Nun endlich
Vieles in diesem Aufsatz hatte ich in anderer Form, zu anderem Anlaß und anderer Perspektive geschrieben. So mag mancher Leser das eine oder andere schon verkostet haben. Aber, je näher der Tag heranrückt, dem schon einige Besuche der Szene vorausgingen, desto mehr und besonders auch meiner hier in Bayern zurückbleibende Schwester kommen die Erinnerungen auf, unterstützt von der zusammengehäuften Literatur über Eichwalde, die zumeist die Zeit nach unserem Auszug festhält. Laßt mich schreiben, erzählen, wie es unserer Familie in Eichwalde gefiel. Eichwalde war schon 1936 für uns nur eine Zwischenstation auf dem Wege in das im Sparen anvisierte, in Bernau bei Berlin noch zu bauen gewesene Haus für uns alle. 1939 sollte die Grundsteinlegung sein, daraus wurde nichts: Krieg. 1944 versuchte unsere Mutter auf dem Grundstück in Bernau zwei Behelfsheime zu installieren, daraus wurde auch nichts, weil Soldaten mit den Dächern dieser, unserer Behelfsheime sich ein wärmendes Feuer leisteten.
Schicksal – wie sich später zeigte: das war gut so.
Nun endlich wird ein Heimweh gestillt. Ganze fünfundsechzig Jahre war ich fort von dem Ort und seiner Landschaft ringsum, wo ich ab dem sechsten Lebensjahr neun Jahre lang aufwachsen durfte. Neun Jahre Wachstum, Schulzeit und davon sechs Jahre im Krieg. Eben der Krieg war es, der die Familie nach Einmarsch der Russen in den Westen – der war damals noch nicht goldig – ausziehen ließ.
Das Grundstück in der Schillerstraße Nummer 43 wurde gegen die Einsicht von der Straße her durch hohe Fliederbüsche abgeschirmt. Wir Kinder, erst drei dann vier und schließlich sechs, waren darin gut geborgen, wir konnte spielen und toben, ohne auf die Straßen zu müssen, zu dürfen oder zu wollen. Wir lernten die ersten Einkäufe schon mal alleine auszuführen, aber viel weiter war das auch nicht.
Als der Winter kam, fragten Kinder von der Straße, ob ich mit zu den Karnickelbergen wollte. Au ja! Ich zog mit dem Schlitten los. Es waren da keine gefährlichen Hügel. Man konnte sich auf den Schlitten setzen oder legen und ab ging es irgendeinen Hügel hinunter, der mindestens eine Bahn hatte. Die Zeit verging, ich hatte nicht gemerkt, wie die Anderen so nach und nach (ich kannte sie doch noch gar nicht) verschwunden waren. Da stand ich nun alleine in der Dunkelheit, wußte nur die ungefähre Richtung, die ich zurück mußte. Es ging durch den Wald, durch unberührten Schnee. Bilder tauchten auf, als durch die Baumstämme in der Ferne da und dort Lichter erschienen. Furcht überkam mich. Es war eine Ewigkeit, bis ich auf fester und bekannter Straße landete. Ich wäre gerannt, wenn nicht die Schneeglätte und der mitzunehmende Schlitten mich daran hinderten. Selig kam ich zu Hause an, wo man sich schon Sorgen um mich gemacht hatte.
Es war im Februar 1937, als Mutter mich an die Hand nahm, mit mir in die Schule, das große Gebäude an der Bahnhofstraße und Joachimstraße, gleich neben dem Spritzenhaus, ging und mich zum Schulbesuch anmeldete. Es schneite etwas, als wir wieder zurück in die Schillerstraße stapften. Noch war es Winter. Opa schenkte mir ein Fünfmarkstück.
Nach dem Osterfest wurde es ernst. Im Tornister waren Schultafel und Griffelkasten verstaut. Noch ehe ich damit zur Schule gebracht wurde, bekam ich schon die zweite Tafel: Vater schimpfte mit mir, weil ich den Tornister so abgelegt hatte, daß er da draufgetreten hatte, was der Tafel nicht bekommen war. Aber: wir brauchten keine Schultafel, nein, wir fingen gleich mit Bleistift ins Heft zu schreiben an.
Opa war ein Künstler im Anspitzen der Bleistifte, er, der ständig einen kurzen davon in der Seitentasche seiner Weste, gleich neben der Taschenuhr, versteckt hatte. Er brauchte das Exemplar, um sich über jedes Rätsel, wo immer er es auch fand, herzumachen, es zu lösen. Kennt noch jemand das Rösselsprungrätsel? Überhaupt, ich schlief beim Opa im Zimmer, oben im Dachgeschoß, Ausblick nach Westen, zusammen mit der Bücherei, dem behäbigen Sekretär (Schrank), dem großen Marienbild, der Biedermeier-Uhr, dem großen Aquarium mit seiner elektrischen Pumpe und den dazugehörenden Wasser-Filtergefäßen und unseren Fuß an Fuß in der Dachschräge stehenden Betten. Was hat der von mir vergötterte Mann für eine Arbeit gehabt, das Wasser des Aquariums auszutauschen, zwei Zimmer weit zum Klo mit den Eimern voll Wasser, erst ausleeren, dann wieder auffüllen. Den Opa sehe ich noch in seinem langen Nachthemd mit den Rosenborten an Ärmeln und Kragen. Und ich sehe ihn auch sich an der Biedermeier-Uhr damit zu beschäftigen, durch Drehen des Minutenzeigers den Zeitvorlauf der Uhr auszugleichen, stets bei Halb und Voll Auf das Abarbeiten des Schlagens mit dem Weiterdrehen abzuwarten.
Ich stand gerne mit dem Opa ganz früh auf. Zusammen bereiteten wir für die Familie das Frühstück vor – Opa bekam sein Gänse-Ei und seine große Zwiebelmuster-Tasse – wir deckten zusammen den Tisch im Eßzimmer, bis es Zeit war die Eltern zu wecken: „Hans, Lotte! Es ist Zeit aufzustehen“. Alle eilten zur großen oder kleinen „Toilette“, trafen dann nach und nach am Frühstückstisch ein.
Es ging friedlich zu, kaum, daß jemand durch Stöhnen, Meckern oder lautstarkes Plappern diese Andacht störte. Alle waren rechtzeitig aufgestanden, damit jeder pünktlich seinen „Abgang von der Bühne“ erreichte. Mutter schmierte die Butterbrote – sie war die Letzte, die mit den Kleinen die Tafel aufhob.
Wir beiden Ältesten, meine Schwester Barbara und ich holten den Koffer mit den zwei Blechkanistern hervor, verluden ihn auf den Handwagen. Damit begleiteten wir Vater zum Bahnhof, der Zug brachte beide Männer, Vater und Opa, nach Berlin in die Behrenstraße. Alle zwanzig Minuten kam der Zug von Königs Wusterhausen in Richtung Görlitzer Bahnhof. In Grünau wechselten Beide in die S-Bahn nach Spandau-West, im Bahnhof Friedrichstraße mußten sie umsteigen.
Barbara und ich kehrten mit dem Handwagen und den vom Vater in der Grünauer Straße Ecke Schmöckwitzer Straße im Sommer geernteten Champignons zurück, schulterten unsere Schulranzen und marschierten die Grünauer Straße bis zur Bahnhofstraße erreichten dann unsere Schule.
Ich war ja 1937 eingeschult worden, Barbara erst 1939, zu Ostern wie gesagt. 1937 wurde die Kurfürstenstraße befestigt. Nach Schulschluß landete ich in dem hellen Sand der langgezogenen Ausschachtung, herrlich zu spielen, herrlich die Umwelt zu vergessen … bis, ja bis der Opa mit seinem Spazierstock da oben auf Normalniveau erschien (mich weckte). Opas Stock war hart, von ganz dunklem, dicken Nußholz (nur ein Stocknagel zierte das gute Stück: aus Bernburg/Saale, wo Opa geboren war). Der Stock war Erziehungsmaßnahme Nummer eins (unmittelbar). Aufgeregt empfing uns Mutter: Erziehungsmaßnahme Nummer zwei und ab ins Bett. Am Abend kam der „Herr des Hauses“: Erziehungsmaßnahme Nummer drei mit dem Rohrstock. Danach endlich was zu essen: Bouletten. Und danach? Tage danach kam der Schularzt, nur gut daß ich meinen Hintern nicht vorzeigen mußte von wegen der blauen Flecken (die ich selbst nicht sah aber spürte).
In der Klasse im alten Schultrakt roch es nach dem Öl, mit dem der Fußboden getränkt war. Unser Klassenlehrer hieß Staerke. Wir hatten Respekt vor und Vertrauen zu ihm. An seinem Revers trug er (wie man das später nannte) den Bonbon, das Parteiabzeichen. Wir hatten ihn im ersten Schuljahr als einzigen Lehrer.
Ich fiel im Werdegang Schule sechs Wochen aus: ich bekam Scharlach; Mutter isolierte mich mit sich im Elternschlafzimmer, Vater zog derweil nach oben. An der hohen, zweiflügeligen Schlafzimmertür war Grenze für Alle. Ich konnte vom Krankenbett aus Vater, Großvater, die Haustochter und die Geschwister sehen, aber eben nur weit weg. Mutter ging abends, wenn alles schlief, hinaus in den Garten, traf sich dort mit Vater. Als die Zeit um war, fiel mir nach der langen Liegezeit das Laufen schwer. Ich suchte die Bequemlichkeit auf dem Dreirad, doch man zwang mich reichlich zum Gehen.
1938, unsere Mutter erwartete wieder ein Kindchen, nun waren wir drei Rangen, die morgens miterleben konnten, das sich da etwas in Mutters immer größer werdenden Bauch bewegte. Und dann so im Mai war Mutter einfach mal weg. Dann kam die Mercedes-Taxe von Herrn Bayer, die immer am Bahnhof mit einer anderen Taxe stand, vorgefahren, wir stiegen ein, in dem geräumigen Gefährt für sechs Personen oder mehr nahmen wir Platz, jeder hatte ein Sträußchen Vergißmeinnicht in der Hand und ab ging es in Schmöckwitz auf’s Adlergestell in Richtung Schöneweide, hielt in Karlshorst vor dem Elisabeth-Krankenhaus, wo unser Klapperstorch seinen Landeplatz hatte. Unsere Mutter kam vom Vater begleitet mit einem kleinen Bündel zur Taxe: Ilse!
Und zum Muttertag standen wir zu Hause vor der Schlafzimmertür der Eltern, wieder jeder mit einem Blumensträußchen in der Hand. Vater hatte mit uns ein mit der Musik aus Zar und Zimmermann vertontes Gedicht eingeübt, aus voller Kehle weckten wir unsere Mutter.
Im zweiten Schuljahr kamen ab und zu der Rektor Froboese und manches Mal auch Schülerinnen aus den ältesten Klassen – so die spätere Schauspielerin Sonja Ziemann – zur Aufsicht in die Klasse. Die Schulklasse schipperte mit dem Sterndampfer vom Anleger „Gasthaus Palme“ in Schmöckwitz über den Seddinsee, vorbei an der Schillerwarte rechts in den Gosener Bergen, durch den Gosener Kanal und Erkner zum Flakensee und schließlich zur Woltersdorfer Schleuse. Da war es toll in dem bewirtschafteten Gelände. Besonderes Kennzeichen war eine Säule, auf der eine blecherne Klucke saß, die ihre Eier nur gegen Eindrehen einer erforderlichen Münze abgab. Zurück ging die Fahrt über den Dämmeritzsee, auf der Müggelspree durch Neu Venedig, raus über den Großen Müggelsee nach Köpenick, dann die Dahme aufwärts durch den Langen See mit seiner Regattastrecke schließlich nach Schmöckwitz.
Mit den Eltern ging es per Rad hinaus in die Märkischen Wälder, mal in Richtung Wernsdorf und Neu Zittau, entlang dem Oderspree-Kanal, ein anderes Mal zum Forsthaus Uklei und rüber nach Königs Wusterhausen. Aber auch die Wälder um Wüstermark waren Ziel zur Pilzsuche. In den hochstämmigen Kiefernschonungen sammelten wir die Tontöpfe ein, die gebrochen am Boden lagen und das Harz aus den angeritzten Kiefern aufgefangen hatten. Unser Vater und zu Hause der Opa waren Pilzkenner, sie begutachteten unsere Sammlungsergebnisse sehr streng, ließen aber auch manchen Pilz zu, den andere vorsichtshalber oder in Unkenntnis nicht mitnahmen.
Unser Hausarzt Dr.med. Schumann aus der Schmöckwitzer Straße 8 baute mit seiner Frau in derselben Straße für seine Praxis und Familie das Anwesen Nummer ? (das Haus, wo später Frau Doktor Gertrud Bolle ihre Praxis eröffnete). Das war nun näher und in Rufweite zu unserem Grundstück. Als zwei Geschwister Eleonore und Ilschen die Masern und Lungenentzündung bekamen – das war in der warmen Zeit, womit sie bei offenen Fenster auf der Veranda schlafen konnten – sprang der Doktor mal eben über die Zäune der Nachbargrundstücke herüber, um nach seinen Patienten zu schauen. Ein herzliches Verhältnis hatte sich zwischen Mutter und Frau „Doktor“ entwickelt. Besonders nahm sie sich unseres Ilschens an, das nach seiner schwierigen Geburt sehr fremdelte, wenn Mutter nicht da war.
Im dritten Schuljahr wechselte unsere Klasse in den Mittelbau der Schule. Schwester Barbara startete im alten Schultrakt ihre Schulzeit. Oh, hatte sie es bei Fräulein Winzer schwer. Vater bastelte für Barbara das Lehrmittel „Uhr“. Wir paukten zusammen das verdammte Einmaleins. Doch irgendwie und irgendwann funktionierten Unterricht und Hausaufgaben. Da brach im Sommer der Krieg aus. „Mutti, was ist Krieg?“. Wir jungen Geschöpf sollten es bald wissen, bald erleben.
Ich fand diese Widmung von Opa und Vater in einem Berlin-Buch, daß ich sicherlich zu Kriegsbeginn mit aufgelistet hatte. Beide Herren kannte bestens, was Krieg bedeutete. Das Buch war 1946 nach einem Besuch unserer Mutter in Eichwalde als Päckchen wie viel andere Bücher nach Hämelschenburg übergesiedelt worden – die Eltern schenkten es mir in den achtziger Jahren.
Polen war erobert. Da wurde Vater eingezogen. Zog er dann und wann als Blockleiter seine Braune Uniform an, trug er jetzt nur noch das „Feldgrau“. Seine Fahrten in die Behrenstraße gab es nicht mehr, gerade, daß er noch die Eröffnung der Nordsüd-Verbindung der S-Bahn miterlebt hatte, so also eben weiter von der Friedrichstraße zum S-Bahnhof „Unter den Linden“ fahren konnte. Noch bevor er sich in der Chausseestraße im Hof einer Gaststätte melden mußte, fuhr er mit uns Großen ins „Museum für Meereskunde“. Alle Exponate waren nicht anzusehen, die neuen Schiffsmodelle waren für Besucher gesperrt. Vater kam zur Grundausbildung nach Polen. Schließlich landete er an der Ostsee in Pommern beim Grenzschutz. Da er durch seine „Plattfüße“ Schwierigkeiten im Laufen durch den Dünensand hatte, schickte man ihn wieder nach Hause.
Kaum war Vater bei der Gemeinde wieder angemeldet, kam ein neuer Gestellungsbefehl und der wurde einen Tag später wieder aufgehoben, weitere Tage später ein neuer Gestellungsbefehl – die auf der Gemeinde fluchten bei dem Hickhack des Ab- und Anmeldens. Vater landet beim Wehrmeldeamt in Jüterbog. Er war für uns und wir für ihn doch irgendwie erreichbar. Und da unser Vater technisch immer helfen konnte, entstand bei einem Bäcker in Jüterbog eine Bekanntschaft, nachdem die Glocke an der Ladentür wieder funktionierte. Daß Vater von dem etwas verstand, konnte ich erleben, wenn er auf der Leiter stand, ich unten die Leiter hielt und Werkzeug nach dem Motto „Tupfer, Skalpell“ raufreichte, es dann ab und zu einen Fluch gab nach Empfang eines Stromschlages (was das ist, hat er uns mit der Influenzmaschine gezeigt und spüren lassen). Wenn er aus Jüterbog heimkam, brachte er stets ein großes Brot mit. Ich durfte dann mal zu den Böttchers fahren und in der Backstube mitwirken, ja sogar etwas vom Heilpraktiker-Wesen zu erleben.
Die erste Bombe auf Eichwalde fiel auf das Grundstück Kurfürstenstraße Ecke Schmöckwitzer Straße. Ein relativ kleiner Bombentrichter war zu besichtigen. Der Zahnarzt in Haus Nummer 8 erzählte, daß ihn der Luftdruck vom Fenster rücklings in die Badewanne gepreßt hätte – nun, man kann damit noch Eindruck schinden. Eindruck machte auch die Nachricht, daß einer unserer Lehrer sich vom Zug hat totfahren lassen. Das Wort dafür war „Selbstmord“. Wir pilgerten hin zur Schranke in der Friedenstraße. Wir glaubten an der Schranke noch Blut in der weißroten Streifung zu erkennen. Weiter gingen die Gedanken dazu nicht.
1940, unser Opa war heimgegangen. Nun hatten wir in Oberschöneweide auf dem Friedhof zwei Gräber: Tante Trudchen und Opa. Der Winter war lausig kalt. Opas Zimmer wurde nicht mehr geheizt. Damit gefror der Inhalt des Aquariums zu einem Block, oh Wunder, daß der nicht die Scheiben zerbrochen hat. Wir hatten Mühe, beim Wärmerwerden diese Fischgrabstätte hinaus ins Freie zu bugsieren. Es hat lange gedauert, bis das Aquarium vom Eise befreit und der Eisbrocken verschwunden war. Opas Hund Pucki vermißte sein Herrchen, biß um sich, bekam die Staupe – Mutter brachte ihn zum Arzt, kam ohne ihn wieder nach Hause. Nun haben wir noch einen lieben Spielkameraden verloren.
Kurz vor Weihnachten kam Ulrich zu uns, wir vier Geschwister hatten nun einen kleinen Bruder. Das machte uns ganz stolz. Es war Winterzeit. Mutter kam aus der Waschküche im Hof, wo sie insbesondere Windeln gewaschen hatte. Beim Öffnen der Haustür blieb sie an der metallenen Klinke hängen. Tags drauf wurde am kleinen Finger der rechten Hand eine Blutvergiftung festgestellt. Mutter mußte operiert werden. Die Damen der NS-Frauenschaft sahen sich genötigt bei der Versorgen des Babies zu helfen – Mutter hat die Tratschweiber fortgejagt. Dafür halfen die Schwestern vom Roten Kreuz so herzlich, daß Mutter nach der Genesung dem Roten Kreuz beitrat, eine schicke Schwesterntracht und die obligatorische Umhängetasche erhielt. Und damit ging Mutter des Öfteren zum Dienst. Anfangs gab es ja noch ein Pflichtjahrmädchen im Haus.
1941, ich bestand die Aufnahmeprüfung zur Oberschule. Ich wurde mit einem Vierfarben-Druckstift belohnt. An Ostern ging es in besonders lange Ferien. Man stellte alles von Ostern auf Herbst um. So hatten wir frei bis hinein in den September. Im April trat ich in Jungvolk ein. Zur Pimpfen-Probe ging es mit dem Zug über Königs Wusterhausen hinaus zum Springsee. Ich durfte unseren Handwagen für aller Gepäck mitbringen. Das waren tolle Tage da draußen so mit Zelt und Lagerfeuer. Herrliche Märsche durch den Heidesand, das Gepäck auf dem Rücken war vergessen bei dem Anblick der Landschaft rund um den See. Krebse haben wir gefangen, aber ins tiefe Wasser bin ich nicht gegangen – ich konnte noch nicht schwimmen.
Was macht man mit den Kindern bei so langer Ferienzeit? Ich bekam meine neue Pimpfen-Uniform angezogen, ein Schild mit meinen wichtigen Daten um den Hals gehängt, Mutter brachte mich zum Anhalter Bahnhof. Mein Zug brachte mich zur Großmutter nach Stolberg in den Harz. Weil ein Umsteigen in Halle an der Saale notwendig war, wurde eine Dame im Abteil gebeten, mir beim Umsteigen zu helfen. Mutter weinte, als der Zug anfuhr. Ich dagegen steckte zunächst einmal das Plakat an meiner Brust ins Innere des braunen Hemdes und dem Knotentuch. Mich interessierte zunächst nicht die vorbeiziehende Landschaft, es machte auch wenig Spaß sich beim Herauslehnen aus dem geöffneten Fenster immer einen „Elefanten“ der Rasse Kohlengruß einzufangen. In Halle verabschiedete ich mich artig von meiner „Gouvernante“ bestieg den Zug in Richtung Nordhausen und Kassel. Ich landete in einem Wagen der alten Holzklasse, ehemals 4.Klasse. Da war in diesen „Wagen für Reisende mit Traglasten“ so einiges los. Es war kurz nach Mittag, also strebten die Leutchen mit ihren Kiepen, Körben und Käfigen wohl vom Markt in der Stadt wieder nach Hause. Ein lebhaftes Spektakel übertönte das Geräusch der überrollten Schienstöße. In Berga-Kelbra mußte ich noch einmal umsteigen, da wollte mich Großmutter abholen – doch wie sieht sie aus, wann habe ich sie je gesehen, wie lange war das her. Doch auf einem so kleinen Bahnhof bleiben nur wenige Menschen zur Auswahl übrig, die sich einander erwarten. Und Großmutter nahm mich herzlich in Empfang. Die Stichbahn fuhr hinein in den Harz, lieferte uns an der Endstation in Stolberg ab. Eine ganz tolle Welt tat sich mir auf. Eine ganz tolle Zeit mit Vaters Schwester und ihren Kindern begann, prägte sich mit den Eindrücken ganz tief ein.- Wir Buben durchstreiften Ort und Wälder, zogen hinauf zum Schloß, um doch mal den Grafen zu sehen, wenn mal seine Standarte gehißt war, sahen aber mindestens die zwei Wachsoldaten in historischer Uniform und ihren Hellebarden.- Wir bauten im Wald aus Zweigen kleine Hütten, immer Angst, es könnte uns ein brunftiger Hirsch angreifen.- Am Samstag zogen wir in der Stadtkirche hinauf in die Seilerstube, hängten uns an die Glockenseile, brachten die Glocken zum Schwingen, zum Schlagen des Klöppels an die Glocke. Hier oben war der Lärm ein wenig leiser als oben in der Glockenstube, wo andere Buben zum Ende des Geläuts die Glocken ein- und abfingen.- Ich hatte zum allerersten Mal eine Kammer für mich zum Schlafen bei Nachbarn. Anstatt zu schlafen, las ich „Karl Peters“ bis in die Dunkelheit und am Morgen, bis es Zeit war hinauf zum Frühstück zu gehen. Aber alle Zeit geht irgendwann und irgendwie zu Ende. Tante Evchen nahm ihre drei von vier Rangen (der Älteste war auf der Napola) und mich mit zur Wanderung durch das Thyratal zur Höhle Heimkehle. Eine große Tropfsteinhöhle (die später in Zusammenhang mit „von Braun“ und „Lager Dora“ traurige Berühmtheit erlangte).- Und schließlich saß ich wieder im Zug nach Halle und Berlin – ohne Umhängsel – konnte rechter Hand den Kyffhäuser und sein Denkmal erblicken, ehe vor Sangerhausen der Zug in einem Tunnel Abschied vom Harz nimmt.
Auch Schwester Barbara kam mal aus dem Haus. Im Rahmen der Kinderlandverschickung machte sie Ferien in Zülichau (liegt heute im Polnischen). Vielleicht schreibt sie hierzu ihre Erinnerungen.
Das Schulleben hatte seinen Rhythmus. Jeden Mittwoch und Samstag wurde das Lernen dazu durch Dienst bei Jungvolk und H.J. gestört: wir brauchten dazu keine Hausaufgaben zu lösen. War wieder eine Sammlung für’s Winterhilfswerk der NSV, dann lösten wir Jungs eine Bahnsteigkarte und fuhren mit Zug und S-Bahn verbotenerweise den Ring entlang und mit der Stadtbahn, die Sammelbüchse in der Hand um Spenden bettelnd. Mutter machte es anders: sie nahm die Figürchen aus dem Erzgebirge, baute sie auf den Gepäcktischen vor den Fahrkartenschaltern auf, lockte so die noch geöffneten Geldbörsen zu Einkaufeiner Figur oder einfach nur einer Spende. Unsere Sammelergebnisse konnten sich sehen lassen.
Lehrer kamen, Lehrer gingen, nur die ganz alten blieben da. Ganz leicht hatten sie es nicht mit uns. Kam doch immer mehr der Dienst zum Dachdecken dazu – wieder eine Entschuldigung mehr, nicht richtig zu lernen. Auch war es wichtig, sich bei der Kohlenvergabe anzustellen und die zugeteilte Menge mit Handwagen oder Schlitten nach Hause zu schleppen.
Die Vermieterin mußte ihren von ihr mit Gerümpel (trockenem Holz) belegten Keller räumen, damit wir einen Luftschutzkeller bekamen. Wir mußten von der Hauseingangstür ums Haus herum zur im Hof liegenden Kellertreppe, anfangs nur im Dunkeln, Licht durfte keiner nach außen lassen, also ein mit der Zeit gewohntes Tapsen, bepackt mit Bettzeug und Notgepäck. Eines Tages – Vater war jetzt bei den Landesschützen in Berlin in der Greifswalder Straße angekommen – bauten Onkel Hannes, Obersteiger von Zivilberuf, und Vater den Keller richtig zu einem Bunker aus. Vierkanthölzer wurden angeliefert, vermessen und zugeschnitten, auch gezapft, schließlich zwischen Boden und Kellerdecke selbsthaltend verkrampt. Damit der Putz der Kellerdecke uns nicht erschlug, verschalten sie das Gerüst nach oben. Schließlich wurden Koje eingebaut, damit wir bei Alarm da unten schlafen konnten.
1943, wie immer entweder vor oder nach Mitternacht holten die Sirenen zum Alarm aus mit ihrem jaulenden, auf und abschwellenden Geheule. Wie immer zog man sich flugs im Dunkeln an – die Sachen mußten stets ordentlich auf dem Hocker oder Stuhl abgelegt sein – half den Geschwistern beim Anziehen, es mußte schnell gehen, das Bettzeug flugs zusammen gerollt und vor dem Rausgehen das restliche Licht aus, Haustür auf und ab ums Haus herum in den Keller. Ein ganz schwaches Licht aus einem Klingeltrafo wies uns den Weg zu den Kojen.
Eigentlich ein Ablauf wie immer, anders aber in der Nacht 23./24.Dezember: morgens um vier Uhr kamen die Bomber wieder. Hastig flüchteten wir in den Luftschutzkeller. Und wir waren gerade drinnen, ging draußen der Lärm der Flakfeuer los. Lauter als je zuvor. „Christbäume“ schwebten herab. Die Eisenbahn-Flak vom Betriebsbahnhof Schöneweide war nach Eichwalde heraus gekommen und ballerte was das Zeug hergab. Bomben fielen, im Keller hob und senkte sich die Kellerdecke, Putz rieselte durch die Ritzen der Schalbretter. Hier war doch keine Industrie! Ein unheimliches Geräusch scheppernd, knatternd war zu hören, wahrscheinlich von dem Bomber, der getroffen in die Gärtnerei da hinten nach Zeuthen fiel. Bis sechs Uhr dauerte der Spuk. Als wir nach der Entwarnung aus dem Keller vorsichtig aufstiegen, war der Himmel so rot, wie wir es sonst nur im Norden, also in Richtung Berlin beobachtet hatten.
Hat es heute Eichwalde erwischt? Es roch nach Brand. Mit Schiß in der Hose ging ich meiner Pflicht nach (ich war Vaters Stellvertreter, ich war eben der Große), unser Haus zu inspizieren, nach Blindgängern zu suchen, dann konnten die Geschwister wieder aus dem Keller zurück in ihre Betten.
Mutter setzte sich den Luftschutzhelm auf, nahm ihre Sanitätstasche mit, ich folgte ihr mit Eimer und der „Flitspritze“. Da hinten in der Schillerstraße, da, wo sie den Knick machte, brannte ein Haus, der Phosphor lief an der Hauswand herunter. Das konnte man mit der Luftschutzspritze nicht löschen. Von der Feuerwehr war weder etwas zu hören noch zu sehen. Wir stolperten weiter in den aufkommenden Morgen. Da brannte eine Laube, in die Berliner versucht hatten, einiges an Hab und Gut zu retten. Etwas weiter entdeckten wir einen Schwelbrand, rissen die Tür der Laube auf, spritzten Wasser ins Feuer und warfen Sand in die Flammen, zogen ein Sofa heraus, wo sich die Stabbrandbombe an ihre Arbeit gemacht hatte. Tage später entdeckten wir im gefrorenen Boden ein weiß umrändertes Loch: da war so nahe am Haus 1,5 Meter entfernt eine Stabbrandbombe ausgebrannt – haben wir ein Glück gehabt.
Anders sah es in der Taut-Siedlung aus. Da war eine Mine eingeschlagen. Wie es da aussah, kannst du in anderen Publikationen nachlesen. Denn dazu standen wir eben nur am Rand. Es war ganz schlimm, die Nachrichten tröpfelten an diesem Heiligabend nur scheibchenweise. Als Mutter und ich dreckig und stinkend nach Hause kamen, warteten die Geschwister am Weihnachtsbaum auf uns. Der Vater brauchte von der Greifswalder Straße sehr lange raus nach Eichwalde. Überall Zerstörungen. Aber wir waren wieder zusammen, das Singen von Weihnachtsliedern fiel mir sehr schwer – Wut und Traurigkeit zusammen, kein Weihnachtsgefühl.
Tage später, Jungvolk und H.J. standen Spalier auf dem Weg zum Friedhof, als die Toten der Taut-Siedlung beigesetzt wurden. Was man da in den Reden von sich gab, hörten, verstanden wir nicht, uns war beim Stehen kalt an Händen, Füßen und Ohren geworden.
1944, die Angriffe auf Berlin wurden häufiger, immer schlimmer. Die Oper Unter den Linden brannte, unzählige Feuerwehrschläuche liefen von der Spree zur Brandstätte. Wie dreckig waren Stadt, Land und Luft. Es gab viele Ruinen von getroffenen Häusern. Der Großeltern Haus in Eichkamp war abgebrannt. Nur gut, daß Mutters Schwester mit den Großeltern in den Odenwald ausgezogen war. Als wir zur Ruine kamen, war der Schutt noch warm, im Keller zerfiel Großvaters Zeitungsarchiv zu Staub. Und immer noch rollten S-Bahn und unsere Vorortbahn.
Am 16.Januar bekam Eichwalde wieder eins auf die Mütze. Und nicht zu knapp. Im Garten wieder eine im gefrorenen Boden eine ausgebrannte Stabbrandbombe. Für Mutter war das ein Zeichen zum Reißausnehmen, so, wie es die beiden Schwestern es vereinbart hatten. Sachen wurden gepackt. Für unsere Ukrainerin Wera wurde die Erlaubnis eingeholt, sie mit in den Odenwald zu nehmen. Vater wurde über die Schumanns telfonisch verständigt, daß hier Aufbruch vollzogen wurde. Vater bekam Urlaub und kam raus nach Eichwalde.
Ich frage mich noch heute, wie Mutter das alles organisierte, so auch das Herausfinden einer Zugverbindung von Berlin in den Odenwald, man bedenke: es war Krieg, wir selbst hatten kein Telefon, ein Internet gab es nicht, man brauchte auch Bescheinigungen.
Wir brachen um 16 Uhr auf. Vater brachte uns zum Anhalter Bahnhof. Um 19 Uhr rollte unser Zug hinaus in die stockdunkle Nacht, Vater blieb in Berlin. Mit Wera fand ich auf unseren Koffern Platz im Gang des D-Zugwagens vor dem Abteil, wo Mutter mit den Geschwistern im Abteil „Mutter und Kind“ Platz nehmen durften (ich war schon zu alt dafür). Schwester Barbara war schon mit Tante Trudel in den Odenwald gefahren. Wir fuhren durch die Nacht. „Kettenhunde“ (Militärpolizei) kontrollierte den Zug. Vera hatte Angst. Der Zug wurde einmal vor Halle an der Saale gestellt: Fliegeralarm (für den Heizer der Lok hieß es, möglichst kein Licht aus er Feuerbüchse scheinen zu lassen). In Halle war der Bahnhof hell beleuchtet, Fliegeralarm? Der Zug schlich am brennenden Nordhausen vorbei. In Kassel war die Halle des Hauptbahnhofes hell beleuchtet, Fliegeralarm?? Weiter ging es über Fulda nach Hanau. Da standen wir übernächtigt im Morgengrauen auf einem Bahnsteig ohne Dach, wechselten hinüber zu einem Personenzug, der uns durch eine immer freundlicher anzusehende Landschaft transportierte. Bis wir in Wiebelsbach-Heubach landeten. Da ging es nun nicht mehr weiter. Erst am Spätnachmittag kam ein Zug aus Darmstadt, brachte uns schließlich nach Erbach.
Unsere Cousine Ute holte uns mit dem Handwagen vom Bahnhof ab. Wir fanden unterm Dach des großen Rotsandsteinhauses unsere Schlafstatt.
Irgendeine Spannung zwischen den Großeltern und Mutter war (wie früher in Eichkamp) zu spüren. So wanderte Tante Trudel mit Mutter und mir nach einer Busfahrt rüber ins Kainsbach-Tal, wo Mutter für uns bei den Arras auf dem Sonnesch-Hof ein Zimmer und eine Kammer bekam. Mit Mutter fuhr ich noch einmal nach Berlin und packte Notwendiges für ein längeres Bleiben im Ober-Kainsbach zusammen. Wir schliefen bei den Schumanns, man ließ mich während des Alarms ruhig weiterschlafen.
Nun hatte ich einen weiten Schulweg, etwa fünf Kilometer zu Fuß hinab ins Gersprenz-Tal zum Haltepunkt Nieder-Kainsbach des „Odewäller Liesche“, das mich bis Groß-Bieberau brachte, zu Fuß dann weiter zum Gymnasium (Schwester Barbara war zunächst in Erbach geblieben).
Eigentlich eine friedliche Zeit. Aber hoch über uns flogen die Bomber-Pulks, malten ihre Kondensstreifen an den Himmel, sie brachten ihre zerstörerische Fracht nach Schweinfurt und Nürnberg. Saß man im Kellergewölbe untern Wohnhaus, dann konnte man die Bombeneinschläge spüren, sogar die bei Angriffen auf Köln. Der „Ticker“ vom Drahtfunk sagte uns die Planquadrate an, wo gerade etwas passierte.
Es waren Ferien. Unser Vater kam aus Berlin herüber und wir durchstreiften die Wälder im Odenwald. Das Auf und Ab war so anders, wie wir es aus unserer Mark kannten. Verbotenerweise trug unser Vater dabei Zivil – wenn die Bomberpulks am Himmel nicht gewesen wären, die uns an den Krieg erinnerten, so hätte man frei und furchtlos die Welt genießen können.
Ich durfte mit dem Milchauto mitfahren, das die Milchkannen nach Bad König zur Molkerei fuhr. Das Lastauto fuhr mit Holzgas, ein Teil der Ladefläche wurde von dem Generator und einer großen Portion Holzstücken ausgefüllt. Ich durfte dem Fahrer bei Füttern des Generators mit Holz helfen, ich durfte die zu übergebenen/übernehmenden Milchkannen bewegen. Wir unterhielten uns ganz fröhlich. Hauptthema war dann die Landung in der Normandie. Bei einer Fahrt wurde der Fahrer sehr ernst und warnte, daß in den nächsten Tagen etwas Schlimmes oder Tolles passieren würde. Das Attentat auf Hitler – und der Fahrer war nicht mehr gesehen, ein Zusammenhang damit?
Die Front im Westen rückte näher und näher und auch im Osten kam sie dem Reich näher heran. Mutter blies zum Aufbruch zurück nach Eichwalde. Schon Vater hatte zur Rückkehr gemahnt, hatten sich doch in unserem Haus die in Neukölln ausgebombten Kinder der Vermieterin einquartiert. Wollten wir wieder zurück zu unserem Hab und Gut, mußten wir schleunigst zurückkehren. Wera, die Ukrainerin blieb auf dem Bauernhaus zurück.
Einen halben Gedeckten Güterwagen ergatterte Mutter zum Zurückführen unserer im Odenwald befindlichen Sachen und Lebensmittel – natürlich auch der Ballons mit dem Blaubeerwein. Auf der Heimfahrt trafen wir mit den Flüchtlingen aus Metz zusammen. Schlimm sah die Landschaft aus, die der Zug bei Leuna im Schritt-Tempo durchfuhr: Bombentrichter, umgeknickte Fahrstrom-Masten. Wir kamen zurück ins Kriegsgeschehen.
Es war eng geworden in unserem „Paradies“ zu uns 7-8 Personen waren vier dazugekommen. Probleme, wohin man schaute. Bis hinunter in den Luftschutzkeller, wo sich die Leutchen in ihren Gerümpel erst einmal eigenen Platz schaffen mußten. Und dann das Teilen in Küche und Bad. Der Weg zu ihrer Bleibe führte direkt durch unser vorgelagertes Kinderzimmer. Unser Schlafzimmer war zur Abstellkammer geworden, irgendwo mußten doch Möbel und Bibliothek abbleiben. Mit Ach und Krach konnte die äußerste Kammer für unsere Haushilfe, Aurelia, eine Offiziersfrau aus Litauen, freigehalten werden.
Wir kamen zurück nach Eichwalde. Wir hatten Probleme im Schulstoff: war man dort mit anderen Schulbü-chern ausgestattet, so mußte man hier wieder zurück umsteigen. Wieder ging es zum Dienst beim Jungvolk, Dächerdecken, Aufräumen. Schule wurde zum ungeliebten Tagespensum – jeder lauerte auf das befreiende Rufen „Ellfünfzehn“, Luftwarnung in fünfzehn Minuten, wer konnte, wetzte nach Hause, andere mußten im Keller der Schule ausharren, bis „die Luft wieder rein“ war. Wir schafften es, nicht so die Zeuthener Schüler.
Mutter arbeitete wieder beim Roten Kreuz. Es ging zum Winter zu, die in Eichwalde gelandeten Flüchtlinge zu versorgen, ehe sie weiter ziehen konnten. Aus Gaststätten wurden Notlager und Verbandsstellen, da vorne am Bahnhof und da Bahnhofstraße Ecke Grünauer Straße. Der Strom der Flüchtlinge wuchs mehr und mehr an. Mit der Kälte kamen die Erfrierungen. Mutter schuftete von früh bis spät – nur gut, daß Aurelia für uns Kinder sorgte. Wir vom Jungvolk halfen auf dem Bahnhof den Ankömmlingen. Und du glaubst es nicht: immer noch kamen mittags um 14 Uhr noch zwei neue Güterzug-Loks aus Wildau an, hielten kurz, ehe sie ihre Fahrt nach Schöneweide fortsetzten. Und auch die Kohlenzüge aus Schlesien kamen zur Weiterfahrt zu den Kokereien am Nordring noch an. Immer wieder hielt ein Flüchtlingszug.
Flüchtlinge blieben in Eichwalde hänge. Mutter bekam die Aufgabe, sie alle in Eichwalde unterzubringen, sie wurde Flüchtlingswart. Viele Einwohner sperrten sich gegen die Zuweisung, ein Polizist begleitete Mutter als Vollzugsperson. Mutter erwarb sich wenige Freunde damit. Schließlich bekam sie die Vollzugsgewalt direkt. Ich begleitete Mutter bis tief in die Nacht, zog ihr unseren Handwagen, auf das wir das Gepäck der Flüchtlinge luden.
Und dann setzte sich Mutter noch hin und schrieb unserem Vater den täglichen Brief nach Dänemark. Er war gleich nach Weihnachten dorthin versetzt worden. Für mich fiel damit zugleich die Möglichkeit, mir in der Kaserne in der Greifswalder Straße auf Vaters Stube die Haare schneiden zu lassen. In Eichwalde gab es eben keinen Herrenfriseur mehr.
Ich weiß nicht, was ich da hinten an der Zeuthener Straße gesucht, gemacht hatte. Ein Opel-Blitz von Wehr-macht-Heer (WH) hielt an. Er war vollgeladen mit Flüchtlingen. Der Soldat wollte wissen, wie er nach Berlin käme. Ich bot mich an, ihn zu leiten, stand bei der Fahrt mit vereisten Beinen der Überfallhose auf dem Tritt-brett bis man mich ins Führerhaus herein holte. Bis nach Grünau habe ich sie geführt. Ich bekam das Fahrgeld für die Rückfahrt nach Eichwalde. Ganz stolz war ich.
Hans-Joachim Pöppel aus der Herderstraße warb für den Eintritt in die Nachrichten-H.J. Und da wir im nächsten Jahr sowieso in die H.J. überwechseln mußten, aber keine Lust auf die Braune H.J. hatten, wurden wir in den neuen Haufen aufgenommen, Pöppel wurde unser Scharführer. Wir übten an vorhandenem, altem und neuem Gerät, das ergänzte unser Physik-Wissen auf praktische Art. Das Leitung-Legen, Mastwurf und Stangenbund, die Erde als Rückleiter, den FF33, den Klappenschrank, wir lernten es kennen und bedienen.
Eines Tages rief uns Pöppel zusammen. Los ging’s zum OKH (Oberkommando des Heeres) in Zossen. Dort holten wir Fernmeldemittel für den Volkssturm ab. Wir schleppten es in Papestraße hinauf zur S-Bahn, kletterten damit ins Dienstabteil, dem vorderen Abteil hinterm Führerstand, worüber die Eisenbahner sich gar nicht freuen wollten. Aber wir hatten doch eine hoheitliche Aufgabe, wir waren die Größten. Auch die Bemerkungen, daß wir gar nicht mehr nach Eichwalde kämen, der Russe stand bereits vor Fürstenwalde. Uns hat das nicht angefochten. Mit dem Gerät marschierten wir hinaus zum Schulzendorfer Gutshaus, bauten unter Anleitung eines jungen Fahnenjunkers eine Feldvermittlung auf, durften jetzt auch Vermittlungsdienst schieben. Bei Fliegeralarm jagte man uns gegen unseren Willen in den Keller. Schließlich entließ man uns, man schickte uns nach Hause.
Der Flüchtlingsstrom riß ab. Mutter hatte keinen Dienst mehr. Sie war noch einmal losgezogen, die Marken für Tabakwaren und so sollten noch eingelöst werden. Sie hatte ihen schwarzen Wintermantel an. Als sie wieder zurück in die Schillerstraße einbog, sausten zwei russische Jagdbomber heran – wir hatten sie vorbeiflitzen sehen, zwei IL-2. Die ballerten ihre Geschosse auf den Straßenbeton, warfen kleine Bomben ab. Aurelia schnappte sich uns alle und versuchte unsere Köpfe unter den hochbeinigen Herd in der Küche zu pressen. In den Luftschutzkeller ging’s nicht mehr. Die Bomber flogen noch mehrmals die Schillerstraße an, ehe sie abdrehten. Da kam unsere Mutter ganz aufgelöst zurück, der Mantel war voller Sand. Ihr galten die Anflüge, sie war beschossen worden, blieb aber unverletzt. Sie hatte versucht, in einen der Gärten zu flüchten, aber die Gartentore waren verschlossen. Und das alles nur wegen der Marken, für die sie nichts mehr bekommen konnte.
Die Front rückte näher, man konnte das Ballern in der Ferne hören. Einige von uns, auch ich, wollten uns in Potsdam freiwillig melden. Die Mütter holten zum Schlag aus: Karzer im Luftschutzkeller. Ich tröstete mich mit dem Blaubeerwein. Es hieß, die SS wäre in Eichwalde eingezogen und daraufhin beschoß der Russe Eichwalde mit der Artillerie. Bei Nachbar Bär schlug ein Geschoß mit anfänglich wahrnehmbarem Gejaule in die Hauswand ein, gerade als ich von der Wohnung außen herum zum Luftschutzkeller war. Als das Jaulen aufhörte, schmiß ich mich zu Boden, riß das Maul auf, ganz automatisch, wie es uns ein Kriegsteilnehmer gelehrt hatte. Der Luftdruck aus der Explosion des Geschosses schleuderte mich an unsere Hauswand. Das Kiefergelenk schmerzte. Nun hatten die Bär’s ein schönes Loch im Mauerwerk.
In der Nacht besetzte der Russe Eichwalde. Dem MG-Geknatter nach ist er wohl die Grünauer Straße oder die Markgrafenstraße nordwärts gezogen, hatte in die Querstraßen beschossen, bis sich das Geknatter legte. Der Nachbar hinter uns erzählte flüsternd, daß ein Russe bei ihm am Zaun war und „Uri – Uri“ gerufen hat. Noch Tage dauerte es, bis auch im Norden in Berlin das Schießen nicht mehr zu hören war. Es gab keine Fliegeralarme mehr, das war ganz komisch, so in der Leere zu vegetieren.
Ein russischer Sergant betrat mit einem einfachen Soldaten unseren Garten. Mutter scharte uns Kinder sofort um sich – wie eine streitbare Glucke. „Ein Russe tut keinem Kind etwas!“. Man verlangte Wasser. Wir waren froh, daß Vater die Pumpe im Garten noch instandgesetzt hatte, denn für’s Trinkwasser lief hier keine elektrische Pumpe mehr. Friedlich zogen die Beiden wieder ab, nachdem sie (nur) das Wasser bekommen hatten. Es konnte nicht mehr elektrisch gekocht werden, es gab keine Klospülung mehr. Gewaschen wurde an der Pumpe – Mutter achtete weiter auf die Reinigung der Ohren.
Ab hier geht es weiter in meinem Aufsatz „Ich war ein Träumer“. Das darin Geschriebene führt direkt weiter in meinem Bericht über „das Paradies“ in Eichwlade.
Ich freue mich ganz verrückt auf die Heimkehr, auch wenn es nicht gerade Eichwalde ist, wo ich aufschlage. Ich kann aber schnell eben rüber rutschen und die Lungen mit dem Duft von Eichwalde vollpumpen.
ortwin
Schicksal – wie sich später zeigte: das war gut so.
Nun endlich
Nun endlich wird ein Heimweh gestillt. Ganze fünfundsechzig Jahre war ich fort von dem Ort und seiner Landschaft ringsum, wo ich ab dem sechsten Lebensjahr neun Jahre lang aufwachsen durfte. Neun Jahre Wachstum, Schulzeit und davon sechs Jahre im Krieg. Eben der Krieg war es, der die Familie nach Einmarsch der Russen in den Westen – der war damals noch nicht goldig – ausziehen ließ.
Das Grundstück in der Schillerstraße Nummer 43 wurde gegen die Einsicht von der Straße her durch hohe Fliederbüsche abgeschirmt. Wir Kinder, erst drei dann vier und schließlich sechs, waren darin gut geborgen, wir konnte spielen und toben, ohne auf die Straßen zu müssen, zu dürfen oder zu wollen. Wir lernten die ersten Einkäufe schon mal alleine auszuführen, aber viel weiter war das auch nicht.
Als der Winter kam, fragten Kinder von der Straße, ob ich mit zu den Karnickelbergen wollte. Au ja! Ich zog mit dem Schlitten los. Es waren da keine gefährlichen Hügel. Man konnte sich auf den Schlitten setzen oder legen und ab ging es irgendeinen Hügel hinunter, der mindestens eine Bahn hatte. Die Zeit verging, ich hatte nicht gemerkt, wie die Anderen so nach und nach (ich kannte sie doch noch gar nicht) verschwunden waren. Da stand ich nun alleine in der Dunkelheit, wußte nur die ungefähre Richtung, die ich zurück mußte. Es ging durch den Wald, durch unberührten Schnee. Bilder tauchten auf, als durch die Baumstämme in der Ferne da und dort Lichter erschienen. Furcht überkam mich. Es war eine Ewigkeit, bis ich auf fester und bekannter Straße landete. Ich wäre gerannt, wenn nicht die Schneeglätte und der mitzunehmende Schlitten mich daran hinderten. Selig kam ich zu Hause an, wo man sich schon Sorgen um mich gemacht hatte.
Es war im Februar 1937, als Mutter mich an die Hand nahm, mit mir in die Schule, das große Gebäude an der Bahnhofstraße und Joachimstraße, gleich neben dem Spritzenhaus, ging und mich zum Schulbesuch anmeldete. Es schneite etwas, als wir wieder zurück in die Schillerstraße stapften. Noch war es Winter. Opa schenkte mir ein Fünfmarkstück.
Nach dem Osterfest wurde es ernst. Im Tornister waren Schultafel und Griffelkasten verstaut. Noch ehe ich damit zur Schule gebracht wurde, bekam ich schon die zweite Tafel: Vater schimpfte mit mir, weil ich den Tornister so abgelegt hatte, daß er da draufgetreten hatte, was der Tafel nicht bekommen war. Aber: wir brauchten keine Schultafel, nein, wir fingen gleich mit Bleistift ins Heft zu schreiben an.
Opa war ein Künstler im Anspitzen der Bleistifte, er, der ständig einen kurzen davon in der Seitentasche seiner Weste, gleich neben der Taschenuhr, versteckt hatte. Er brauchte das Exemplar, um sich über jedes Rätsel, wo immer er es auch fand, herzumachen, es zu lösen. Kennt noch jemand das Rösselsprungrätsel? Überhaupt, ich schlief beim Opa im Zimmer, oben im Dachgeschoß, Ausblick nach Westen, zusammen mit der Bücherei, dem behäbigen Sekretär (Schrank), dem großen Marienbild, der Biedermeier-Uhr, dem großen Aquarium mit seiner elektrischen Pumpe und den dazugehörenden Wasser-Filtergefäßen und unseren Fuß an Fuß in der Dachschräge stehenden Betten. Was hat der von mir vergötterte Mann für eine Arbeit gehabt, das Wasser des Aquariums auszutauschen, zwei Zimmer weit zum Klo mit den Eimern voll Wasser, erst ausleeren, dann wieder auffüllen. Den Opa sehe ich noch in seinem langen Nachthemd mit den Rosenborten an Ärmeln und Kragen. Und ich sehe ihn auch sich an der Biedermeier-Uhr damit zu beschäftigen, durch Drehen des Minutenzeigers den Zeitvorlauf der Uhr auszugleichen, stets bei Halb und Voll Auf das Abarbeiten des Schlagens mit dem Weiterdrehen abzuwarten.
Ich stand gerne mit dem Opa ganz früh auf. Zusammen bereiteten wir für die Familie das Frühstück vor – Opa bekam sein Gänse-Ei und seine große Zwiebelmuster-Tasse – wir deckten zusammen den Tisch im Eßzimmer, bis es Zeit war die Eltern zu wecken: „Hans, Lotte! Es ist Zeit aufzustehen“. Alle eilten zur großen oder kleinen „Toilette“, trafen dann nach und nach am Frühstückstisch ein.
Es ging friedlich zu, kaum, daß jemand durch Stöhnen, Meckern oder lautstarkes Plappern diese Andacht störte. Alle waren rechtzeitig aufgestanden, damit jeder pünktlich seinen „Abgang von der Bühne“ erreichte. Mutter schmierte die Butterbrote – sie war die Letzte, die mit den Kleinen die Tafel aufhob.
Wir beiden Ältesten, meine Schwester Barbara und ich holten den Koffer mit den zwei Blechkanistern hervor, verluden ihn auf den Handwagen. Damit begleiteten wir Vater zum Bahnhof, der Zug brachte beide Männer, Vater und Opa, nach Berlin in die Behrenstraße. Alle zwanzig Minuten kam der Zug von Königs Wusterhausen in Richtung Görlitzer Bahnhof. In Grünau wechselten Beide in die S-Bahn nach Spandau-West, im Bahnhof Friedrichstraße mußten sie umsteigen.
Barbara und ich kehrten mit dem Handwagen und den vom Vater in der Grünauer Straße Ecke Schmöckwitzer Straße im Sommer geernteten Champignons zurück, schulterten unsere Schulranzen und marschierten die Grünauer Straße bis zur Bahnhofstraße erreichten dann unsere Schule.
Ich war ja 1937 eingeschult worden, Barbara erst 1939, zu Ostern wie gesagt. 1937 wurde die Kurfürstenstraße befestigt. Nach Schulschluß landete ich in dem hellen Sand der langgezogenen Ausschachtung, herrlich zu spielen, herrlich die Umwelt zu vergessen … bis, ja bis der Opa mit seinem Spazierstock da oben auf Normalniveau erschien (mich weckte). Opas Stock war hart, von ganz dunklem, dicken Nußholz (nur ein Stocknagel zierte das gute Stück: aus Bernburg/Saale, wo Opa geboren war). Der Stock war Erziehungsmaßnahme Nummer eins (unmittelbar). Aufgeregt empfing uns Mutter: Erziehungsmaßnahme Nummer zwei und ab ins Bett. Am Abend kam der „Herr des Hauses“: Erziehungsmaßnahme Nummer drei mit dem Rohrstock. Danach endlich was zu essen: Bouletten. Und danach? Tage danach kam der Schularzt, nur gut daß ich meinen Hintern nicht vorzeigen mußte von wegen der blauen Flecken (die ich selbst nicht sah aber spürte).
In der Klasse im alten Schultrakt roch es nach dem Öl, mit dem der Fußboden getränkt war. Unser Klassenlehrer hieß Staerke. Wir hatten Respekt vor und Vertrauen zu ihm. An seinem Revers trug er (wie man das später nannte) den Bonbon, das Parteiabzeichen. Wir hatten ihn im ersten Schuljahr als einzigen Lehrer.
Ich fiel im Werdegang Schule sechs Wochen aus: ich bekam Scharlach; Mutter isolierte mich mit sich im Elternschlafzimmer, Vater zog derweil nach oben. An der hohen, zweiflügeligen Schlafzimmertür war Grenze für Alle. Ich konnte vom Krankenbett aus Vater, Großvater, die Haustochter und die Geschwister sehen, aber eben nur weit weg. Mutter ging abends, wenn alles schlief, hinaus in den Garten, traf sich dort mit Vater. Als die Zeit um war, fiel mir nach der langen Liegezeit das Laufen schwer. Ich suchte die Bequemlichkeit auf dem Dreirad, doch man zwang mich reichlich zum Gehen.
1938, unsere Mutter erwartete wieder ein Kindchen, nun waren wir drei Rangen, die morgens miterleben konnten, das sich da etwas in Mutters immer größer werdenden Bauch bewegte. Und dann so im Mai war Mutter einfach mal weg. Dann kam die Mercedes-Taxe von Herrn Bayer, die immer am Bahnhof mit einer anderen Taxe stand, vorgefahren, wir stiegen ein, in dem geräumigen Gefährt für sechs Personen oder mehr nahmen wir Platz, jeder hatte ein Sträußchen Vergißmeinnicht in der Hand und ab ging es in Schmöckwitz auf’s Adlergestell in Richtung Schöneweide, hielt in Karlshorst vor dem Elisabeth-Krankenhaus, wo unser Klapperstorch seinen Landeplatz hatte. Unsere Mutter kam vom Vater begleitet mit einem kleinen Bündel zur Taxe: Ilse!
Und zum Muttertag standen wir zu Hause vor der Schlafzimmertür der Eltern, wieder jeder mit einem Blumensträußchen in der Hand. Vater hatte mit uns ein mit der Musik aus Zar und Zimmermann vertontes Gedicht eingeübt, aus voller Kehle weckten wir unsere Mutter.
Im zweiten Schuljahr kamen ab und zu der Rektor Froboese und manches Mal auch Schülerinnen aus den ältesten Klassen – so die spätere Schauspielerin Sonja Ziemann – zur Aufsicht in die Klasse. Die Schulklasse schipperte mit dem Sterndampfer vom Anleger „Gasthaus Palme“ in Schmöckwitz über den Seddinsee, vorbei an der Schillerwarte rechts in den Gosener Bergen, durch den Gosener Kanal und Erkner zum Flakensee und schließlich zur Woltersdorfer Schleuse. Da war es toll in dem bewirtschafteten Gelände. Besonderes Kennzeichen war eine Säule, auf der eine blecherne Klucke saß, die ihre Eier nur gegen Eindrehen einer erforderlichen Münze abgab. Zurück ging die Fahrt über den Dämmeritzsee, auf der Müggelspree durch Neu Venedig, raus über den Großen Müggelsee nach Köpenick, dann die Dahme aufwärts durch den Langen See mit seiner Regattastrecke schließlich nach Schmöckwitz.
Mit den Eltern ging es per Rad hinaus in die Märkischen Wälder, mal in Richtung Wernsdorf und Neu Zittau, entlang dem Oderspree-Kanal, ein anderes Mal zum Forsthaus Uklei und rüber nach Königs Wusterhausen. Aber auch die Wälder um Wüstermark waren Ziel zur Pilzsuche. In den hochstämmigen Kiefernschonungen sammelten wir die Tontöpfe ein, die gebrochen am Boden lagen und das Harz aus den angeritzten Kiefern aufgefangen hatten. Unser Vater und zu Hause der Opa waren Pilzkenner, sie begutachteten unsere Sammlungsergebnisse sehr streng, ließen aber auch manchen Pilz zu, den andere vorsichtshalber oder in Unkenntnis nicht mitnahmen.
Unser Hausarzt Dr.med. Schumann aus der Schmöckwitzer Straße 8 baute mit seiner Frau in derselben Straße für seine Praxis und Familie das Anwesen Nummer ? (das Haus, wo später Frau Doktor Gertrud Bolle ihre Praxis eröffnete). Das war nun näher und in Rufweite zu unserem Grundstück. Als zwei Geschwister Eleonore und Ilschen die Masern und Lungenentzündung bekamen – das war in der warmen Zeit, womit sie bei offenen Fenster auf der Veranda schlafen konnten – sprang der Doktor mal eben über die Zäune der Nachbargrundstücke herüber, um nach seinen Patienten zu schauen. Ein herzliches Verhältnis hatte sich zwischen Mutter und Frau „Doktor“ entwickelt. Besonders nahm sie sich unseres Ilschens an, das nach seiner schwierigen Geburt sehr fremdelte, wenn Mutter nicht da war.
Im dritten Schuljahr wechselte unsere Klasse in den Mittelbau der Schule. Schwester Barbara startete im alten Schultrakt ihre Schulzeit. Oh, hatte sie es bei Fräulein Winzer schwer. Vater bastelte für Barbara das Lehrmittel „Uhr“. Wir paukten zusammen das verdammte Einmaleins. Doch irgendwie und irgendwann funktionierten Unterricht und Hausaufgaben. Da brach im Sommer der Krieg aus. „Mutti, was ist Krieg?“. Wir jungen Geschöpf sollten es bald wissen, bald erleben.
Ich fand diese Widmung von Opa und Vater in einem Berlin-Buch, daß ich sicherlich zu Kriegsbeginn mit aufgelistet hatte. Beide Herren kannte bestens, was Krieg bedeutete. Das Buch war 1946 nach einem Besuch unserer Mutter in Eichwalde als Päckchen wie viel andere Bücher nach Hämelschenburg übergesiedelt worden – die Eltern schenkten es mir in den achtziger Jahren.
Polen war erobert. Da wurde Vater eingezogen. Zog er dann und wann als Blockleiter seine Braune Uniform an, trug er jetzt nur noch das „Feldgrau“. Seine Fahrten in die Behrenstraße gab es nicht mehr, gerade, daß er noch die Eröffnung der Nordsüd-Verbindung der S-Bahn miterlebt hatte, so also eben weiter von der Friedrichstraße zum S-Bahnhof „Unter den Linden“ fahren konnte. Noch bevor er sich in der Chausseestraße im Hof einer Gaststätte melden mußte, fuhr er mit uns Großen ins „Museum für Meereskunde“. Alle Exponate waren nicht anzusehen, die neuen Schiffsmodelle waren für Besucher gesperrt. Vater kam zur Grundausbildung nach Polen. Schließlich landete er an der Ostsee in Pommern beim Grenzschutz. Da er durch seine „Plattfüße“ Schwierigkeiten im Laufen durch den Dünensand hatte, schickte man ihn wieder nach Hause.
Kaum war Vater bei der Gemeinde wieder angemeldet, kam ein neuer Gestellungsbefehl und der wurde einen Tag später wieder aufgehoben, weitere Tage später ein neuer Gestellungsbefehl – die auf der Gemeinde fluchten bei dem Hickhack des Ab- und Anmeldens. Vater landet beim Wehrmeldeamt in Jüterbog. Er war für uns und wir für ihn doch irgendwie erreichbar. Und da unser Vater technisch immer helfen konnte, entstand bei einem Bäcker in Jüterbog eine Bekanntschaft, nachdem die Glocke an der Ladentür wieder funktionierte. Daß Vater von dem etwas verstand, konnte ich erleben, wenn er auf der Leiter stand, ich unten die Leiter hielt und Werkzeug nach dem Motto „Tupfer, Skalpell“ raufreichte, es dann ab und zu einen Fluch gab nach Empfang eines Stromschlages (was das ist, hat er uns mit der Influenzmaschine gezeigt und spüren lassen). Wenn er aus Jüterbog heimkam, brachte er stets ein großes Brot mit. Ich durfte dann mal zu den Böttchers fahren und in der Backstube mitwirken, ja sogar etwas vom Heilpraktiker-Wesen zu erleben.
Die erste Bombe auf Eichwalde fiel auf das Grundstück Kurfürstenstraße Ecke Schmöckwitzer Straße. Ein relativ kleiner Bombentrichter war zu besichtigen. Der Zahnarzt in Haus Nummer 8 erzählte, daß ihn der Luftdruck vom Fenster rücklings in die Badewanne gepreßt hätte – nun, man kann damit noch Eindruck schinden. Eindruck machte auch die Nachricht, daß einer unserer Lehrer sich vom Zug hat totfahren lassen. Das Wort dafür war „Selbstmord“. Wir pilgerten hin zur Schranke in der Friedenstraße. Wir glaubten an der Schranke noch Blut in der weißroten Streifung zu erkennen. Weiter gingen die Gedanken dazu nicht.
1940, unser Opa war heimgegangen. Nun hatten wir in Oberschöneweide auf dem Friedhof zwei Gräber: Tante Trudchen und Opa. Der Winter war lausig kalt. Opas Zimmer wurde nicht mehr geheizt. Damit gefror der Inhalt des Aquariums zu einem Block, oh Wunder, daß der nicht die Scheiben zerbrochen hat. Wir hatten Mühe, beim Wärmerwerden diese Fischgrabstätte hinaus ins Freie zu bugsieren. Es hat lange gedauert, bis das Aquarium vom Eise befreit und der Eisbrocken verschwunden war. Opas Hund Pucki vermißte sein Herrchen, biß um sich, bekam die Staupe – Mutter brachte ihn zum Arzt, kam ohne ihn wieder nach Hause. Nun haben wir noch einen lieben Spielkameraden verloren.
Kurz vor Weihnachten kam Ulrich zu uns, wir vier Geschwister hatten nun einen kleinen Bruder. Das machte uns ganz stolz. Es war Winterzeit. Mutter kam aus der Waschküche im Hof, wo sie insbesondere Windeln gewaschen hatte. Beim Öffnen der Haustür blieb sie an der metallenen Klinke hängen. Tags drauf wurde am kleinen Finger der rechten Hand eine Blutvergiftung festgestellt. Mutter mußte operiert werden. Die Damen der NS-Frauenschaft sahen sich genötigt bei der Versorgen des Babies zu helfen – Mutter hat die Tratschweiber fortgejagt. Dafür halfen die Schwestern vom Roten Kreuz so herzlich, daß Mutter nach der Genesung dem Roten Kreuz beitrat, eine schicke Schwesterntracht und die obligatorische Umhängetasche erhielt. Und damit ging Mutter des Öfteren zum Dienst. Anfangs gab es ja noch ein Pflichtjahrmädchen im Haus.
1941, ich bestand die Aufnahmeprüfung zur Oberschule. Ich wurde mit einem Vierfarben-Druckstift belohnt. An Ostern ging es in besonders lange Ferien. Man stellte alles von Ostern auf Herbst um. So hatten wir frei bis hinein in den September. Im April trat ich in Jungvolk ein. Zur Pimpfen-Probe ging es mit dem Zug über Königs Wusterhausen hinaus zum Springsee. Ich durfte unseren Handwagen für aller Gepäck mitbringen. Das waren tolle Tage da draußen so mit Zelt und Lagerfeuer. Herrliche Märsche durch den Heidesand, das Gepäck auf dem Rücken war vergessen bei dem Anblick der Landschaft rund um den See. Krebse haben wir gefangen, aber ins tiefe Wasser bin ich nicht gegangen – ich konnte noch nicht schwimmen.
Was macht man mit den Kindern bei so langer Ferienzeit? Ich bekam meine neue Pimpfen-Uniform angezogen, ein Schild mit meinen wichtigen Daten um den Hals gehängt, Mutter brachte mich zum Anhalter Bahnhof. Mein Zug brachte mich zur Großmutter nach Stolberg in den Harz. Weil ein Umsteigen in Halle an der Saale notwendig war, wurde eine Dame im Abteil gebeten, mir beim Umsteigen zu helfen. Mutter weinte, als der Zug anfuhr. Ich dagegen steckte zunächst einmal das Plakat an meiner Brust ins Innere des braunen Hemdes und dem Knotentuch. Mich interessierte zunächst nicht die vorbeiziehende Landschaft, es machte auch wenig Spaß sich beim Herauslehnen aus dem geöffneten Fenster immer einen „Elefanten“ der Rasse Kohlengruß einzufangen. In Halle verabschiedete ich mich artig von meiner „Gouvernante“ bestieg den Zug in Richtung Nordhausen und Kassel. Ich landete in einem Wagen der alten Holzklasse, ehemals 4.Klasse. Da war in diesen „Wagen für Reisende mit Traglasten“ so einiges los. Es war kurz nach Mittag, also strebten die Leutchen mit ihren Kiepen, Körben und Käfigen wohl vom Markt in der Stadt wieder nach Hause. Ein lebhaftes Spektakel übertönte das Geräusch der überrollten Schienstöße. In Berga-Kelbra mußte ich noch einmal umsteigen, da wollte mich Großmutter abholen – doch wie sieht sie aus, wann habe ich sie je gesehen, wie lange war das her. Doch auf einem so kleinen Bahnhof bleiben nur wenige Menschen zur Auswahl übrig, die sich einander erwarten. Und Großmutter nahm mich herzlich in Empfang. Die Stichbahn fuhr hinein in den Harz, lieferte uns an der Endstation in Stolberg ab. Eine ganz tolle Welt tat sich mir auf. Eine ganz tolle Zeit mit Vaters Schwester und ihren Kindern begann, prägte sich mit den Eindrücken ganz tief ein.- Wir Buben durchstreiften Ort und Wälder, zogen hinauf zum Schloß, um doch mal den Grafen zu sehen, wenn mal seine Standarte gehißt war, sahen aber mindestens die zwei Wachsoldaten in historischer Uniform und ihren Hellebarden.- Wir bauten im Wald aus Zweigen kleine Hütten, immer Angst, es könnte uns ein brunftiger Hirsch angreifen.- Am Samstag zogen wir in der Stadtkirche hinauf in die Seilerstube, hängten uns an die Glockenseile, brachten die Glocken zum Schwingen, zum Schlagen des Klöppels an die Glocke. Hier oben war der Lärm ein wenig leiser als oben in der Glockenstube, wo andere Buben zum Ende des Geläuts die Glocken ein- und abfingen.- Ich hatte zum allerersten Mal eine Kammer für mich zum Schlafen bei Nachbarn. Anstatt zu schlafen, las ich „Karl Peters“ bis in die Dunkelheit und am Morgen, bis es Zeit war hinauf zum Frühstück zu gehen. Aber alle Zeit geht irgendwann und irgendwie zu Ende. Tante Evchen nahm ihre drei von vier Rangen (der Älteste war auf der Napola) und mich mit zur Wanderung durch das Thyratal zur Höhle Heimkehle. Eine große Tropfsteinhöhle (die später in Zusammenhang mit „von Braun“ und „Lager Dora“ traurige Berühmtheit erlangte).- Und schließlich saß ich wieder im Zug nach Halle und Berlin – ohne Umhängsel – konnte rechter Hand den Kyffhäuser und sein Denkmal erblicken, ehe vor Sangerhausen der Zug in einem Tunnel Abschied vom Harz nimmt.
Auch Schwester Barbara kam mal aus dem Haus. Im Rahmen der Kinderlandverschickung machte sie Ferien in Zülichau (liegt heute im Polnischen). Vielleicht schreibt sie hierzu ihre Erinnerungen.
Das Schulleben hatte seinen Rhythmus. Jeden Mittwoch und Samstag wurde das Lernen dazu durch Dienst bei Jungvolk und H.J. gestört: wir brauchten dazu keine Hausaufgaben zu lösen. War wieder eine Sammlung für’s Winterhilfswerk der NSV, dann lösten wir Jungs eine Bahnsteigkarte und fuhren mit Zug und S-Bahn verbotenerweise den Ring entlang und mit der Stadtbahn, die Sammelbüchse in der Hand um Spenden bettelnd. Mutter machte es anders: sie nahm die Figürchen aus dem Erzgebirge, baute sie auf den Gepäcktischen vor den Fahrkartenschaltern auf, lockte so die noch geöffneten Geldbörsen zu Einkaufeiner Figur oder einfach nur einer Spende. Unsere Sammelergebnisse konnten sich sehen lassen.
Lehrer kamen, Lehrer gingen, nur die ganz alten blieben da. Ganz leicht hatten sie es nicht mit uns. Kam doch immer mehr der Dienst zum Dachdecken dazu – wieder eine Entschuldigung mehr, nicht richtig zu lernen. Auch war es wichtig, sich bei der Kohlenvergabe anzustellen und die zugeteilte Menge mit Handwagen oder Schlitten nach Hause zu schleppen.
Die Vermieterin mußte ihren von ihr mit Gerümpel (trockenem Holz) belegten Keller räumen, damit wir einen Luftschutzkeller bekamen. Wir mußten von der Hauseingangstür ums Haus herum zur im Hof liegenden Kellertreppe, anfangs nur im Dunkeln, Licht durfte keiner nach außen lassen, also ein mit der Zeit gewohntes Tapsen, bepackt mit Bettzeug und Notgepäck. Eines Tages – Vater war jetzt bei den Landesschützen in Berlin in der Greifswalder Straße angekommen – bauten Onkel Hannes, Obersteiger von Zivilberuf, und Vater den Keller richtig zu einem Bunker aus. Vierkanthölzer wurden angeliefert, vermessen und zugeschnitten, auch gezapft, schließlich zwischen Boden und Kellerdecke selbsthaltend verkrampt. Damit der Putz der Kellerdecke uns nicht erschlug, verschalten sie das Gerüst nach oben. Schließlich wurden Koje eingebaut, damit wir bei Alarm da unten schlafen konnten.
1943, wie immer entweder vor oder nach Mitternacht holten die Sirenen zum Alarm aus mit ihrem jaulenden, auf und abschwellenden Geheule. Wie immer zog man sich flugs im Dunkeln an – die Sachen mußten stets ordentlich auf dem Hocker oder Stuhl abgelegt sein – half den Geschwistern beim Anziehen, es mußte schnell gehen, das Bettzeug flugs zusammen gerollt und vor dem Rausgehen das restliche Licht aus, Haustür auf und ab ums Haus herum in den Keller. Ein ganz schwaches Licht aus einem Klingeltrafo wies uns den Weg zu den Kojen.
Eigentlich ein Ablauf wie immer, anders aber in der Nacht 23./24.Dezember: morgens um vier Uhr kamen die Bomber wieder. Hastig flüchteten wir in den Luftschutzkeller. Und wir waren gerade drinnen, ging draußen der Lärm der Flakfeuer los. Lauter als je zuvor. „Christbäume“ schwebten herab. Die Eisenbahn-Flak vom Betriebsbahnhof Schöneweide war nach Eichwalde heraus gekommen und ballerte was das Zeug hergab. Bomben fielen, im Keller hob und senkte sich die Kellerdecke, Putz rieselte durch die Ritzen der Schalbretter. Hier war doch keine Industrie! Ein unheimliches Geräusch scheppernd, knatternd war zu hören, wahrscheinlich von dem Bomber, der getroffen in die Gärtnerei da hinten nach Zeuthen fiel. Bis sechs Uhr dauerte der Spuk. Als wir nach der Entwarnung aus dem Keller vorsichtig aufstiegen, war der Himmel so rot, wie wir es sonst nur im Norden, also in Richtung Berlin beobachtet hatten.
Hat es heute Eichwalde erwischt? Es roch nach Brand. Mit Schiß in der Hose ging ich meiner Pflicht nach (ich war Vaters Stellvertreter, ich war eben der Große), unser Haus zu inspizieren, nach Blindgängern zu suchen, dann konnten die Geschwister wieder aus dem Keller zurück in ihre Betten.
Mutter setzte sich den Luftschutzhelm auf, nahm ihre Sanitätstasche mit, ich folgte ihr mit Eimer und der „Flitspritze“. Da hinten in der Schillerstraße, da, wo sie den Knick machte, brannte ein Haus, der Phosphor lief an der Hauswand herunter. Das konnte man mit der Luftschutzspritze nicht löschen. Von der Feuerwehr war weder etwas zu hören noch zu sehen. Wir stolperten weiter in den aufkommenden Morgen. Da brannte eine Laube, in die Berliner versucht hatten, einiges an Hab und Gut zu retten. Etwas weiter entdeckten wir einen Schwelbrand, rissen die Tür der Laube auf, spritzten Wasser ins Feuer und warfen Sand in die Flammen, zogen ein Sofa heraus, wo sich die Stabbrandbombe an ihre Arbeit gemacht hatte. Tage später entdeckten wir im gefrorenen Boden ein weiß umrändertes Loch: da war so nahe am Haus 1,5 Meter entfernt eine Stabbrandbombe ausgebrannt – haben wir ein Glück gehabt.
Anders sah es in der Taut-Siedlung aus. Da war eine Mine eingeschlagen. Wie es da aussah, kannst du in anderen Publikationen nachlesen. Denn dazu standen wir eben nur am Rand. Es war ganz schlimm, die Nachrichten tröpfelten an diesem Heiligabend nur scheibchenweise. Als Mutter und ich dreckig und stinkend nach Hause kamen, warteten die Geschwister am Weihnachtsbaum auf uns. Der Vater brauchte von der Greifswalder Straße sehr lange raus nach Eichwalde. Überall Zerstörungen. Aber wir waren wieder zusammen, das Singen von Weihnachtsliedern fiel mir sehr schwer – Wut und Traurigkeit zusammen, kein Weihnachtsgefühl.
Tage später, Jungvolk und H.J. standen Spalier auf dem Weg zum Friedhof, als die Toten der Taut-Siedlung beigesetzt wurden. Was man da in den Reden von sich gab, hörten, verstanden wir nicht, uns war beim Stehen kalt an Händen, Füßen und Ohren geworden.
1944, die Angriffe auf Berlin wurden häufiger, immer schlimmer. Die Oper Unter den Linden brannte, unzählige Feuerwehrschläuche liefen von der Spree zur Brandstätte. Wie dreckig waren Stadt, Land und Luft. Es gab viele Ruinen von getroffenen Häusern. Der Großeltern Haus in Eichkamp war abgebrannt. Nur gut, daß Mutters Schwester mit den Großeltern in den Odenwald ausgezogen war. Als wir zur Ruine kamen, war der Schutt noch warm, im Keller zerfiel Großvaters Zeitungsarchiv zu Staub. Und immer noch rollten S-Bahn und unsere Vorortbahn.
Am 16.Januar bekam Eichwalde wieder eins auf die Mütze. Und nicht zu knapp. Im Garten wieder eine im gefrorenen Boden eine ausgebrannte Stabbrandbombe. Für Mutter war das ein Zeichen zum Reißausnehmen, so, wie es die beiden Schwestern es vereinbart hatten. Sachen wurden gepackt. Für unsere Ukrainerin Wera wurde die Erlaubnis eingeholt, sie mit in den Odenwald zu nehmen. Vater wurde über die Schumanns telfonisch verständigt, daß hier Aufbruch vollzogen wurde. Vater bekam Urlaub und kam raus nach Eichwalde.
Ich frage mich noch heute, wie Mutter das alles organisierte, so auch das Herausfinden einer Zugverbindung von Berlin in den Odenwald, man bedenke: es war Krieg, wir selbst hatten kein Telefon, ein Internet gab es nicht, man brauchte auch Bescheinigungen.
Wir brachen um 16 Uhr auf. Vater brachte uns zum Anhalter Bahnhof. Um 19 Uhr rollte unser Zug hinaus in die stockdunkle Nacht, Vater blieb in Berlin. Mit Wera fand ich auf unseren Koffern Platz im Gang des D-Zugwagens vor dem Abteil, wo Mutter mit den Geschwistern im Abteil „Mutter und Kind“ Platz nehmen durften (ich war schon zu alt dafür). Schwester Barbara war schon mit Tante Trudel in den Odenwald gefahren. Wir fuhren durch die Nacht. „Kettenhunde“ (Militärpolizei) kontrollierte den Zug. Vera hatte Angst. Der Zug wurde einmal vor Halle an der Saale gestellt: Fliegeralarm (für den Heizer der Lok hieß es, möglichst kein Licht aus er Feuerbüchse scheinen zu lassen). In Halle war der Bahnhof hell beleuchtet, Fliegeralarm? Der Zug schlich am brennenden Nordhausen vorbei. In Kassel war die Halle des Hauptbahnhofes hell beleuchtet, Fliegeralarm?? Weiter ging es über Fulda nach Hanau. Da standen wir übernächtigt im Morgengrauen auf einem Bahnsteig ohne Dach, wechselten hinüber zu einem Personenzug, der uns durch eine immer freundlicher anzusehende Landschaft transportierte. Bis wir in Wiebelsbach-Heubach landeten. Da ging es nun nicht mehr weiter. Erst am Spätnachmittag kam ein Zug aus Darmstadt, brachte uns schließlich nach Erbach.
Unsere Cousine Ute holte uns mit dem Handwagen vom Bahnhof ab. Wir fanden unterm Dach des großen Rotsandsteinhauses unsere Schlafstatt.
Irgendeine Spannung zwischen den Großeltern und Mutter war (wie früher in Eichkamp) zu spüren. So wanderte Tante Trudel mit Mutter und mir nach einer Busfahrt rüber ins Kainsbach-Tal, wo Mutter für uns bei den Arras auf dem Sonnesch-Hof ein Zimmer und eine Kammer bekam. Mit Mutter fuhr ich noch einmal nach Berlin und packte Notwendiges für ein längeres Bleiben im Ober-Kainsbach zusammen. Wir schliefen bei den Schumanns, man ließ mich während des Alarms ruhig weiterschlafen.
Nun hatte ich einen weiten Schulweg, etwa fünf Kilometer zu Fuß hinab ins Gersprenz-Tal zum Haltepunkt Nieder-Kainsbach des „Odewäller Liesche“, das mich bis Groß-Bieberau brachte, zu Fuß dann weiter zum Gymnasium (Schwester Barbara war zunächst in Erbach geblieben).
Eigentlich eine friedliche Zeit. Aber hoch über uns flogen die Bomber-Pulks, malten ihre Kondensstreifen an den Himmel, sie brachten ihre zerstörerische Fracht nach Schweinfurt und Nürnberg. Saß man im Kellergewölbe untern Wohnhaus, dann konnte man die Bombeneinschläge spüren, sogar die bei Angriffen auf Köln. Der „Ticker“ vom Drahtfunk sagte uns die Planquadrate an, wo gerade etwas passierte.
Es waren Ferien. Unser Vater kam aus Berlin herüber und wir durchstreiften die Wälder im Odenwald. Das Auf und Ab war so anders, wie wir es aus unserer Mark kannten. Verbotenerweise trug unser Vater dabei Zivil – wenn die Bomberpulks am Himmel nicht gewesen wären, die uns an den Krieg erinnerten, so hätte man frei und furchtlos die Welt genießen können.
Ich durfte mit dem Milchauto mitfahren, das die Milchkannen nach Bad König zur Molkerei fuhr. Das Lastauto fuhr mit Holzgas, ein Teil der Ladefläche wurde von dem Generator und einer großen Portion Holzstücken ausgefüllt. Ich durfte dem Fahrer bei Füttern des Generators mit Holz helfen, ich durfte die zu übergebenen/übernehmenden Milchkannen bewegen. Wir unterhielten uns ganz fröhlich. Hauptthema war dann die Landung in der Normandie. Bei einer Fahrt wurde der Fahrer sehr ernst und warnte, daß in den nächsten Tagen etwas Schlimmes oder Tolles passieren würde. Das Attentat auf Hitler – und der Fahrer war nicht mehr gesehen, ein Zusammenhang damit?
Die Front im Westen rückte näher und näher und auch im Osten kam sie dem Reich näher heran. Mutter blies zum Aufbruch zurück nach Eichwalde. Schon Vater hatte zur Rückkehr gemahnt, hatten sich doch in unserem Haus die in Neukölln ausgebombten Kinder der Vermieterin einquartiert. Wollten wir wieder zurück zu unserem Hab und Gut, mußten wir schleunigst zurückkehren. Wera, die Ukrainerin blieb auf dem Bauernhaus zurück.
Einen halben Gedeckten Güterwagen ergatterte Mutter zum Zurückführen unserer im Odenwald befindlichen Sachen und Lebensmittel – natürlich auch der Ballons mit dem Blaubeerwein. Auf der Heimfahrt trafen wir mit den Flüchtlingen aus Metz zusammen. Schlimm sah die Landschaft aus, die der Zug bei Leuna im Schritt-Tempo durchfuhr: Bombentrichter, umgeknickte Fahrstrom-Masten. Wir kamen zurück ins Kriegsgeschehen.
Es war eng geworden in unserem „Paradies“ zu uns 7-8 Personen waren vier dazugekommen. Probleme, wohin man schaute. Bis hinunter in den Luftschutzkeller, wo sich die Leutchen in ihren Gerümpel erst einmal eigenen Platz schaffen mußten. Und dann das Teilen in Küche und Bad. Der Weg zu ihrer Bleibe führte direkt durch unser vorgelagertes Kinderzimmer. Unser Schlafzimmer war zur Abstellkammer geworden, irgendwo mußten doch Möbel und Bibliothek abbleiben. Mit Ach und Krach konnte die äußerste Kammer für unsere Haushilfe, Aurelia, eine Offiziersfrau aus Litauen, freigehalten werden.
Wir kamen zurück nach Eichwalde. Wir hatten Probleme im Schulstoff: war man dort mit anderen Schulbü-chern ausgestattet, so mußte man hier wieder zurück umsteigen. Wieder ging es zum Dienst beim Jungvolk, Dächerdecken, Aufräumen. Schule wurde zum ungeliebten Tagespensum – jeder lauerte auf das befreiende Rufen „Ellfünfzehn“, Luftwarnung in fünfzehn Minuten, wer konnte, wetzte nach Hause, andere mußten im Keller der Schule ausharren, bis „die Luft wieder rein“ war. Wir schafften es, nicht so die Zeuthener Schüler.
Mutter arbeitete wieder beim Roten Kreuz. Es ging zum Winter zu, die in Eichwalde gelandeten Flüchtlinge zu versorgen, ehe sie weiter ziehen konnten. Aus Gaststätten wurden Notlager und Verbandsstellen, da vorne am Bahnhof und da Bahnhofstraße Ecke Grünauer Straße. Der Strom der Flüchtlinge wuchs mehr und mehr an. Mit der Kälte kamen die Erfrierungen. Mutter schuftete von früh bis spät – nur gut, daß Aurelia für uns Kinder sorgte. Wir vom Jungvolk halfen auf dem Bahnhof den Ankömmlingen. Und du glaubst es nicht: immer noch kamen mittags um 14 Uhr noch zwei neue Güterzug-Loks aus Wildau an, hielten kurz, ehe sie ihre Fahrt nach Schöneweide fortsetzten. Und auch die Kohlenzüge aus Schlesien kamen zur Weiterfahrt zu den Kokereien am Nordring noch an. Immer wieder hielt ein Flüchtlingszug.
Flüchtlinge blieben in Eichwalde hänge. Mutter bekam die Aufgabe, sie alle in Eichwalde unterzubringen, sie wurde Flüchtlingswart. Viele Einwohner sperrten sich gegen die Zuweisung, ein Polizist begleitete Mutter als Vollzugsperson. Mutter erwarb sich wenige Freunde damit. Schließlich bekam sie die Vollzugsgewalt direkt. Ich begleitete Mutter bis tief in die Nacht, zog ihr unseren Handwagen, auf das wir das Gepäck der Flüchtlinge luden.
Und dann setzte sich Mutter noch hin und schrieb unserem Vater den täglichen Brief nach Dänemark. Er war gleich nach Weihnachten dorthin versetzt worden. Für mich fiel damit zugleich die Möglichkeit, mir in der Kaserne in der Greifswalder Straße auf Vaters Stube die Haare schneiden zu lassen. In Eichwalde gab es eben keinen Herrenfriseur mehr.
Ich weiß nicht, was ich da hinten an der Zeuthener Straße gesucht, gemacht hatte. Ein Opel-Blitz von Wehr-macht-Heer (WH) hielt an. Er war vollgeladen mit Flüchtlingen. Der Soldat wollte wissen, wie er nach Berlin käme. Ich bot mich an, ihn zu leiten, stand bei der Fahrt mit vereisten Beinen der Überfallhose auf dem Tritt-brett bis man mich ins Führerhaus herein holte. Bis nach Grünau habe ich sie geführt. Ich bekam das Fahrgeld für die Rückfahrt nach Eichwalde. Ganz stolz war ich.
Hans-Joachim Pöppel aus der Herderstraße warb für den Eintritt in die Nachrichten-H.J. Und da wir im nächsten Jahr sowieso in die H.J. überwechseln mußten, aber keine Lust auf die Braune H.J. hatten, wurden wir in den neuen Haufen aufgenommen, Pöppel wurde unser Scharführer. Wir übten an vorhandenem, altem und neuem Gerät, das ergänzte unser Physik-Wissen auf praktische Art. Das Leitung-Legen, Mastwurf und Stangenbund, die Erde als Rückleiter, den FF33, den Klappenschrank, wir lernten es kennen und bedienen.
Eines Tages rief uns Pöppel zusammen. Los ging’s zum OKH (Oberkommando des Heeres) in Zossen. Dort holten wir Fernmeldemittel für den Volkssturm ab. Wir schleppten es in Papestraße hinauf zur S-Bahn, kletterten damit ins Dienstabteil, dem vorderen Abteil hinterm Führerstand, worüber die Eisenbahner sich gar nicht freuen wollten. Aber wir hatten doch eine hoheitliche Aufgabe, wir waren die Größten. Auch die Bemerkungen, daß wir gar nicht mehr nach Eichwalde kämen, der Russe stand bereits vor Fürstenwalde. Uns hat das nicht angefochten. Mit dem Gerät marschierten wir hinaus zum Schulzendorfer Gutshaus, bauten unter Anleitung eines jungen Fahnenjunkers eine Feldvermittlung auf, durften jetzt auch Vermittlungsdienst schieben. Bei Fliegeralarm jagte man uns gegen unseren Willen in den Keller. Schließlich entließ man uns, man schickte uns nach Hause.
Der Flüchtlingsstrom riß ab. Mutter hatte keinen Dienst mehr. Sie war noch einmal losgezogen, die Marken für Tabakwaren und so sollten noch eingelöst werden. Sie hatte ihen schwarzen Wintermantel an. Als sie wieder zurück in die Schillerstraße einbog, sausten zwei russische Jagdbomber heran – wir hatten sie vorbeiflitzen sehen, zwei IL-2. Die ballerten ihre Geschosse auf den Straßenbeton, warfen kleine Bomben ab. Aurelia schnappte sich uns alle und versuchte unsere Köpfe unter den hochbeinigen Herd in der Küche zu pressen. In den Luftschutzkeller ging’s nicht mehr. Die Bomber flogen noch mehrmals die Schillerstraße an, ehe sie abdrehten. Da kam unsere Mutter ganz aufgelöst zurück, der Mantel war voller Sand. Ihr galten die Anflüge, sie war beschossen worden, blieb aber unverletzt. Sie hatte versucht, in einen der Gärten zu flüchten, aber die Gartentore waren verschlossen. Und das alles nur wegen der Marken, für die sie nichts mehr bekommen konnte.
Die Front rückte näher, man konnte das Ballern in der Ferne hören. Einige von uns, auch ich, wollten uns in Potsdam freiwillig melden. Die Mütter holten zum Schlag aus: Karzer im Luftschutzkeller. Ich tröstete mich mit dem Blaubeerwein. Es hieß, die SS wäre in Eichwalde eingezogen und daraufhin beschoß der Russe Eichwalde mit der Artillerie. Bei Nachbar Bär schlug ein Geschoß mit anfänglich wahrnehmbarem Gejaule in die Hauswand ein, gerade als ich von der Wohnung außen herum zum Luftschutzkeller war. Als das Jaulen aufhörte, schmiß ich mich zu Boden, riß das Maul auf, ganz automatisch, wie es uns ein Kriegsteilnehmer gelehrt hatte. Der Luftdruck aus der Explosion des Geschosses schleuderte mich an unsere Hauswand. Das Kiefergelenk schmerzte. Nun hatten die Bär’s ein schönes Loch im Mauerwerk.
In der Nacht besetzte der Russe Eichwalde. Dem MG-Geknatter nach ist er wohl die Grünauer Straße oder die Markgrafenstraße nordwärts gezogen, hatte in die Querstraßen beschossen, bis sich das Geknatter legte. Der Nachbar hinter uns erzählte flüsternd, daß ein Russe bei ihm am Zaun war und „Uri – Uri“ gerufen hat. Noch Tage dauerte es, bis auch im Norden in Berlin das Schießen nicht mehr zu hören war. Es gab keine Fliegeralarme mehr, das war ganz komisch, so in der Leere zu vegetieren.
Ein russischer Sergant betrat mit einem einfachen Soldaten unseren Garten. Mutter scharte uns Kinder sofort um sich – wie eine streitbare Glucke. „Ein Russe tut keinem Kind etwas!“. Man verlangte Wasser. Wir waren froh, daß Vater die Pumpe im Garten noch instandgesetzt hatte, denn für’s Trinkwasser lief hier keine elektrische Pumpe mehr. Friedlich zogen die Beiden wieder ab, nachdem sie (nur) das Wasser bekommen hatten. Es konnte nicht mehr elektrisch gekocht werden, es gab keine Klospülung mehr. Gewaschen wurde an der Pumpe – Mutter achtete weiter auf die Reinigung der Ohren.
Ab hier geht es weiter in meinem Aufsatz „Ich war ein Träumer“. Das darin Geschriebene führt direkt weiter in meinem Bericht über „das Paradies“ in Eichwlade.
Ich freue mich ganz verrückt auf die Heimkehr, auch wenn es nicht gerade Eichwalde ist, wo ich aufschlage. Ich kann aber schnell eben rüber rutschen und die Lungen mit dem Duft von Eichwalde vollpumpen.
ortwin
Kommentare (0)