Meine Urgroßmutter - und mein Leben mit ihr...


Meine Urgroßmutter - und mein Leben mit ihr...

Sie war meine Urgroßmutter, von mir liebevoll Omi genannt. Bei ihr, mit ihr, habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht.

Hulda Hedwig Peters geborene Blennemann, kam am 22. April 1893 in meiner Heimatstadt Witten an der Ruhr zur Welt. Es gab zwei jüngere Schwestern (die später beide kinderlos blieben). Der Bruder kam heil aus dem 1. Weltkrieg zurück. Aber ein eigentlich harmloser Pickel hinter dem Ohr hatte sich entzündet, es kam zu einer Blutvergiftung und er starb kurz vor der geplanten Hochzeit.

Sie heiratete August Peters, einen Bergmann.
Zu Beginn des 2. Weltkrieges wurde ihre Mutter verschickt, sie kam nie zurück. Niemand weiß, was aus ihr wurde.
1950 verstarb ihre Tochter, meine Großmutter, an Krebs.
Wenige Monate später hieß auch bei der Omi die Diagnose „Speiseröhrenkrebs“. Bis zu ihrem Tod trank sie am Morgen eine Tasse Kaffee mit Eigelb und Zucker, am Mittag eine kleine Flasche Sahne. An sehr, sehr guten Tagen, was extrem selten war, ging auch ein kleines Stückchen Sahnetorte oder ein Eis. Der Spuckeimer stand gut versteckt in einem Regal hinter einem Vorhang, denn bis zum Plumpsklo im Hof, später dann zur Toilette eine Etage tiefer, hätte die Zeit nicht gereicht.

Meine Eltern haben Anfang November 1951 geheiratet, ich kam Ende September 1952 zur Welt. Bereits ein Jahr später waren sie geschieden. Und ich fand mein Zuhause bei den Urgroßeltern.
Der Opi verstarb im Jahre 1955. Staublunge, die Krankheit der Bergleute. Da ist noch eine leise Erinnerung an ihn, an Frigga, den Schäferhund, die Hühner und die Laube im Garten.
Alles das gab die Omi natürlich auf, sie konnte sich nicht darum kümmern.

60 Jahre Altersunterschied!
Bei den von mir so verhassten Mathematikaufgaben konnte sie mir nicht helfen. „Omi, fragst Du mich mal bitte ab, ich muss die Englischvokabeln für morgen können?“ Ich habe es nur einmal gefragt, denn sie konnte nicht verstehen, dass ich es anders aussprach, als es im Vokabelheft stand. „Nene, das ist falsch.“ War es aber nicht.

Es gab bei uns keinen Staubsauger, keinen Kühlschrank, keine Waschmaschine. Aber sie kannte es nicht anders. Sie war auch so zufrieden.
Eigentlich wollte sie auch keinen Fernseher. Als ich 15 war, schlug mir ein Freund vor, ihr einen alten Apparat zu bringen, der nicht mehr benutzt wurde. Sie war selig. Und als er seinen Geist aufgab, stand bald ein neuer auf dem leeren Tischchen. Auf Pump gekauft. Das hatte sie noch nie in ihrem Leben getan.

Im Gegensatz zu anderen Mädchen hatte ich zu Hause nie Probleme wegen der Miniröcke. Ich bekam ein echtes Twiggy-Kleid, natürlich auf dem Twiggy-Kleiderbügel, in einem sehr kräftigen Rosa mit einer breiten, sehr bunten Krawatte, das ich geliebt habe. Schade, dass es kein Foto aus dieser Zeit von mir gibt. Ich durfte mich schminken, ich konnte kommen und gehen, wie es mir gefiel.

Aber es kam immer wieder zu Konflikten wegen der Musik. Ich hörte Radio Luxemburg, liebte die Beatles und die Stones, eben die gesamte englische Musik der 60er Jahre. Das Problem war, es gab nur 3 Zimmer, vom Hausflur gelangte man direkt in die Küche, von dort ging es rechts ins Schlafzimmer, links ins Wohnzimmer, wo das Radio und der Fernseher standen. In dem Moment, in dem ich die Wohnung betrat, lief auch das Radio.
„Kind, mach endlich diese grässliche Negermusik aus.“ und „Kind, mach das Radio aus, während Du Schularbeiten machst.“ Ich stellte „meine Ohren auf Durchzug“ und hörte Radio Luxemburg ständig, auch während ich Deutsch, Englisch, Mathe oder Geschichte paukte.

Tja Omi, wenn Du dies hier oben auf Deiner Wolke liest, ich höre und liebe diese Musik immer noch.

Eine Begebenheit lässt mich noch heute schmunzeln. Nie in ihrem Leben hat die Omi ein Telefon benutzt. Irgendwann sollte ich für sie ein Telefonat führen, zu der Zeit war ich ungefähr 14 Jahre alt. Wir gingen also zu einer Telefonzelle, ich bekam das Kleingeld in die Hand gedrückt. Ein recht kritischer Blick der Omi, ich konnte die Frage auf ihrem Gesicht lesen „Kann sie das?“ Dass ich so einen Hörer schon öfter an meinem Ohr hatte, um mit meinem Schwarm zu reden, ahnte sie nicht.
Ferngespräch von Witten nach Bochum.
Nach der Vorwahl hörte ich ihre Stimme: „Mach doch nicht so viele Zahlen, reicht das denn immer noch nicht?

Einen richtig bösen Streit gab es, als sie wieder einmal in meinem Schrank herumgeschnüffelt hatte. Das machte sie in regelmäßigen Abständen, das wusste ich. Diesmal aber hatte sie die Pille entdeckt, die ich zwischen ehemaligen Schulbüchern versteckt hatte. Ich war 17 und seit fast einem Jahr mit einem netten Jungen zusammen. „Sowas“ hätte man „zu ihrer Zeit“ nicht gemacht. Irgendwann, sehr viel später, habe ich mal nachgerechnet, meine Großmutter wurde bereits 7 Monate nach der Hochzeit geboren. Sicherlich ein Frühchen, da man „sowas“ ja zu der Zeit nicht gemacht hat... Zumindest nach Aussage der Omi...

Irgendwann musste der kleine Enkel einer Bekannten wegen einer Vorhautverengung ins Krankenhaus. Ich wusste es bereits, als Omi mir erzählte, dass der Junge operiert werden müsse. Ohne eine Miene zu verziehen, fragte ich nach dem Grund. „Na, da unten.“ „Wo da unten?“ „Da unten. Ach, Du weißt doch, was ich meine.“ Sie war verärgert. Ich drehte mich um und hatte ein breites Grinsen im Gesicht. Nein, solche Wörter wollte sie nicht benutzen. Und was kann „da unten“ bei einem männlichen Wesen auch sonst bedeuten...

Man wusste, dass Frau Peters bei Wahlen das Kreuzchen für die SPD machte. Wählen war ja eine wichtige Angelegenheit. Man „machte sich fein“ und begab sich dann in die Kneipe, in der auch ich später mein erstes Kreuz machen durfte. Man traf Nachbarn und Bekannte und tat geheimnisvoll. Zu der Zeit entschied sich der Großteil der Wittener Bevölkerung für die SPD. „Na, Omi, welche Partei wählst Du denn?“ „Das geht Dich nix an, das ist geheim.“ „Aber mir kannst Du es doch sagen.“ „Ach, hör doch auf, so etwas fragt man einfach nicht.“ „Sags mir doch.“ Sie war richtig sauer. Und ich hatte wieder einmal einen Riesenspaß.

Es wurde manchmal sehr schwierig, sie hatte Schmerzen, sie trank immer öfter und immer mehr. Nein, sie war nicht betrunken, wurde aber oft aggressiv und unterstellte mir Dinge, die ich nicht getan hatte. Damals habe ich es nicht wirklich verstanden. Oder ich wollte es mit meinen 18 Jahren nicht verstehen. Es war Pfingstsamstag 1971, als sie von mir gegangen ist.

Es lagen noch 14 Monate Ausbildung vor mir und meine beiden Erzeuger hatten absolut keine Lust, mich finanziell zu unterstützen, obwohl es beiden sehr, sehr gut ging. Aber mir blieben von meinem Lehrlingsgehalt nur 5,- DM für den Monat, wenn ich die Miete und die Wochenkarten für die Straßenbahn bezahlt hatte. Zudem war ich nicht volljährig. Die beiden Herren vom Jugendamt tranken lieber Kaffee und lasen die Bildzeitung, als sich mit meinem Fall zu beschäftigen. Angeblich konnten sie meine Erzeuger nicht zwingen, mir jeden Monat eine gewisse Summe zu überweisen. Doch, das wäre möglich gewesen. Aber sie waren einfach zu bequem, mehrmals zu schreiben oder eine andere Maßnahme zu ergreifen.
Es hat 7 Monate gedauert, bis ich endlich die Bestätigung erhielt, dass ich nun volljährig sei und dann auch zumindest meine Erzeugerin etwas Geld schickte.
Zum Glück hatte ich gute Freunde, die mir sehr geholfen haben, diese Zeit zu überstehen.
Der Einkaufsleiter der Firma, in der ich meine Lehre machte, hatte von meinen Problemen erfahren. Er bestellte mich zu sich, überreichte mir 50,- DM, damit sollte ich Kohlen kaufen, denn es wurde sehr kalt in der Wohnung. Von meinem ersten Gehalt zahlte ich es ihm zurück.

Ich bin mir sicher, dass die Omi so lange leben wollte, bis ich auf eigenen Füßen stehen konnte. So ganz hat ihr Plan nicht geklappt, aber ich habe den restlichen Weg bis dahin auch allein geschafft.

Manchmal stelle ich mir vor, sie käme mich heute besuchen und sie würde fragend die Mikrowelle, die Waschmaschine, das Gefrierfach, den Laptop, den Drucker, den Aktenvernichter, das Telefon und das Handy betrachten...

Wie oft muss ich die Wählscheibe eines Telefons drehen, um dort anzurufen, wo sie heute ist???


 


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Kommentare (11)

Muscari

Liebe Anita,

erst jetzt finde ich die Zeit, Deine interessante und so berührende Geschichte zu lesen.
Auch wenn Du Deine Uroma lieb hattest, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sie Probleme hatte, Dich erwachsen werden zu sehen und das auch zu Konflikten führte.
Es waren damals auch die Eltern, mit denen ein junges Mädchen in den Entwicklungsjahren nicht klar kam. Von manchen Reaktionen meiner Mutter könnte auch ich ein Lied singen.
Immerhin hast Du Dich aber mutig durchgeschlagen, bis zum Ziel.
Damit sage ich Dir ein herzliches Danke für Deine Geschichte und sende Dir einen lieben Gruß.
Andrea

 

IndianSummer1952

@Muscari  

Liebe Andrea,

danke für den lieben Kommentar.

Es war doch absehbar, dass es spätestens in meiner Pubertät zu Reibereien kommen würde. 60 Jahre Altersunterschied, das ist nun einmal enorm, da sind die Vorstellungen vom Leben sehr unterschiedlich. 

Die Omi war sehr krank, hatte oft Schmerzen, wahrscheinlich war ich manchmal eine Belastung für sie. Sie hat mir vielleicht auch deshalb NIE Grenzen gesetzt, ich kam und ging wie ich wollte und tat was ich wollte, weil ihr die Kraft für Auseinandersetzungen fehlte . Weder mein Erzeuger (führte ein Geschäft mit seiner Frau, das sehr gut lief) noch meine Erzeugerin (Sekretärin, der Mann Chemiker) haben der Omi Geld für ihre Ausgaben zukommen lassen!!! 

Alles Gründe, dass ich ihr sehr dankbar sein muss. 
Mit Sicherheit habe ich es als junges Mädchen nicht klar erkannt oder gezeigt...

Ganz herzliche Grüße
Anita



 

ladybird

@IndianSummer1952  
ich denke, Deine  Omi hat auch die Situation erkannt, und erwartete niemals eine Anerkennung Deinerseits, das war für sie selbstvertändlich, so schätze ich sie ein, nach Deiner Erinerung ,hier
Gruß ladybird

IndianSummer1952

@ladybird  

Guten Morgen Ladybird,

es stimmt sicherlich, was Du sagst. Erwartet hat sie meine Anerkennung nicht.

Ich wurde heute sehr früh wach und mir fielen einige Situationen ein. 
Sie konnte mir keine Stütze sein in schwierigen Situationen, wie ich sie in der Geschichte  "Der Lesewettbewerb - oder mein Deutschlehrer" beschrieben habe. Sie verstand vieles nicht, was mich bedrückte. Als ich mich für einen Beruf entscheiden musste, war ich ganz auf mich allein gestellt.  Es war unmöglich, darüber mit ihr zu diskutieren. 
Innerlich war ich oft wütend, weil ich mich oft so verdammt einsam gefühlt habe. Und das habe ich sie mit Sicherheit spüren lassen. Was sie aber wohl wieder nicht begreifen konnte... 

Viele Grüße
Anita

 

indeed

Liebe Indian Summer 1952,

was für eine berührende Lebensgeschichte! Toll, dass du so eine Urgroßmutter hattest und traurig, dass du dich später durch die Engpässe deines jungen Daseins manövrieren musstest.

Du hast es geschafft und ich zolle dir meinen großen Respekt. Diese Zeiten haben dich sicher geprägt und vlt. auch geholfen, im Laufe deines Lebens dich in schwierigen Situationen (die gibt es ja von Zeit zu Zeit immer wieder in der verschiedensten Art) zu bewähren und sie zu meistern.

Vielen Dank für dein Teilen hier. Auch dazu gehört Mut, aber du kannst stolz auf alles sein.

Herzliche Grüße 

indeed

IndianSummer1952

@indeed  

Vielen Dank,  liebe indeed, für Deine netten Worte.
Es freut mich, dass Dir diese Geschichte gefällt, denn sie liegt mir ganz besonders am Herzen. 

Viele Grüße
Anita
 

Rosi65

Liebe Anita,

Deine Omi war eine beachtliche Frau, die sehr verantwortungsvoll handelte und Dich, trotz der widrigen Umstände, mit einem großen Herzen aufgezogen hat. Nur gut, dass Du sie hattest!💖
Sicher warst Du, liebe Anita, ihr großes Lebensglück im Alter. Ich bewundere auch, wie Du schon in ganz jungen Jahren Dein Leben gemeistert hast, obwohl Du ja noch gar nicht volljährig warst.

Die Wahltags-Sonntagsszene in der Kneipe nebenan hast Du gut beschrieben. Damals war es in Arbeitern- und Bergmannskreisen tatsächlich ungeschriebenes Gesetz die SPD zu wählen. Auch in meiner Heimatstadt, obwohl natürlich alles, ganz klar, streng geheim war. Der Kneipenwirt machte dann schon am Vormittag einen guten Umsatz, da sich die Herren dort immer noch zum „Frühschoppen“, und zur Feier des Tages länger aufhielten. Spätestens zum Mittagessen fanden sie dann aber doch noch den Weg nach Hause.😅

Was für ein schöner und auch tröstlicher Gedanke, wenn man mit den Lieben im Himmel wenigstens noch telefonieren könnte...

Herzliche Grüße
    Rosi65

IndianSummer1952

@Rosi65  

Danke schön, liebe Rosi.

Ich habe ja schon einige Geschichten hier gepostet, aber diese liegt mir ganz besonders am Herzen, sie ist sehr persönlich, darin liegt sehr viel Gefühl und ich rede über meine Kindheit und Jugend, was ich nicht oft mache.
Geschrieben habe ich sie heute Nacht, ich hatte plötzlich das Bedürfnis, diese Erinnerung aufzuschreiben.

Es ist schön, dass sie Dir gefällt.

Liebe Grüße
Anita

ladybird

...Liebe Indian Summer,
.mit bestem Dank für diese Erinnerung, die mich sehr fesselte.....
weil es dazu eigene Erinnerungen an die sehr ähnlich erlebte Zeit gab.
"Negermusik" (darf man heute nicht mehr sagen,lach,lach") und natürlich RTL waren derzeit wohl allen Erwachsenen ein Dorn im Auge...)
nicht nur Dein persönlicher Rückblick, sondern auch der
"historische" (Plumpsklo) auf die damalige Zeit, waren sehr interessant
Dein alleiniges "Durchbeissen" später nach dem Ableben Deiner Omi, ist bewundernswert,
mit herzlichem Gruß
ladybird


 

IndianSummer1952

@ladybird  

Danke schön, liebe Ladybird.

Bei mir bleibt es bei der Negermusik, beim Negerkuss usw.!!! 
In einigen Foren wird man sofort für einige Tage gesperrt, wenn man diese Wörter benutzt!
Eine Mohrenapotheke irgendwo hat den Namen gewechselt!
Das ist einfach lächerlich.

Unsere Generation hat natürlich ähnliche Erinnerungen, die Musik, das Plumpsklo, die Kleidung. Und ich glaube, dass wir uns alle einig sind: diese Zeit war einfach toll!

Einen wunderschönen Tag wünsche ich Dir,
Anita

Elou

fast gleiches geburts- und sterbedatum .. 1892 bis 1969 .. aber es war meine richtige oma, nicht uroma, und ich bin 1955 geboren .. oma lebte bei uns im haushalt, meine eltern arbeiteten vollzeit und ich war mit ihr zusammen.


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