Sie sind fort
Greta hält den Atem an, als die Straße nach dem letzten Waldstück den Blick auf das Forsthaus freigibt. Eine Menge von Erinnerungen stürzt auf sie ein, Kindheitsträume materialisieren sich hinter halb geschlossenen Augen. Das alte Forsthaus liegt auf der Waldlichtung im hellen Sonnenschein, viele kleine Schattenspielereien der hohen Buchen zaubern ständig wechselnde Silhouetten auf die alten Mauern. Die strahlende Sonne zeigt aber auch erbarmungslos all das auf, was in den letzten Jahren dem Niedergang ausgesetzt war, der Zerfall lässt sich nun mal nicht leugnen.
Die Mauern und Teile des Daches von Efeu übervoll bedeckt, das rostige Gartentor mit hunderten Rosen überwuchert und mit dem Dornengestrüpp von Brombeeren fast zugewachsen. Dahinter die aus den Angeln gehobene Haustür, weit offenstehend, wie zum Empfang hergerichtet.
Der heiße Sommerwind weht durch die Räume, beim Betreten dieses alten Hauses spürt sie diesen modrigen Geruch, der Staub von Jahrzehnten wirbelt durch die hohen Räume wie Schwärme von Mücken im Sonnenlicht. Dieses alte Försterhaus war einst aufgegeben worden, als die Planstelle des Försters nicht mehr neu besetzt wurde. Zerbrochene Fensterläden mit abgeblätterten Farbresten, grau, ramponiert und voller Geruch nach alten Zeiten. Sie klappern schon beim leisesten Windhauch. Mannshohes Kraut bedeckt weite Teile des Gartens, dazwischen größere Flächen mit wilden Margeriten. Es ist einfach ein trostloser Anblick!
Reglos steht die Frau in der Eingangstür, lässt diesen Anblick auf sich wirken, vergleicht sie dann mit den Bildern, die sie lange Jahre in ihrem Kopf bewahrt hat. Traurigkeit erfasst sie. Auf der Türschwelle sitzend, denkt sie über all das nach, das sie hier in Kinder- und Jugendjahren erlebt hatte. Es ist ihr unbegreiflich. Niemand ist mehr hier, alle sind fort. So einfach weggezogen, ihre Familie hat die eigene Vergangenheit hinter sich gelassen. Der alte Briefkasten dort neben der Tür ist ein Relikt aus alter Zeit, einstmals war er schwarz lackiert und hatte die ersten Liebesbriefe ihres Freundes in sich aufbewahrt. Nun war der Briefkasten unansehnlich und rostig. Fast wie ein alter Mensch, mit Lebensspuren und Beulen!
Greta versucht, das Türchen des Briefkastens zu öffnen. Sie ist überrascht, wie leicht das geht. Drin liegt ein Briefumschlag, braun, vergilbt, mit einem Namen darauf in verblichener Handschrift: Für Grit! Ihr Herz machte einen gewaltigen Sprung in die Vergangenheit, sie spürt förmlich die Worte ihrer Mutter körperlich, als sie diesen Umschlag öffnet und dann den kurzen Brief liest. Das Datum auf dem Bogen war schon achtzehn Jahre alt!
Meine liebe kleine Grit,
Vielleicht kommt doch noch mal die Zeit, dass du diese Worte liest. Du bist gegangen, wir konnten dich nicht halten. Dieses Haus war immer zu klein für Dich. Dich lockte die weite Welt. Bist Du nun ein Star geworden? Wir haben niemals wieder etwas von Dir gehört. Ja, liebe Grit, wir können hier im Forsthaus nicht mehr wohnen bleiben, wir müssen jetzt umziehen. Eine kleine Wohnung für uns beide reicht nun aus. Dein Bruder ist ja auch nicht mehr da, er lebt jetzt in Australien. Wir konnten Dich ja leider nicht erreichen; Du hast uns keine Adresse geschickt. Ob wir noch leben, wenn Du mal wieder kommst, wissen wir nicht. Alles, alles Gute wünschen wir Dir, mein Kind!
Mama und Papa
Greta hält diesen alten Brief krampfhaft in der Hand. Ihre Schultern zucken, sie lässt ihren Tränen freien Lauf. Sie kommt sich so erbärmlich vor, sieht förmlich das Gesicht ihrer Mutter vor sich, diese abgearbeiteten Hände, die zerfurchten Gesichtszüge.
Und dann die Gestalt ihres Vaters, wie er morgens seine Büchse umhängte, mit zwei Pfiffen Bertha, die Münsterländer Hündin zu sich rief. Er drehte sich immer noch einmal um und winkte den Zurückbleibenden lächelnd zu, bevor er dann im Wald verschwand. Greta hat noch immer die Zeilen der Mutter in der Hand, als sie noch einmal durch das Haus geht. Sie versucht, die Gerüche ihrer Kindheit wiederzufinden, das Odeur, dass hier einmal zu Hause war, als Greta hier noch als Kind lebte.
Vergeblich! Hier riecht es nach Einsamkeit und Flucht. Die Dielenböden sind durch Feuchtigkeit aufgequollen. Vom Treppenabsatz aus kann die Frau durch das Obergeschoss und zwischen herabgefallenen Dachziegeln bis in die Wolken schauen. Abgerissene Tapeten, einige uralte Möbelstücke, ein alter Teppich, von Mäusen angenagt, zeugen davon, dass hier alles sich selbst überlassen worden war. Dort auf einem Stuhl noch ein halb zerfledderter Roman, vergilbt und von den Jahren zerfressen. Sie versucht neugierig, den Titel zu erkennen: »Die Flusspiraten vom Mississippi« von Friedrich Gerstäcker. Ein Buch, das einst ihrem Bruder Jens gehörte. Greta kommt wieder ins Grübeln. Wo der wohl leben mag? Sie hat schon über drei Jahrzehnte nichts mehr von ihm gehört, weiss nur, dass er seinerzeit nach Neuseeland ausgewandert ist.
Siebenunddreißig Jahre, eine unendlich lange Zeit. Eine Zeit, in der sie berühmt geworden war, in der sie als Star der Musikszene der Liebling aller Teenies wurde. Eine Zeit, in der die Eltern in ihren Gedanken nicht mehr vorkamen. Eine Zeit, die zwei Ehen mit sich brachte und auch zwei Scheidungen.
»Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden!« Wo hatte sie das nur gelesen? Ach ja, irgendwo im Alten Testament der Bibel steht das wohl, denkt sie mit einem kurzen Auflachen. Als sie damals nach einer Auseinandersetzung mit den Eltern alles hinter sich ließ, hatte sie alle Bedenken des Vaters mit einem Achselzucken weggewischt. »Ich brauche euch nicht, ich gehe meinen Weg. Und wenn ihr mir den nicht gönnt, dann geht es eben auch ohne euch!«
Es war ohne sie gegangen. Aber welche Mühen, Anstrengungen und Schmerzen hatte es gekostet! Gewiss, so manches Mal hatte Greta mit dem Gedanken gespielt, sich bei den Eltern zu melden. Aber ihr elender falscher Stolz hatte es nicht zugelassen. Und so war es stets beim Vorsatz geblieben. Und heute? Sie hatte beim Einwohnermeldeamt erfahren, dass beide nicht mehr leben. Vater starb vor zehn Jahren, Mutter lebte bis vor drei Jahren in einem Altenheim in Neustadt.
Der große Star Greta war längst kein Star mehr, der Niedergang ihrer Karriere fing in dem Moment an, als ihre Auftritte nur noch bei Supermarkt-Eröffnungen gefragt waren oder mit irgendwelchen Bäderreisen unter »ferner liefen« im Nebenprogramm erfolgten. Sie lacht voller Bitterkeit auf, dachte an Vaters Worte: »Das ist eine Kunst, die nur so lange gefragt ist, wie du jung und knackig bist. Und morgen, Greta? Was ist morgen?«Sie hatte abgewunken. »Na und? Was heißt schon morgen. Ich kann etwas, und das zählt!« »
Was kannst du denn schon wirklich?« hatte ihr Vater gesagt und Mutter hatte nur ihren Kopf geschüttelt. Gretas Karriere in den Staaten brachte zwar eine Menge Geld ein. Glücklich aber war sie nicht einen einzigen Tag gewesen und die Dollar waren schneller wieder fort, als sie verdient wurden.
Ein paar Tränen fallen in den Staub des alten Hauses. Es gibt kein Heim mehr, keine Menschen, die zu ihr gehören. Es gibt nur noch eine alternde Künstlerin, die liebend gern wieder zurückkehren würde in das Nest ihrer Kindheit. Dort im alten Haus auf der Waldlichtung hatte einmal das Glück gewohnt. Es war wohl auch ausgewandert, mit unbekanntem Ziel. Nun ist alles leer, das Haus, ihr Herz, ihr Leben ...
(©2013 by H.C.G.Lux)
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