Krieg spielen in Breege
In der DDR musste jeder männliche Student wenigstens ein Mal an einer vormilitärischen Ausbildung teilnehmen, sofern er gesundheitlich dazu in der Lage war. Da ich mich damals bester Gesundheit erfreute, folgte unmittelbar auf den Traumurlaub mit meiner Freundin die Einberufung in ein Lager der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) auf Rügen. Es handelte sich zwar um keine Reise im üblichen Sinne, aber ich freute mich auch darauf, mal mit den Kommilitonen sechs Wochen an der Ostsee zu verbringen. Ich war bis dahin noch nie an der See gewesen.
Als wir im Zug saßen, war die Stimmung gut. Jeder gab seine Urlaubserlebnisse zum Besten und spekulierte darüber, wie denn die nächsten sechs Wochen wohl verlaufen würden. Alle zusammen waren wir fest davon überzeugt, dass die Zeit schnell und vor allem lustig vergehen würde. Unsere Ausbilder würden andere Studenten sein, die bereits bei der Armee gedient hatten. Unter diesen Umständen konnte es eigentlich nicht so schlimm werden.
In Sagard mussten wir den Zug verlassen. Dort sollten LKW auf uns warten, mit denen wir die Fahrt fortzusetzen hätten.
Als wir auf den Bahnhofsvorplatz kamen, waren dort auch tatsächlich etliche Armeelaster und bei jedem stand ein Uniformierter. Sobald diese uns erblickten, begannen sie sofort unartikuliert zu schreien. Wir verstanden, dass wir uns auf die bereitstehenden Fahrzeuge verteilen sollten, aber das wäre auch ohne dieses Gekreische klar gewesen. Das Aufsteigen wurde ebenfalls mit Gebrüll verbunden, denn wir erledigten es wohl nicht schnell genug.
Die folgende Fahrt ging mit affenartiger Geschwindigkeit über Stock und Stein, sodass wir „Passagiere“ auf der Ladefläche größte Mühe hatten, uns festzuhalten, um nicht herunterzufallen.
Als die LKW endlich anhielten, begann sofort wieder ein unglaubliches Geschrei. An meine Ohren drangen Satzfetzen, wie: „Absitzen!“, „Los, los, los, das muss schneller gehen“, „Schlafen Sie nicht ein!“ und ähnliches.
Nachdem wir von den Ladeflächen herunter waren, schrien wieder irgendwelche Uniformierten herum. Diesmal ging es darum, dass wir uns in einer Reihe anstellen – oder wie man hier sagte – „in Linie zu einem Glied antreten“ sollten. Als das endlich geschafft war, wurden Namen verlesen. Zu den Namen wurde geschrien, zu welcher Gruppe, welchem Zug und welcher Hundertschaft man gehörte. Es galt nun, so schnell wie möglich zu der jeweiligen Truppe zu gelangen. Damit es möglichst zügig ging, kreischten die Uniformierten wiederum aus Leibeskräften.
Als endlich jeder seine Gruppe gefunden hatte, meldeten die Gruppenführer den Zugführern und diese wiederum dem Hundertschaftskommandeur, dass wir vollzählig angetreten waren. Die HunKos, wie wir sie bald nannten, meldeten dem Lagerkommandanten, dass wir alle da waren und der bedankte sich, um dann eifrig und lautstark auszurufen: „Na, dann lassen Sie mal … äh … na, Sie wissen schon!“
Wir bekamen den Befehl „Wegtreten!“ und durften unserem Gruppenführer zu unserer Baracke folgen.
Nachdem wir einen Spind und ein Bett zugewiesen bekommen hatten, ging es zur Uniform- und Waffenausgabe. Wir bekamen jeder eine GST-Uniform, ein Kochgeschirr, eine Schutzmaske, einen Klappspaten und ein Gewehr, bei dem der Lauf zugelötet war.
Derartig ausgerüstet, gingen wir in die Unterkünfte, um uns umzuziehen. Ich war gerade dabei, in die Hose zu steigen, da trillerte es draußen schon. Wir hörten wieder das Gebrüll und wussten, dass wir eigentlich schon fertig sein sollten.
„Was sind denn das für Hohlkörper?“, fragte mein Kumpel Roland. „Ich denke, das sind Studenten wie wir. Warum machen die denn hier so ein Theater?“
Wir kamen nicht mehr dazu, die aufgeworfene Problematik zu diskutieren, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und unser Gruppenführer stand in der Stube. Natürlich hatte er wieder etwas in seiner unnachahmlichen Weise zu schreien.
„Was ist denn das hier für ein Sauhaufen? Wenn ich das Kommando gebe, dann stehen Sie sofort draußen mit Käppi und Koppel! Wer ist hier eigentlich der Stubenälteste?“
Wir sahen uns an und es war klar, dass ich der Älteste war, weshalb alle auf mich zeigten. Der Gruppenführer belehrte mich, dass ich immer, wenn jemand mit höherem Dienstgrad die Baracke betrat, aufspringen und Meldung machen müsse.
Als wir endlich zünftig angezogen waren, gab es eine Besprechung vor der Baracke. Wir wurden über alles Mögliche belehrt, was zu beachten war. So erfuhren wir auch, dass unsere derzeitigen Vorgesetzten nicht einfach nur Studenten waren, sondern es handelte sich ausnahmslos um langjährige Offiziere, die zum Studium abkommandiert waren. Die meisten studierten Jura und Kriminalistik. Wir ahnten, welche Karriere sie anstrebten.
Einer meiner Kommilitonen warf ein, dass bei der GST die Anrede „Kamerad“ üblich sei und nicht „Genosse“. Diese Kritik brachte ihm sofort Ärger ein. Er musste zehnmal den Appellplatz umrunden. Als ich bemerkte, dass die Frage doch berechtigt sei, durfte ich gleich hinterherrennen, musste aber nach jeder Runde noch zehn Liegestütze absolvieren.
In den darauf folgenden Wochen wurden wir zu knallharten Kämpfern für Frieden und Sozialismus ausgebildet. Wir lernten schießen, Handgranaten werfen, Sturmbahn mit Eskaladierwand überwinden und vieles Andere mehr.
Außerdem hatten wir noch jede Menge Politinformation. Andauernd kamen irgendwelche Typen, die uns erklärten, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis wir das kapitalistische Lager angreifen, um den aggressiven Kriegstreibern im Westen zuvorzukommen.
„Bevor die wissen, was los ist, stehen wir schon in Köln und München!“, hieß es da zum Beispiel vollmundig. Wir Berliner konnten jedoch Westfernsehen empfangen und wussten, wie voll im Westen die Autobahnen waren. Da schien es uns recht schwer, in so kurzer Zeit in den besagten Städten anzukommen. „Ein Ferienwochenende darf man jedenfalls nicht für den Einmarsch nutzen“, raunte mir mein Kumpel zu und holte sich dafür erneut eine Bestrafung ab.
Schön blöd fanden wir auch die Belehrung, wie man sich bei einem Atombombenabwurf zu verhalten habe. Am wichtigsten war, dass man sich auf den Boden warf und seine Waffe mit seinem Körper schützte. Wie jeder weiß, ist ja so ein Gewehr furchtbar anfällig für atomare Strahlung, was man vom menschlichen Körper absolut nicht sagen kann.
Wir gewöhnten uns irgendwann an das Herumgeschreie und absolvierten alle Wege nur noch im Laufschritt. Kurz gesagt, wir wurden geschleift. Viele Leute verwechseln ja gern geschleift und geschliffen. Ich glaube, in diesem Fall kann man beides sagen, denn immerhin nahm ich in den drei Wochen zehn Kilo ab. Mein Schleifstaub muss noch irgendwo auf dem Acker zwischen Breege und Juliusruh herumliegen.
Ach ja, die Ostsee sah ich auch einmal. Das war, als wir zur Verwunderung der Badegäste den Strand im Entengang passieren mussten.
Aus dem Buch "Reisehusten" von Wilfried Hildebrandt.
Kommentare (2)
@Rosi65 Liebe Rosi65,
Kriegsgegner war ich auch vorher schon und diese vormilitärische Ausbildung hat mich in meiner Überzeugung nur bestärkt.
In meinem Buch "Er war stets bemüht" habe ich über weitere Absurditäten meines damaligen Studentenlebens geschrieben. Diese Wochen in Breege spielen dabei auch eine große Rolle.
Viele Grüße
Wilfried
Lieber Wilfried,
sicherlich kein schönes Erlebnis, wenn einem von fremden Personen eine Konditionierung aufgezwungen wird. Aber vielleicht hat man damit genau das Gegenteil erreicht, und viele der Betroffenen haben sich danach kritische Gedanken über Kriegshandlungen gemacht, und sind sogar überzeugte Pazifisten geworden.
Herzliche Grüße
Rosi65