Ich suchte ein Buch in meinen Regalen. Ich fand es nicht. Dafür blieb mein Blick an dem Buchrücken eines Buches hängen:
Wolfgang Müller »Eichwalde unterm Hakenkreuz«.
Vergessen, was ich suchte! Nein, hineinschauen, lesen.

„Mein Eichwalde“, wenn ich diesen Ort so nennen darf, wo unsere Familie neun Jahre, von Herbst 1936 bis Sommer 1945, gewohnt, gelebt hatte und gewachsen war.

1936: Es zogen von Berlin-Oberschöneweide nach Eichwalde in die Schillerstraße 43 zu: Großvater, Eltern und wir drei Geschwister und … Rauhaar-Dackel Pucki.

1938: Schwesterchen Nr. 3 kam im Mai aus dem Elisabeth-Krankenhaus in Berlin-Karlshorst dazu.

1940: Großvater kam im Januar nicht mehr aus dem Krankenhaus zurück; Hund Pucki wurde kurz darauf von seiner Trauer um Herrchen erlöst.

1940: Brüderchen landete kurz vor Weihnachten bei uns, in Eichwalde.

1943: Schwesterchen Nr. 4 erlaubte sich als „April-Scherz“ bei uns einzutreffen.
So waren wir sechs Geschwister.

Wenngleich seit 1938 das Verdunkeln geübt und seit Mitte 1939 zur strengen Pflicht wurde, blieb uns Geschwistern unser Eichwalde in positiver Erinnerung.

1944, nach dem (zweiten) schweren Luftangriff vom 16.Januar, nahm sich unsere Mutter Urlaub vom Roten Kreuz und evakuierte unsere Familie in den Odenwald. Mit von der Partie war unsere Ukrainerin Wera, sie kam mit in den Odenwald. Dem Vater, der in Berlin in der Greifswalder Straße kaserniert war, passte dies gar nicht. Aber was soll’s.

Als die Kinder der Vermieterin in Neukölln ausgebombt worden waren, bekamen sie das Recht, in „unserem“ Haus in der Schillerstraße 43 Quartier zu beziehen. Sie bekamen Großvaters Zimmer, Möbel und die Bücherei mussten beiseite geschafft werden; sie kamen ins z.Zt. nicht benutzte Schlafzimmer.

Die Invasion in der Normandie drängte Mutter und Kinder, aus Oberkainsbach im Odenwald wieder nach Eichwalde zurück zu kehren. Wera blieb bei dem Bauern, wo wir evakuiert gewohnt hatten. Die nun richtig beengten Wohnverhältnisse in dem kleinen, freistehenden Einfamilienhaus führten, so auch im zum Luftschutzkeller ausgebauten Keller, zu Reibereien.

Die Mutter war wieder beim Roten Kreuz tätig. Als Haushaltshilfe kam Aurelia aus Litauen zu uns, eine ganz liebe Offiziersfrau, die nicht sagen konnte, was die Russen mit ihrem Mann gemacht hatten.

Aurelia sorgte sich sehr um uns. Als der Russe östlich der Dahme schon Stellung bezogen hatte, erlebte Eichwalde die Anflüge russischer Jagdbomber. Und genau in solch einen Angriff – Splitterbomben landeten in der Schillerstraße auch als Blindgänger auf dem Beton – geriet unsere Mutter. Sie war ja in ihrem schwarzen Mantel deutlich zu erkennen – schwarz auf hellem Märkischen Sand. Mutter wollte in Grundstücke flüchten, doch waren die Gartentore verschlossen. Trotz allem kam Mutter heil an, während Aurelia uns in der Zeit mit unseren Köpfen allesamt unter den hochbeinigen Elektroherd „gestopft“ hatte.

1945, als die Fahnen - mit der weißen Scheibe und der schwarzen Rune (Hakenkreuz) - plötzlich ganz rot wurden und mit weißen Laken im Winde um die Wette flatterten, waren die Kinder der Vermieterin plötzlich „schon immer“ Kommunisten gewesen – wie konnte man das glauben!?

Für uns hieß es – die Eltern waren von nun an „Nazis“ – das Haus samt Inventar schnellstens zu räumen.

In dem Eichwalder Heimatheft (Heft III) s.o. las ich den Namen „Streichan“, dem damals amtierenden Bürgermeister (für den erkrankten Bürgermeister Rix).

Streichan?
Der Name kommt in Mutters „Feldpost“-Briefen an unseren Vater vor, der gleich nach Weihnachten 1944 nach Dänemark versetzt worden war. Dort, noch ehe er von dort an die Ostfront sollte, war er in dem Dünensand auf eine Mine getreten, hat als Einziger der Gruppe schwer verwundet überlebte.

Streichan!
Hier Auszüge aus den betreffenden Briefen. Eigentlich sind sie, wenn auch persönlich geschrieben, geschichtliche Dokumente, ich meine: lesenswert.

Meine Eltern haben sich fast täglich geschrieben. Mutters Briefe konnte Vater mit nach Hause bringen, während seine Briefe bis zu unserer „Flucht“ in Eichwalde zurück geblieben waren.

Mutters Schrift ist gut zu lesen. Ich werde die mir übereigneten Briefe abgeschrieben beifügen. Weil sie in der Gänze auch einem Tagebuch gleichen.
Nur ein Name

ortwin


----------------------------------------------------------

Dieser Brief wurde auf zwei Formblättern „Feldpost“ mit Bleistift geschrieben.
Etwa drei Seiten (A4) Text, dann zu A6 gefaltet, brauchte keinen extra Umschlag.

11.II.45

Mein Herzenslieb!
Endlich, endlich habe ich nun Post von Dir und kann an Dich schreiben. Ich habe wohl 4 Brieflein an Dich nach Skjern geschickt, aber ob sie Dich erreichen werden, ist eine Frage.
Schwere Tage liegen hinter uns. Ich habe mein Herz fest in die Hand genommen, und es gehört viel Kraft und Mut dazu, zwischen Miesmachern und Schwarzsehern und Alles hören tapfer seinen Glauben zu bewahren. Am Donnerstag, den 31.I. hatte hier die Spannung ihren Höhepunkt erreicht. Gerüchte auf Gerüchte umschwirrten einen. Einmal standen die Sowjets schon bei Strausberg, ein anderes Mal hatte der Feind bei Eberswalde Luftlandetruppen abgesetzt und als zu guter Letzt die Zeuthener Sirene Dauerton heulte (Feuer), rutschte selbst mir für ein paar Minuten das Herz in die Hosen. Gott sei Dank hat sich dann die Spannung doch gelöst. Wie man mir jedoch von Volksturmmännern berichtete, war das tatsächlich der kritischste Augenblick, denn 3 Panzer sind tatsächlich bis Wriezen durchgekommen und vernichtet worden. Das Tauwetter hat wohl nun den Russen etwas aufgehalten, ob er nun bis hierher kommen wird? Mein Glauben will mir nein sagen. Wenn man jedoch die Panzersperren und Befestigungsanlagen sieht, Du glaubst nicht, wie der Grünauer Wald aussieht, dann kann man einfach nicht ruhig bleiben. Ich habe nun alles in Koffer gepackt, außerdem sind der Handwagen und der kleine Korbrollwagen, außerdem der Zweiradwagen fertig. Eine Beförderung mit der Bahn ist wohl unmöglich, so dass wir wohl laufen müssen, wenn es soweit ist. Ich fertig und zu Allem bereit, aber gehen werde ich erst, wenn wir müssen, und es wirklich nicht anders geht.
Der 2.II. hat einen fürchterlichen Terrorangriff auf Berlin gebracht. Es soll der schrecklichste Angriff überhaupt gewesen sein, die Menschen, die ihn in Berlin mitgemacht haben, sind mit gelben Gesichtern heimgekommen, grauer Staub bedeckte Hüte und Mäntel. Das Schlimmste war jedoch, dass Berlin mit Flüchtlingen vollgestopft war und die Flüchtlinge keinen Platz mehr in den Bunkern fanden und zu Hunderten auf den Straßen den Tod fanden. Bei uns war nichts los, aber wir haben gemerkt, dass draußen die Hölle war, wie ein fernes Erdbeben dröhnte und zitterte die Erde. Einige Abschüsse haben wir beobachten können. Ein Flieger jaulte auch über uns hinweg. Frau Tiemann hat diesen Angriff auch in Berlin miterlebt, nun kommt man ganz gut mit ihr aus. Wir haben den Keller umgeräumt, nun ist auch Platz für sie zum Schlafen. Lebensmittelund Kartoffeln sind auch im Keller unten und viel Wasser. Wir müssen nun warten, was das Schicksal uns bringt, noch sieht es nicht gut aus an der Front, wenn sie auch so leidlich zum Stehen gekommen ist. Es sieht nur halt so aus, als stopfe man das eine Loch zu, um ein anderes dafür aufzureißen. Ich verstehe nicht viel von Allem, ich möchte so gern glauben, dass Alles gut wird. Ein Bissel graut mir, falls wir hier fort müssten. Ja aber wohin denn, und wie gern man Kinder aufnimmt, das habe ich wohl gemerkt. Wie mag es einem zu Mute sein, wenn man dann selbst dran steht? (Licht ist wieder aus).
Briefe gehen nur bis 20gr. Geld 16,-Mk heute abgeschickt. Die einzige Zeitung seit Wochen ebenfalls abgeschickt. Es freut mich, dass Du Dich satt essen kannst. Iss so viel Du kannst, an uns denke, bitte, nicht, vorläufig haben wir noch zu essen, und weiß, wie lange wir noch hier sind. Es wäre schade, wenn etwas verloren ginge. Wie ich Dir Zigaretten schicken kann, werde ich überlegen. Ich muss ins Bett, wir dürfen keine Kerzen mehr brennen, da wir sehr selten Strom haben, gut dass die Pumpe da ist.
Nun Schluss
Mit liebem Gruß
Dein Lotting.

Ich arbeite noch auf der Gemeinde und bin ziemlich unentbehrlich geworden, Herr Streichan hat mich ganz besonders gelobt, als tatkräftig und mit Rückgrat. Jedenfalls lass ich mir kei X vor dem U vormachen, und es tut gut, wenn hinzugelernt.


(c) muellersss

----------------------------------------------------------



Anzeige

Kommentare (4)

stefanie Ich fühlte mich in diese Zeit zurückversetzt durchdie Briefe Deiner Mutter und so geht es sicher manhen unter uns,die den Krieg noch erlebt haben.Wir waren noch jung,aber esbleibt vieles im Gedächtnis und plötzlich stehen die eigenen Erlebnisse vor unsern Augen.Ich kann nur sagen,daß ich dankbar bin,daß unsee Kinder und Enkel viele Jahre "kriegfrei" erlebt haben. Grüße von stefanie
Pan in solchen Briefen lesen zu dürfen, an den Schicksalen der Menschen teilzuhaben.
Meine Mutter hatte auch einen ganzen Stapel dieser Feldpostbriefe, mit Bändchen zusammengebunden. Leider
sind die dann verschollen.
Du bringst mit diesem Beitrag eine Saite zum Klingen, die vielleicht nur bei uns "Alten" noch einen hellen Ton erzeugt...
Lieb Grüße, Horst~
Traute Habe es wieder mit größtem Interesse gelesen. Ich weiß viel über meine Erlebnisse, aber wer schreibt schon über das Leben derer, die in der Mitte Deutschlands waren. Danke, wäre doch schön wenn es mal ein Buch würde.
Mit freundlichen Grüßen
Traute
ortwin Wir Pimpfe standen auf dem Bahnsteig und nahmen die herangebrachten Flüchtlinge in die Gemeinde.

Mutter war über die Tätigeit beim Roten Kreuz zur Flüchtlingsbetreuerin geworden. Wenn sie in einer der beschlagnahmten Gaststätten mit anderen RK-Helferinnen die Erfrierungen behandelt hatte, ging es dann mit diesen Flüchtlingen durch die dunklen Straßen von Eichwalde, unser Handwagen trug die Habe der Leutchen, die jetzt in eine Villa hier und eine Villa da einqurtiert werden mussten - ich begleitete Mutter dabei.

Als wir nach unserer (freiwilligen) Flucht nach dem Einmarsch der Russen und dem Potsdamer Abkommen im Westen in Niedersachsen landeten, wurde Mutter in dem Dorf Hämelschenburg eben auch da Flüchtlingswart, denn da kamen zu den Flüchtlingen jetzt die Vertriebenen aus den Ostgebieten an.

Etwas ist mir schließlich geblieben, hab's mir mir von den Schlesiern abgehört: "Das mecht wohl sein!" und so klingt es manches Mal bei meinem Spatz trotz der zig Jahre Berlin heraus.
ortwin

Anzeige