Recht und richtig?


Recht und richtig?

Als Großvater geboren wurde, schien die Welt noch in Ordnung zu sein. In Potsdam saß der Kaiser auf seinem großdeutschen Thron, alle Ministeriellen machten genau das, was ER wollte. Und der Reichstag machte die Gesetze, Wilhelm II. segnete sie ab und damit war für den kleinen Mann zu Hause alles geregelt.
 Der Urgroßvater freute sich über den Stammhalter, der den Namen der alteingesessenen Familie wieder zu neuen Ehren bringen sollte, nachdem einer seiner missratenen Sprösslinge sich als »sozialistischer Revolutionär« vorher mit dem Bismark angelegt hatte und deswegen ein paar Monate im Kittchen verbracht hatte.
          Nun aber war lang erwartet der Großvater da. 1890 war er gerade rechtzeitig geboren, um dem im sogenannten "Drei-Kaiser-Jahr 1888" inthronisierten neuen Kaiser Wilhelm II. mit extrem lauter Stimme ein »Willkommen« entgegenzukrähen! Nach Wilhelm I. und Friedrich III. war der Zweite Wilhelm das Staatsoberhaupt im "Deutschen Reich" geworden.
War das eine große Freude - jedenfalls für den Adel. Dem kleinen Mann nützte das Ganze Theater herzlich wenig, er hatte wie immer, die Zeche zu bezahlen. Und die war niemals gering!
    Rechtzeitig zum Weltkrieg 1914 erschien also Großvater in der Weltgeschichte, um dem Deutschen Reich hilfreich bei dem Kampf der Achsenmächte mit der Entente siegen zu helfen. Nun, zu diesem Sieg reichte es zwar nicht, aber immerhin war nach vier harten und für die Bevölkerung entbehrungsreichen Kriegsjahren der Kaiser in einer Nacht- und Nebelaktion nach Holland verschwunden und ließ dort dann den Herrgott einen guten Mann sein. Schließlich musste er ja von seinen Ruhmestaten ausruhen. 

          Großvater kam dann auch wieder nach Hause. In der Schlacht an der Somme 1916 verlor er drei Finger einer Hand, ein Maschinengewehr durfte er trotzdem noch bedienen. Diese Schlacht an der Somme zählt bis heute zu den sinnlosesten Schlachten aller Zeiten. Nach vier Monaten schwerster Kämpfe hatte sich die Front fast nicht verändert, die Verluste auf beiden Seiten betrugen die unglaubliche Anzahl von 1,3 Millionen Mann! Keine andere Schlacht in einem Krieg hat so viele Opfer gekostet. Die Helden bekamen im Reich ein Eisernes Kreuz, die Übrigen hatten ein Stück Eisen im Kreuz!
         Ja, wie gesagt, Großvater war dann wieder daheim. Mein Vater, 1910 geboren, war inzwischen acht Jahre alt und schwarz-weiß-rot erzogen worden. In den Hungerjahren des Krieges wurde dieses Nationalbewusstsein so eingetrichtert, dass eine andere Einstellung sofort als »linksrevolutionär« angesehen wurde.
Im berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 war der Versuch, zu überleben, die einzige Aufgabe, die jede Familie zu realisieren hatte. So manch einer hat es da nicht mehr geschafft. Für sie oder ihn blieb dann kein ehrenvolles »Dankeschön«, sie waren einfach nicht mehr vorhanden!
        Die Zeit nach 1919 mit den Wirren und den diversen politischen Strömungen brachte überhaupt keine Klarheit der Dinge, die man sich erhofft hatte. Reparationszahlungen in gigantischer Milliarden-Goldmark-Höhe waren Deutschland aufgezwungen worden. Dass diese auch mit dazu beitrugen, die unselige Nazi-Diktatur an die Macht zu bringen, wurde - und wird zum Teil heute noch - vehement abgestritten. Jedenfalls kam 1923 dann der wirtschaftliche Niedergang in Deutschland. Es war eine riesengroße Enttäuschung. Der Nominalwert der Mark ging stürmisch und unmissverständlich in die Tiefe. Der Arbeiter, falls er überhaupt noch Arbeit hatte, wusste morgens nicht, ob der Lohn, den er tagsüber verdiente, abends noch dazu reichte, ein Brot zu kaufen! Es ist kein Märchen, dass die Hausfrau abends am Fabriktor stand und auf den Ehemann wartete, um schleunigst mit dem Tageslohn zum Kaufmann zu rennen! Dabei schien es nie sicher, ob Brot oder sonstige Waren noch vorhanden waren oder das Geld für den Kauf noch ausreichte! Es war obligatorisch, dass dann die Kinder daheim auch mal ohne Essen ins Bett mussten.

         Natürlich gab es auch - wie in allen Zeiten - Kriegsgewinnler. Das waren dann die Menschen, die aus der Not Anderer eine Tugend zum Geldverdienen machten.
Großvater jedenfalls gehörte nicht zu diesem Personenkreis, er hatte es aber fertig gebracht, sich mit einem Tischlereibetrieb selbstständig zu machen. Als der Niedergang des Geldes begann, hatte er schon große Mengen an Holz aufgekauft und versuchte nun mit einem
Angestellten, Kleinmöbel zu fertigen. Es reichte jedenfalls zum Unterhalt der Familie. So wurde dann Vater, der Sohn des Hauses, als Lehrling in der Werkstatt des Großvaters eingestellt.
 Bekanntlich hatte Großvater drei Finger der linken Hand im Krieg eingebüßt. Dennoch gab es niemanden, der ihm bei seiner Arbeit überlegen war!
Ein großes Problem aber hatte Großvater: Er plagte sich mit einer Fehlstellung der Füße herum, wahrscheinlich durch unpassendes Schuhwerk in seiner Soldatenzeit hervorgerufen. Er litt an einer Anomalie der Zehenstellung, Hallus Valgus, die ihm sehr große Schmerzen bereitete.
        
 In der Stadt gab es nun einen Schuhmacher mit orthopädischen Kenntnissen. Dies war ein völlig neuer Handwerkszweig, der durch viele Kriegsverletzungen enorm wichtig geworden war. Dieser Schuster sollte Großvater behilflich seindiese Fehlstellung der Füße und deren schmerzhafte Auswirkungen durch ein Paar passgenaue Stiefel auf ein erträgliches Maß zu senken. Großvater erbot sich dafür, dem Mann ein Beistelltischchen zu bauen, dass zu dessen Mobiliar passte. Zusätzlich sollte Großvater noch 60 Millionen Mark in bar zahlen. Der Handel war perfekt und konnte nun seiner Ausführung entgegensehen. Großvater baute den wunderschönen Mahagonitisch, der Schuhmacher fertigte ein Paar Stiefel an, das wirklich ohne Tadel war. Beides wurde im November 1923 geliefert, alles war Tipp-Top in Ordnung. Die Barzahlung allerdings brachte nun das gute Verhältnis der Beiden in arge Bedrängnis!
      
 Am 15. November 1923 nämlich wurde die Inflation offiziell gestoppt, die neue »Rentenmark« löste die bisherige Mark im Verhältnis 1:1 Billion ab!
 Nun war guter Rat teuer! Eins zu einer Billion, da blieben dem guten Schuster nur ein paar Pfennige übrig. Mit dieser Abrechnung aber war er gar nicht einverstanden. Großvater andererseits war nicht bereit, mehr auf den Tisch zu legen, als sie vereinbart hatten. Dieser Rechtsstreit zog sich über ein ganzes Jahr hin. Auch als im August 1924 die Reichsmark eingeführt wurde und die bis dahin gültige Rentenmark 1:1 ersetzte, stritten die Parteien immer noch um die 60 Millionen Papiermark!
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        Es gab drei Gerichtsurteile, gegen jedes wurde von der anderen Partei Berufung und Revision eingelegt. Dann fiel das endgültige letzte Urteil: Großvater wurde verurteilt, 20(!) Reichsmark an den Schuhmacher zu zahlen! Die gesamten Kosten wurden halbiert und jedem zu gleichen Teilen zugewiesen. Es ist nicht bekannt, wie hoch diese Kosten jeweils waren!
 Zähneknirschend zahlte der Großvater seine ihm auferlegten Beträge. Daheim schwor er, dass er dem Schuster alles heimzahlen wolle. Dazu kam es dann Gottlob nicht mehr, denn der Schuhmacher verstarb noch im gleichen Jahr an einer Pilzvergiftung.
Das war aber dem Großvater ganz sicher nicht anzulasten!


©by H.C.G.Lux


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Kommentare (6)

ehemaliges Mitglied

Irgenwie muss ich es als Kind doch mitbekommen haben, ein paar Billionen-Scheine in der Hand gehalten habe, als nach dem 2. Weltkrieg die Angst vor einer erneuten Inflation wie ca. 30 Jahre zuvor noch herrschte, lieber Pan. Wir fanden es einfach nur unglaublich, dass es solche Geldscheine gegeben hatte.

Mag mir gar nicht vorstellen, wie meine väterliche Großmutter ihre drei Kriegskinder - -Babys bzw. Kleinkinder - durchgebracht hat. Die Hungerjahre nach dem ersten Weltkrieg müssen schlimm gewesen sein ...

Hab Deine Geschichte gern gelesen. Danke.

Uschi 

Rosi65

Lieber Pan,

die rückblickende Geschichte Deiner Familienchronik, verknüpft mit dem damaligen Zeitgeist,
von Dir (teilweise) mit bösem Witz erzählt, finde ich sehr gelungen.

Beste Grüße
 Rosi65

Manfred36

Als 1936 Geborener kenne ich die erzählerisch so gut gefassten Zusammenhänge nur aus knappen Erzählungen meiner Mutter, da mein Vater vom 1939 bis 1949 im Krieg und Gefangenschaft war; danach sprach er nicht über Vergangenheit. Von den Millionen-Geldscheinen hatte ich ganze Stapel, mit denen ich als Kind spielte. Du hast Missstände angesprochen, die auch in der Kriegs- und  Nachkriegszeit für uns galten. Es stellt sich bei Erzählungen wie dieser immer persönliche Betroffenheit ein.

Syrdal


Lieber Pan, die von dir erzählte „Familiengeschichte aus dem wahren Leben“ ist für mich hochinteressant, weil ich – zwar erst Anfang des II. WK geboren – viele Parallelen entdeckt habe, Parallelen, die in meinem Familienleben vor allem in den schlechten Nachkriegsjahren in ziemlich ähnlicher Weise zu finden sind. Hunger gab es andauernd und oft hatten wir einen ganzen Tag lang nichts zu essen... vielleicht einen Apfel oder eine dünne fettlose Suppe aus Steckrüben. Und auch Schuhe ließ mein Großvater für mich anfertigen. Aber es gab da trotz Währungsreform gottlob keinen schlimmen Zwist mit der Bezahlerei. Ach, wie sich die Dinge des Lebens doch gleichen können!
 
Nun aber dürfen wir dankbar sein, seit über 70 Jahren keinen „heißen“ Krieg gehabt zu haben. Möge sich das so erhalten!
 
Liebe Grüße zu dir von
Syrdal
 

Pan

Deinem Wunsch voll zu entsprechen, nichts geht darüber!
Ich hab zwar den ollen Wilhelm II. nicht gekannt, sooo alt bin ich nun auch noch nicht, aber die Zeit bis Kriegsende ist mir fest im Gedächtnis.
Und mein Opa - der 45 von marodierenden Banden in meiner Heimatstadt ermordet wurde - erzählte dem 11Jährigen genug aus der seiner Zeit.
70 Jahre Frieden, eine lange Zeit, wie sie Europa nie hatte. Und dennoch brannte und brennt die Welt immer noch an allen Enden voller Hass, das wird sich auch nie ändern.
Ich hoffe mit Dir, dass ich Unrecht habe ...
meint mit einem Lächeln
Horst

Syrdal


Lieber Horst, das mit den andauernden Kriegen wird sich ändern! Entweder die Menschen kommen irgendwann zur Vernunft und kümmern sich dann endlich gemeinsam darum, diese schöne Erde lebenswert zu erhalten oder... sie rotten sich aus und dann gibt es eben auch keine Kiege mehr...
 
...sagt mit einem sehr unsicheren Lächeln  
Syrdal  


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