesitzers „Schultze“ dar in seinen verbalen und inhaltlichen Gegensätzen.
2. Welche Intentionen verknüpft Th. F. mit diesem Paradebeispiel im Umgang mit religiösen Kunstwerken und ihren wirtschaftlichen Verwertung?
3. Läßt sich eine solche kulturkritische Auseinandersetzung zwischen Religion und wirtschaftlichen Gebrauchswerten auch in unserer Zeit dokumentieren?
4. [Zusatz:] Informiere dich über Th. Fontane, der als Kulturberichterstatter auf seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ jahrzehntelang Berichte über Dörfer, Häuser und Familien schrieb und veröffentlichte.

- Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Wanderungen_durch_die_Mark_Brandenburg


Text 6:
Theodor Fontane:
Es kribbelt und wibbelt weiter

Die Flut steigt bis an den Arrarat,
Und es hilft keine Rettungsleiter,
Da bringt die Taube Zweig und Blatt -
Und es kribbelt und wibbelt weiter.

Es sicheln und mähen von Ost nach West
Die apokalyptischen Reiter,
Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,
Es kribbelt und wibbelt weiter.

Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,
Es brennen Millionen Scheiter,
Märtyrer hier und Hexen da,
Doch es kribbelt und wibbelt weiter.

So banne dein Ich in dich zurück
Und ergib dich und sei heiter,
Was liegt an dir und deinem Glück?
Es kribbelt und wibbelt weiter.


*

Hinweise und Erläuterungen:
Der Text ist entstanden: 1885 - Juni 1888; als Erstdruck in: „Zur guten Stunde“. Bd. 3. 1889. NA, Sp.23 [Oktober 1888]
Im Deutschen Literaturmagazin im SNM Marbach befinden sich eine Disposition und zwei Entwürfe Fontanes; sie lauten als sein Konzept:

1. Strophe. Noah. Die Welt ist weg. Da sieh, sie ist wieder da. Die Taube fliegt. »Und es kribbelt und wibbelt weiter.«

2. Strophe. Christus. Ein Gott wird gekreuzigt, der Tempelvorhang zerreißt »und es kribbelt und wibbelt weiter«.

3. Strophe. Hunger, Krieg, Pest. Die apokalyptischen Reiter, »es kribbelt und wibbelt weiter«.

4. Strophe. Du kleines Ich. Was bist du? was klagst du? Begreife dein Nichts, sei heiter, »es kribbelt und wibbelt weiter«. Dein Ich ist nicht[s]. Sei heiter. Es kribbelt und wibbelt weiter.

Religiöse Lyrik (nicht nur) aktuell: Theodor Fontane – mit einem eigenartig überzeitlichen Text – über Menschensterben durch „Wasserfluten“ und Rettung am Berge „Arrarat“ (frühere Schreibweise für „Ararat“) - und über den fortwährenden Überlebenswillen der Menschen als kulturelle Leistung:

Worterläuterungen:

„Es kribbelt und wibbelt“: Nach Heinz Rölleke geht diese poetische Formulierung auf »Der Sächsische Prinzenraub« aus »Des Knaben Wunderhorn« und auf ein „Guckkastenlied“, das auf Jahrmärkten zum Nervenkitzel und zur Erbauung präsentiert wurde, zurück; letzteres lieferte auch die Verknüpfung mit der Weltuntergangsgeschichte und der rettenden Arche Noah.
„Arrarat“ [so original von Th. F.]: Ararat: Erloschener Vulkan im Hochland von Armenien; nach der falsch interpretierten Bibelstelle (1. Mose 8): Berg Noahs, auf dem die Arche landete. Noah hatte eine Taube ausgeschickt. Als sie mit einem Ölblatt zurückkehrte, wurde erkennbar war, dass die mögliche Auslösung der Welt durch die Sintflut beendet war.
„Apokalyptische Reiter“: Nach dem Neuen Testament (Offenbarung Joh. 6): die personifizierten Menschengeiseln: Krieg, Hunger, Pest und Tod.
*

Nein, Fontane ist nicht destruktiv-melancholisch anlässlich dieses Katastrophenthemas; er ist fürsorglich mitteilsam über Befürchtungen, hoffnungsvoll in Bezug auf das Leben, das weiterging, seit der Frühgeschichte, wie sie im jüdischen AT aufgezeichnet ist.

Sein Blick geht auch zur nächsten religionsgeschichtlichen Station – der Begründung des Christentums durch die Kreuz-Akklamation Christi, sein Urteil fällt etwas despektierlich aus. Er gibt keine religiös überlieferten Tröstungen, wie das Judentum es gegenüber der unverwüstlichen Natur im Regenbogen-Versprechen behauptete: Gott lässt den Regenbogen als dauerndes Versöhnungszeichen blinken, weil er die Welt nicht mehr in ihrer Gänze vernichten will. Diese Befriedung, die für den jüdischen Gläubigen eine überdauernde Verbindlichkeit hatte, die auch in ein Vertrauen in die göttlicherseits befriedete, verlässliche, nicht mehr total bedrohliche Natur bedeutete, die eine zivilisatorische Ermunterung und Verpflichtung war für Sippe, Familie, Stamm, Staat – als versöhnliche, pazifistische, nicht überhebliche Gemeinschaft sich zu verstehen, sich auf der ganzen Welt – in der Diaspora – zu verbreiten.

Fontane geht in seiner Intention auf die Gottesgarantie des AT im Zeichen des größten friedlichen Naturspektakels des Regenbogens nicht ein, aber auf die programmatische Nächstenliebe der Christlichkeiten in ihren Schandtaten Märtyrertum und Hexen-Vernichtung; sein Wissen um Natur und Chaos, Aufbau und Zerstörung, Chancen und Entwicklung und Gefährdung ist kulturell geprägt; religiöse Daseinsfürsorge ist ihm, als geschichtlich und von der religiösen Tradition und ihren zivilisatorischen Brüchen wissender und kritischer Mensch fremd.
Sein Vertrauen? Es ist geprägt durch Mitleiden, Verstehen können und Zuversicht – auch wenn der Fortschritt so klein-armselig, fast läppisch, so kribbelig-wibbelig ausfällt; es ist ein realistisches und psychologisch glaubwürdiges Vertrauen in Menschlichkeit, ohne Überheblichkeit der ideell-religiösen Theorien und Zwänge.

*

Es gibt zwei lesenswerte Interpretationen zu diesem Gedicht, auf die ich summarisch verweisen möchte: auf die Deutung von Werner Weber (in: W.W.: Tagebuch eines Lesers. Bemerkungen und Aufsätze zur Literatur. Olten und Freiburg i. Br. 1965. S. 65ff.); und von Günter Kunert unter dem Titel „Fontane – misanthropisch (in: Frankfurter Anthologie. Bd. 4. S. 295ff.) – Beide Texte kann ich (bei E-Brief-Abruf zur Verfügung stellen; Adresse anton@reyntjes.de )
Die Texte sind auch im Internet zu finden, unter URL:
http://www.klassikerforum.de/index.php?topic=1198.0

Hinweise und Ergänzungen:


Fontane ist mitteilsam über Befürchtungen, hoffnungsvoll in Bezug auf das Leben, das weiterging, seit der Frühgeschichte, wie sie im jüdischen AT aufgezeichnet ist. Sein Blick geht auch zur nächsten religionsgeschichtlichen Station – der Begründung des Christentums durch die Kreuz-Akklamation Christi, sein Urteil fällt etwas despektierlich aus.

Georg Langhorst hat in seinem profunden Sammelwerk „Gedichte zur Bibel“ zwei Gedichte über globale Flutkatastrophen vorgestellt, biblisch genannt: „Sintflut“:

Horst Bieneks „Avant nous le déluge“ und Günter Kunerts „Vor der Sintflut“ (G. L. Gedichte zur Bibel. Texte – Interpretationen- Methoden. München 2001: Kösel Verlag. S 59ff.) und verweist auf die Forschungen Johannes Riems, der 303 mythische und balladeske Urerzählungen aus allen Erdteilen unseres Globus zum Stichwort des glückhaften menschlichen Überlebens aus Naturkatastrophen infolge von Fluten und Überschwemmungen nachgewiesen hat.

Aufgabenstellung:

1. Interpretiere dieses Weltbedrohungs- und Welterhaltungsgedicht, in dem du die historischen und biblischen Fakten und die religiöse Deutung im AT erarbeitest.

2. Wie deutet Th. F. das menschliche Leben – als Identität und Engagement des „ich“ (das ein lyrisches, biografisches und soziales Individuum wie „du und ich“ ist).

3. Der Dichter Th. F. erwartete zu alle seinen Werken keine affirmative Zustimmung, sondern eine offene Antwort; formuliere eine solche, z. B. als fünfte Strophe oder als eine Anmerkung zur Frage: „Muss das Individuum zufrieden sein in dieser ‚heiteren Bescheidenheit’?


Text 7:
Theodor Fontane:
Des armen Mannes Weihnachtsbaum


London, 24. Dezember

Ich sah heute in den Straßen Londons einen prächtigen Ginsterbusch, nicht als kriegerisches Wahrzeichen wie vordem, sondern als friedlichen Weihnachtsbaum, als schlichteren Ersatz für die schlichte Tanne. Es war in Tottenham-Court-Road, und es begann schon zu dunkeln.
Groß und klein eilte nach Haus, um zu rechter Stunde an rechter Stelle zu sein; alles war Leben, Bewegung, Freude. Unter denen, die ihrer Wohnung zuschritten, war auch ein Arbeiter, ein Mann in der Mitte der Dreißiger, blaß, rußig, ermüdet. Neben ihm ging sein ältestes Kind, ein Knabe von sechs bis sieben Jahren; er schleppte sich mühsam weiter. Das jüngste Kind war auf der linken Schulter des Vaters eingeschlafen, während er auf der rechten einen mächtigen Ginsterbusch als Weihnachtsbaum nach Hause trug. Der Ginsterbusch blühte. Man sieht viel Elend in den Straßen Londons, aber selten eines, in dessen Öde sich zartere Züge mischen, und so blieb ich stehen und sah dem müd und matten Zuge nach. Es war ersichtlich, die Mutter war tot, und dem Vater war die Aufgabe zugefallen, den beiden Kindern ihr Christfest zu bereiten. So war er denn hinausgegangen nach Hampstead-Heath, um auf der weiten winterlichen Heide den Weihnachtsbaum zu finden, den er zu arm war, an der nächsten Straßenecke zu kaufen. Die Kinder hatten ihn begleiten müssen, weil niemand im Hause war, der sich ihrer angenommen hätte. Jetzt kamen sie von ihrem Gange zurück, der Älteste müde, der jüngste eingeschlafen. Was mochte sie daheim empfangen? Welcher Weihnachtsfreude gingen sie entgegen? Ich malte mir das Zimmer des armen Mannes aus: Der Ginsterbusch stand auf dem Tisch, und ein ärmliches Feuer brannte im Kamin; nichts Festliches sonst umher als das Herz seiner Bewohner. Im Widerschein des Feuers aber sah ich die gelben Ginsterblumen wie Weihnachtslichter leuchten, und ihr Blühen war wie die Verheißung eines Frühlings nach Erdenleid und Winterzeit.
*
Der Text stammt aus der Zeit von Fontanes Englandaufenthalt (in den Jahren 1855-1859). Erstdruck in: Neue Preußische Zeitung. 31.12.1857.
(Aus: Th. F.: Weihnachten mit Fontane. Aufbau-Verlag. Berlin 2000. S. 90f.)

* E r k l ä r u n g, persönlich:
Ich gestehe: Fontane ist uns allen über: Ginster als kriegerisches Emblem, als naturhaftes, abwehrendes Zeichen, als kämpferisch-widerständiges Signet, als unfriedliches Weiß oder Gelb?
Ich kenne ihn als strahlend blühende, als fast unüberwindliche Frühjahrs-Grün-Reihe, die am Bahndamm hinter dem Bauernhof wuchs, büschel-, zig-meterweise… stand und wartete, bis meine Brüder es für den Vater, der daraus Besen band, zurechtschnitten. Zack, ein Hieb mit der Sichel! Und der Ginstervorrat wurde nach Hause geschleppt, ins Trockene unter das Scheunenvordach gestellt, mit dem Beil auf dem Hauklotz behackt - als Besenreiser gebündelt und wie für den Hexendienst bestockt; so mussten sie uns auf dem Hof und im Stall ihren schmutzkehrenden Dienst versehen.

Ich suchte und fand im „Lexikon der Symbole“ von Udo Becker (Freiburg u. a.: 2000: Herder Verlag. S. 103):
„Ginster“: ein strauchartiger Schmetterlingsblüter mit gelben oder weißen Blüten. Der stacheltragende G. ist ein Sinnbild für die Sünde des Menschen, deretwegen dieser seinen Acker voller Dornen oder Disteln bestellen muss; außerdem ist er Symbol für das stellvertretende Leiden Christ (verschiedentlich unter den Marterwerkzeugen dargestellt), damit zugleich aber auch ein Erlösungs-Symbol (wie die zauberisch doppelwertige Distel, als Stachelkopf, als Blütentraum).
- Ob zudem in der englischen Kriegs- oder Religionsgeschichte der Ginsterbusch als „kriegerisches Wahrzeichen“ eine Bedeutung hatte, konnte ich nicht ermitteln. Ich vermute, eine Signalfunktion.
In den dunkelsten Tagen: ein Licht zur heimlichen Erhellung der kleinsten, ärmsten Kammer - Fontane hat diese Impression auf dem Hintergrund seines christlichen und naturnahen Lichterglaubens von seinen Reisen nach England mitgebracht; er schenkte uns diese Symbolik uns; wir brauchen sie nur in unserem Kopf und in unseren Gespräch oder im natürlichen Arrangement zu aktualisieren.
Jedes Menschen Herz darf Weihnachten gerührt sein, weil wir uns besondere Freude schenken, ob in Geschenken, ob im Gedenken; und auch, weil nach der Wintersonnenwende die Gewissheit des nächsten Frühlings ansteht.

Aufgabenstellung:

1. Welche realistischen Beobachtungen macht Fontane hier in London, zur Weihnachtszeit um 1856?
2. Welche allgemeine Bedeutung schreibt er der Symbolik des Baumes und der Lichter für die Armen zu?
3. [Als weiterführender Auftrag:] Vergleiche diese Weihnachtsidee mit den bekannten Fontane-Gedichten zu dem Motiv, die üblicherweise abgedruckt werden: „Verse zum Advent“ oder „Weihnachten“.
Vgl.:
http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=680&kapitel=1#gb_found


8. Abschließende Anmerkungen:

Biografische Hinweise:

Theodor Fontane (1819 – 1898), dem bedeutendsten deutschen Dichter des Realismus
URL.: http://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Fontane
http://www.weltchronik.de/bio/cethegus/f/fontane.jpg

Als Lebens- und Werkbeschreibung: Wolfgang Hädecke: Theodor Fontane. Biographie. München 1998. dtv 30819. - Eine empfehlenswerte Arbeit zu allen anderen literarischen, biografischen, politischen sozialen Fragen im Falle Th. F.



Lektüre-Ausgaben:

Von den im Buchhandel befindlichen Gedichtausgaben ist diese empfehlenswert:

Th. F.: Gedichte. Hrsg. v. Karl Richter. Stuttgart 1998. Reclam (RUB 6956).
- Dazu passt ein Band mit Deutungen: Interpretationen zu Gedichten von Th. F.: Hrsg. v. Helmut Scheuer. Stgt 2001. (RUB 17515)

Zu Fontane allgmein:

Stefan Neuhaus: Fontane-ABC. Leipzig 1998. Reclam (RBB 1631).

Th. F.: Allerlei Glück. Ein Lebensbuch. Vorgestellt von Ulf Diederichs. München 1998. (dtv 12538).

Petra Eisele: Kleine Lektüre für große Fontane-Freunde. München o. J.: Scherz Verlag.

Eckart Beutel: Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation. (Praktische Theologie und Kultur (PThK) 13) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000.

Die Hauptthesen sind hier nachzulesen:

Über Religion bei Fontane
http://www.iaslonline.de/

*

Zusatz für intensivere Beschäftigung mit dem Thema „Fontane zu religiösen Fragen“:

Vgl. den Aufsatz des berühmtesten, gegenwärtigen Fontane-Forschers Helmuth Nürnberger:
H. N.: Theodor Fontane - ein Dichter in Preußen.
(In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 53 (2001), Heft 1, S. 47-64); nachzulesen unter:
http://www.luise-berlin.de/Lesezei/Blz01_05/text02.htm


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