Kasimirs Suche nach Freundschaft


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Die Ratte Kasimir war schon in jungen Jahren von ihrem Familienclan getrennt worden. Eines Tages waren all ihre Verwandten aufgebrochen, um sich in einer anderen Stadt neu anzusiedeln, nur sie war, weil sie die Stunde des Abmarsches verschlafen hatte, allein zurückgeblieben.

Kasimir lebte nun einsam an der Hanfstraße, Ecke Lauchstraße, in der Kanalisation. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt begegneten ihm manchmal andere seiner Art, doch keiner wollte sich mit ihm anfreunden. Die fremden Ratten sahen höchstens einen Futterkonkurrenten in ihm, zeigten ihm meistens die kalte Schulter und hin und wieder attackierten sie ihn sogar. Aus diesem Grund blieb er allein und meidete später auch die Gegenden, wo die Raufbolde ihr Revier besaßen.
Wenn Kasimir des Nachts wieder in seinem Kanalisationsabschnitt weilte, blickte er oft trübsinnig in die Dunkelheit und kam sich sehr einsam vor. Er malte sich dann immer aus, wie es wohl sein würde einen Freund oder gar eine Freundin zu haben, jemanden mit dem man etwas unternehmen könnte, der einem die trüben Tage versüßen würde. Bei diesen Gedanken schlief er meistens ein und träumte sich in eine andere Welt. Diese Traumwelt war jedoch nur von kurzer Dauer, denn jeder Tagesanbruch brachte ihm seine Traurigkeit wieder zurück und somit verlor sein Zukunftsblick fast alle bunten Farben.

Eines Tages stand Kasimir am Kanal und begutachtete sich im Wasser. Das Spiegelbild zeigte zwei niedliche Knopfaugen in einem sympathischen Gesicht, ein schwarz-braungeflecktes Fell und einen zwar nackten, aber immerhin langen Schwanz.
An seiner Erscheinung gab es doch eigentlich nichts auszusetzen, deswegen konnte er sich die Ablehnung der anderen Ratten auch nicht erklären. Er gefiel sich jedenfalls so, wie er ausschaute und alsbald kam ihm eine Idee. Wenn er schon nicht bei seinesgleichen Anerkennung fand, dann sollte er es vielleicht einmal bei den Menschen versuchen.
Das Nagetier beschloss sich einen Freund unter den Menschen zu suchen.

Gedacht, getan, Kasimir machte sich auf den Weg. In der Hanfstraße krabbelte er aus seinem Lieblingsgully auf den Gehweg und suchte nach einem geeigneten Objekt seiner Begierde. Auf einem Grundstück entdeckte er ein Pärchen. Ein Mann und eine Frau saßen gemütlich auf ihrer Terrasse und tranken Kaffee. Die beiden unterhielten sich angeregt und die Frau lachte glockenhell.
„Die erscheinen mir sehr freundlich“, dachte Kasimir, „da werde ich mich einmal vorstellen.“
Voller Enthusiasmus trabte er los, lief schnurstracks auf die beiden zu und setzte sich direkt mitten auf die Terrasse.
Er bereitete sich gerade darauf vor, sie zu begrüßen, also er wollte ihnen seinen schönsten Pfiff schenken, als die Frau ihn erblickte. Sein Hallo verschrumpelte zu einem heiseren Pf..., denn dieses weibliche Wesen schrie gellend auf: „Iiihhh, eine Ratte!" Rekordverdächtig hüpfte sie auf ihren Stuhl und deutete mit gestrecktem Finger auf Kasimir. Der Mann war ebenso erschrocken wie seine Frau und warf mit der Zuckerdose nach ihm.
Kasimir, dem der Begrüßungspfiff im Halse stecken geblieben war, wich dem Geschoss geschickt aus.
„Was soll das? Warum macht ihr so was“, pfiff er ihnen zu. Doch sie verstanden ihn anscheinend nicht, denn der Mann warf mit weiteren Gegenständen nach ihm.
„Scheuch sie weg, nun mach schon“, kreischte die Frau.
Kasimir hatte sich wohl getäuscht, diese Menschen waren nicht freundlich und mochten ihn anscheinend nicht, dabei hatte er sich noch nicht einmal vorstellen können. Er drehte sich um und rannte, so schnell ihn seine kleinen Pfoten trugen, wieder zurück auf den Gehweg.
„Na, dann probiere ich es halt woanders“, sprach er sich neuen Mut zu.
Er lief weiter die Straße hinauf und beobachtete dabei unablässig die Vorgärten. Fast am Ende der Hanfstraße entdeckte er einen älteren Herrn, der in einem Schaukelstuhl auf seiner Veranda saß.
Kasimir blieb stehen und beäugte den Mann durch den Jägerzaun. „Der sieht echt sehr nett aus. Soll ich es wagen?“
Er fasste sich ein Herz und lief, diesmal nicht ganz so stürmisch, auf den Herrn zu. Einen Meter vor dessen Füße, setzte er sich auf die Hinterbeine und hob seine Pfoten zur Begrüßung in die Höhe.
Der alte Mann erblickte ihn, stutzte, lehnte sich in seinem Stuhl weit vor und sagte zu ihm: „Ja, wo kommst du denn her?“
Kasimir war erfreut über diesen Empfang und wähnte sich in guten Händen. Er pfiff ihm ein fröhliches Hallo zu. Als er gerade etwas näher rücken wollte, griff der Mann hinter sich und schnappte sich einen Besen, der an der Hauswand lehnte. Fast im selben Moment schnellte er aus seinem Schaukelstuhl hoch und wutsch, haute er nach Kasimir, der daraufhin ganz erschrocken zur Seite sprang.
„Hey, alter Mann, was soll das? Kannst du mich auch nicht leiden?“
Er bekam keine Antwort, nur den Besen bekam er zu spüren. Diese urplötzliche Wendung im Verhalten des Mannes entsetzte ihn und er sprintete zurück auf den Gehweg. Atem schöpfend kauerte er hinter einer Straßenlaterne. Sollte diese Idee, sich mit den Menschen anzufreunden, keine so gute gewesen sein?
Kasimir hing seinen Gedanken nach und wanderte weiter. Vielleicht müsste er es anders anstellen, nicht so stürmisch sein und sich etwas zurückhaltender zeigen. Er ließ sich jedenfalls keineswegs entmutigen.
Plötzlich wurde sein Denken unterbrochen, er entdeckte ein ziemlich heruntergekommenes Haus mit einem total verwilderten Garten drumherum.
„Ob hier wohl jemand wohnt?“
Vorsichtig schlüpfte Kasimir durch den Zaun und lief durch das hohe Gras, bis hin zur Haustür. Er konnte niemanden entdecken und tapste über die breite Veranda. Nichts tat sich, keine Menschenseele war vorhanden, allen Anschein nach war dieses Anwesen verlassen.
Plötzlich, fast schon auf dem Rückweg, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Kasimir entdeckte ein kleines Loch in der Hauswand.
„Soll ich einen Blick ins Innere riskieren? Was erwartet mich dort drinnen, ist es vielleicht gefährlich?“
Die Neugierde siegte über allen Zweifel, mutig untersuchte er das Loch, kroch hindurch und fand sich in einem Flur wieder. Nein, niemand wohnte hier, schon lange nicht mehr, das war ein Traum für jede Ratte.

Kasimir inspizierte die unteren Räume und danach begab er sich ins Obergeschoss. Überall war es staubig und in den Zimmern herrschte ein ziemliches Durcheinander.
Kurz darauf erreichte er einen Raum, welcher früher wohl einmal ein Schlafzimmer gewesen sein mußte, denn es befand sich ein altes Bett in ihm. Kasimir blieb wie angewurzelt stehen. Aber es war nicht das Bett, das fesselte nicht seinen Blick, es war eher der Teppich, der sich davor befand, oder sagen wir mal lieber, ihn berührte das, was sich ihm darbot.
Auf dem Teppich, inmitten des Raumes, saß eine Ratte. Oh nein, es war nicht irgendeine Ratte, sondern es war eine „Rättin“. Sie putzte ihr schwarzes Fell und bemerkte den Besucher zuerst gar nicht.
Kasimir war von den Socken, eine „Rättin“ und ein besonders schönes Exemplar. Er beobachtete ihr Handeln und starrte wie gebannt auf ihren, für ihn, makellosen Körper. So etwas Wundervolles hatte er in seinem ganzen Ratten-Dasein noch nicht gesehen.
Plötzlich fiel seine Anwesenheit auf. Die „Rättin“ stellte sich auf die Hinterbeine, so dass Kasimir ihre volle Größe zu sehen bekam.
„Hallo“, pfiff sie ihm zu, „was machst du in meinem Haus?“
„Hallo“, pfiff er zurück, „ich wollte mich nur ein wenig umsehen.“
„So, so, fremde Damen bei der Morgentoilette beobachten.“
„Ähhh nein“, stammelte er, „das war nur, weil ich so überrascht war, jemanden meiner Art hier zu treffen.“
„Ist ja schon gut, entspann dich“, antwortete sie. „Wie heißt du denn?“
„Oh Entschuldigung, darf ich mich vorstellen, mein Name ist Kasimir.“
„Kasimir, das nenne ich mal einen ausgefallenen Namen. Ich heiße Kassandra.“
„Wunderschön“, hauchte er, „so schön wie du.“
Könnten Ratten erröten, läge auf ihren Wangen jetzt bestimmt ein zartes Glühen.
„Danke für das Kompliment, so etwas habe ich lange nicht zu hören bekommen. Soll ich dir mein Haus zeigen, oder hast du dich schon umgesehen?“
„Unten habe ich schon alles gesehen, hier oben nur dieses Zimmer.“
„Dann komm, ich zeige dir noch die restlichen Räume.“

Nachdem die Führung durchs Haus zum Ende kam, Kasimir sich ausreichend umgesehen hatte, lud Kassandra ihn zum Essen ein.
“Es gibt heute Hähnchen aus der Mülltonne, das stammt vom Speiselokal an der Ecke. Magst du mir Gesellschaft leisten?“
„Ja sicher, da sage ich doch nicht nein.“
Ob Mülltonne oder nicht, es wurde ein Festmahl für die beiden.
Kasimir strich sich zufrieden über seinen Bauch.
“So gut habe ich seit langem nicht mehr gegessen. Meistens muss ich mich mit Brotkrumen und fauligem Gemüse über Wasser halten.“
„Wie kommt denn das? Hast du keine Verwandten, lebst du allein?“
„Ja, ich bin sozusagen in allen Belangen ein Single, meine Verwandten habe ich schon in frühester Kindheit verloren. Das heißt, sie haben mich einfach schlafen lassen und sind in eine andere Stadt abgewandert.“
„Das ist ja ein Ding, das ist beinahe wie bei mir. Mich hat man einfach vergessen, im Nest zurückgelassen, ohne Abschied sind sie einfach abgehauen.“
„Da haben wir offensichtlich eine ähnliche Vergangenheit“, sagte Kasimir.
„Wo lebst du denn“, fragte Kassandra?
“Och, das ist nicht so berauschend“, druckste er herum.
“Na, sag schon, so schlimm kann es nicht sein.“
„Ach, ich wohne in der Kanalisation, Hanfstraße, Ecke Lauchstraße, nicht weit von hier.“
Ihre Verwunderung war groß.
„Das ist doch wirklich ganz in der Nähe und da sind wir uns noch niemals begegnet?“
„Eigentlich lebe ich sehr zurückgezogen, denn ich habe schlechte Erfahrungen mit anderen Ratten gemacht. Auf der Suche nach Freundschaft begegnete mir nur Futterneid und jede Menge Prügel mußte ich einstecken. Heute nun, weil ich diese ständige Einsamkeit unerträglich fand, wollte ich etwas Neues ausprobieren und habe mich auf den Weg zu den Menschen gemacht. Doch Freundschaft bei den Zweibeinern zu suchen, das war ebenso ein Fiasko, wie all meine anderen Versuche auch und dann bin ich hier gelandet, bei dir.“

Kasimir blickte Kassandra tief in ihre schwarzen Knopfaugen und was er sah, erfreute sein Herz. Funken schienen diese Augen zu sprühen, kleine Pünktchen tanzten hin und her. Da war es um sie beide geschehen, urplötzlich lagen sie sich in den Pfoten und küßten sich.
~Ich meine, wenn Ratten sich küssen würden, dann hätten sie das bestimmt an dieser Stelle getan.~
Als beide wieder zu Atem kamen, fragte Kasimir mit belegter Stimme: „Kassandra, ich weiß, es ist vielleicht ein wenig verfrüht, aber unser beider Leben ist zu kurz für lange Wartezeiten. Willst du mein Weibchen werden?“
Kassandra war total glücklich und willigte auf der Stelle ein.
Hochzeit wurde sofort gefeiert und das Ergebnis konnte man nach kurzer Tragezeit erblicken. Kasimir und Kassandra hatten ein sehr fruchtbares Eheleben, die Familie wuchs stetig.

...und wenn sie nicht gestorben sind, dann vermehren sie sich noch heute.

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aus dem Buch Phantasiewege ( Uschi Pohl )
19.05.2004 überarbeitet 29.04.2016

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Kommentare (7)

uschipohl @ Ruth,
ja die Viecher sind manchmal ganz schön dreist, habe gelesen, dass Mäuse sogar die Wände hochkrabbeln können... .

********

@ Ingrid,
deine Worte sind wie Balsam auf meine Schreiberseele, ich mache einen artigen Knicks und bedanke mich für das riesige Lob.
Geschichten für Kinder zu schreiben ist nicht so einfach, das ist eine große Aufgabe, denn man muß Umsicht walten lassen und Verantwortungsgefühl besitzen. Nicht alles gehört in Kinderhände und ist für Kinderaugen bestimmt. Nun gut, mein Kasimir ist relativ harmlos, er könnte bestimmt in solch ein Buch passen und für diese Einschätzung sage ich noch einmal: dankeschön.

Herzliche Abendgrüße
uschi
indeed erst heute habe ich deine Geschichte gelesen und zwar sehr gerne. Ratten sind nicht gerade meine Lieblinge
Alleine schon der Geruch treibt mich in die Flucht.
Dennoch reizte es mich gerade deshalb weiter zu lesen, was aus der kleinen Kreatur wohl werden würde. - Ein kleines Tiermärchen mit einem Happy-End.
Es liest sich gut und baut vielleicht auch ein paar Abneigungen ab?
Kinder sind da viel einfacher als ich es bin. Die Neugier gegenüber allem Neuen überwiegt meistens.
Diese Geschichte könnte gut in ein Kinderbuch passen.
In der Realität ist es mir lieber, diese Tierchen in der Natur ihre Daseinsberechtigung leben zu lassen.
Kompliment an die Autorin.
Herzlichst Ingrid
Komet leider bleiben Ratten und Mäuse nicht da, wo man sie gern haben möchte.....lach....

Noch einen schönen Abend wünscht Dir Ruth.
uschipohl ich neige mein Haupt
dein Lob ist mir eine große Freude

dankeschön
herzliche Grüße
uschi

Ratten sind zwar sehr soziale Tiere, aber ich mag sie auch nur in der freien Natur
Komet obwohl ich keine Ratten mag, habe ich deine Geschichte mit Spannung gelesen.
Sehr gut geschrieben und ich habe sie bis zum Ende gelesen. Bei so einer Liebe gibt es bestimmt eine Menge Kasandras und Kasimirs.

Viele Grüße sendet dir Ruth
uschipohl ich denke, mein Kasimir, der macht nicht nur den Kleinen Freude, oder... .
Jedes Mal, wenn ich die Geschichte lese, muß ich lachen, auch heute noch, nach all den Jahren .

Der Auslöser zu der Story war übrigens eine echte Ratte. Eines Morgens, auf dem Weg zur Arbeit, es war noch fast dunkel, da sah ich eine braune Ratte aus einem Gully krabbeln und anschließend flitzte sie am Bordstein entlang.
Diese Begegnung ließ meine Gedanken nicht los und noch am gleichen Abend brachte ich dann diese Geschichte zu Papier

ich freue mich sehr, dass du zum Lesen hier warst, dankeschön
herzliche Grüße
uschi
omasigi Liebe Uschi,

alle meine Enkel sind aus dem Geschichten erzaehl Alter draussen.

Aber ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen.

gruessle
Sigrid

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