Jugendtagebuch von Heidi Grünwedl
Mein Jugend-Tagebuch vom 11.Mai 1988 bis zum 28.4.1989
1.Kapitel
Ich würde am liebsten nicht anfangen mein Tagebuch zu schreiben, aber es muss sein, weil ich es an dem Gedenken meines verstorbenen Bruders schreiben will. Vorher hat es leider schon etliche Leute gegeben, die das getan haben und es wird immer welche geben, die das tun werden. Außerdem kann ich das, was ich fühle, nicht so gut mit Worten ausdrücken. Es kommt mir dann alles so abgeschmackt und banal vor. Auch denke ich, dass ich immer ein Banause bleiben werde. Manchmal denke ich, ich habe den eigentlichen Sinn für mein Gefühltes gefunden. (wie sich das anhört!) Boing! Bin ich wieder unten! Wenn der Mensch nur Gefühl wäre ohne Gott, dann würde er nie lieben können., er würde ein „Faust“ sein und würde immer wieder von Neuem anfangen suchen zu müssen. Ein Weiser, der Gefühl mit Gott = Religion hat, wird immer tiefer gelangen, aber er müsste nicht mit dem Verstand hinterdrein, da sein Gefühl sicher ist.
Ein Mensch hat 2 geistige Beine, das eine Bein ist das Gefühl, das in die Tiefe geht, das andere Bein, der Verstand, ist das Gefühl, das immer hinterherhinkt und bremst. Aber es gibt auch noch die Liebe. Sie verhindert den Verstand, der Mensch wird schneller, er wird wissensgierig, was er sonst nicht so ist. Die Liebe erzeugt den Geist, der alles bejaht und keine Angst empfindet. Alles ist weit, hoch und hell. Der Mensch wird so gottähnlich. Aber, wenn er dann seinen Verstand gebraucht, und darüber Erkenntnis gewinnt, was er ist, wird er gebremst und er zweifelt an sich selbst. Er scheitert vor allen Menschen in seiner Umgebung und zieht sich kampflos zurück. Er verzweifelt.
Doch davon weiß ich nicht, ob das stimmt. Wahrscheinlich ist es sehr banal und dumm ausgedrückt. Aufhören!!!!!!!!!!!!
Heidi Grünwedl
Kommentare (30)
Tagebuch 26.Kapitel
Aufgrund des Hörspiels „Die gelbe Tapete“ von Petra Kienes und dem gleichnamigen Roman von Charlotte Perkins-Gilman
27.6.1988
Liebe Jane!
Gestern habe ich deine Krankheitsgeschichte gehört. Sie hat mich sehr aufgewühlt. Wie kann ein Psychiater die Krankheit seiner eigenen Frau so leugnen? Mir gefällt dieser Mann nicht. Löse dich von ihm. Er benutzt dich nur als Mittel zum Zweck. Obwohl er dir immer wieder beteuert, er liebe dich, möchte er, dass du vernünftig und sachlich an dich rangehst Er versteht deine Gefühle nicht, weil er so verstandesbetont ist und nur alles mit dem Verstand macht, sogar seine Liebe zu dir. Mir hat es gefallen, dass du ihn zum Schluss, als er ohnmächtig auf dem Boden lag, gehasst hast. Leider ist dir das Unwürdige deiner Situation, nämlich das Herumkriechen, nicht bewusst geworden. Du hast nur das Triumpfgefühl deines Sieges über seinen Intellekt genossen. Deine Phantasie, dein Unterbewusstsein hatte gewonnen. Wie gern wäre ich in diesem Moment bei dir gewesen, um hinter dir herzukriechen. Gemeinsam hätten wir die Strecke geschafft, hätten vielleicht auch sogar das Bett wegrücken können. Ich hätte mit dir zusammen den Sieg ausgekostet. Vielleicht hätte ich dich dann auch in die Arme nehmen können, damit du einmal in diesem schrecklichen Haus Geborgenheit empfunden hättest. Wir beide hätten die Welt um uns vergessen und wären nur für uns beide dagewesen. Niemand, keine Pflichten, keine Uhrzeit hätte uns stören können. Wir wären einfach da gewesen. Ich für dich und auch du für mich. Vielleicht hättest du mich erst gar nicht wahrgenommen, Aber nach und nach hättest du gemerkt, dass dir da jemand vertraut, dass dich jemand ernst nimmt. Du hättest dich auf mich verlassen und hättest nicht gefragt, wo ich herkomme. Du hättest mich für ganz selbstverständlich hingenommen. Irgendwann hättest du dich zu mir umgedreht und hättest mich angelächelt. Dann wärst du zu mir gekommen und hättest mir deine Tagebücher gegeben. Zusammen mit dir hätte ich deine Gedanken durch gelesen und hätte versucht, sie zu erfühlen. Langsam wären wir einander vertraut geworden. Wir hätten nichts mehr essen und trinken brauchen. Wir wären uns selbst genug gewesen. Bis wir dann eingeschlafen wären und alles um uns herum vergessen hätten.
Beim Aufwachen wäre dieser Traum verschwunden gewesen. Es gäbe weder dich noch mich, nur in der Mitte des Zimmers wüchse eine wunderschöne, weiße Rose als Erinnerung an unser Dasein.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 25.Kapitel 23.6.1988
Lieber Bruder!
gerade höre ich die Schöpfung. Es ist vielleicht nicht gerade Sünde - aber trotzdem: in so eine Musik müsste man sich versenken, was mir unmöglich ist. Ich bin viel zu unlebendig und unwahrhaftig. Gerade hat mich Dorothee gestört. Ich höre jetzt lieber auf.
Die Hoffnung, dass Fr.Astfalk im nächsten Jahr vielleicht unsere Klasse nehmen wird, bleibt. Obwohl ich nicht weiß, ob ich mich darüber freuen oder darüber ärgerlich sein soll. Irgendwie wird es gehen, obwohl ich dies nicht einfach so sein lassen will, wie‘ s kommt, sondern, dass ich die Grenzen erkenne, die mir auferlegt sind. Wenn nun mal davor eine Grenze sein muss, will ich sie erkennen und sie soll sie auch sehen. Wie kindisch ich bin und wie unrealistisch.
(Heidi Grünwedl)
23.Kapitel vom Tagebuch 20./21.6.1988
Gott will die Menschen nicht erziehen. Er möchte sie nicht so machen, wie sich, weil er nicht über sich nachdenkt. Er ist. Deswegen sind die Menschen durch ihn, weil sie ohne seine Liebe nicht leben können. Menschen, die selbstbewusst sind und sich lieben, wollen andere so nach sich bilden/formen oder erziehen, weil sie von sich eingenommen sind. Gott ist nicht von sich eingenommen. Er lässt die Menschen sein, wie sie sind. Alles, was nicht „ich“ ist, ist ein Fremdkörper. Aber vom „ich“ zum „Du“ ist ein kleinerer Weg, als vom „ich“ zum „wir“. Gott ist eben ein Fremdkörper, den ich nur überwinden kann, indem ich ihn mit du anrede. Gott hat uns erschaffen, nicht erzogen. Das können wir nur selber tun.
24.Kapitel vom Tagebuch 22.6.1988
Wenn ich sterbe, muss ein Gewitter und ein Sturm draußen sein! Alles muss dunkel werden, wie bei Jesus Christus` seiner Kreuzigung, als er verstarb und der Vorhang im Tempel zerriss.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 22.Kapitel 17.6.1988
Es gelingt mir nicht, meine Sehnsucht zu unterdrücken. Wenn ich mich an Weihnachten erinnere, fühle ich noch einmal dein Nahe sein. Wir sind verwandt. Seelenverwandt. Aber manchmal wünsche ich mir, mit dir zu reden. Dann bin ich in einer melancholischen Stimmung. Es war so schön, als wir von unseren Gefühlen noch nichts wussten. Jetzt haben wir uns verraten und müssen uns vergessen. Aber ich werde es nicht können. Erst, wenn ich tot bin. Jetzt darf ich noch träumen von einem Zusammensein mit dir. Vielleicht würden wir uns unterhalten und uns verstehen. Vielleicht würden wir uns enthalten und verstehen. Ich wünsche mir, dass ich dich immer verstehen werde, dass du nie alt für mich sein wirst, dass ich dir immer neu begegnen kann. Unsere Liebe darf nie regelmäßig und alltäglich werden, aber sie darf periodisch werden. Ewig, gleichstark!
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch, 21.Kapitel
Lieber Bruder! 15.6.1988
Die Musik ist die Seele der Muse. Wenn einer eine Seele hat, lebt er in Musik.
Wenn ich gehasst werde, ist das nicht gerade schön, besonders nicht von der Anna. Was ist denn schon dabei, wenn man Männern in der Pubertät schöne Augen macht. Ich sage jetzt ganz oberflächlich, was ich bemerkt habe. Gut: viele Männer und Jungen verknallen sich in mich, viele Mädchen sind neidisch auf mich und viele Frauen hassen mich, weil ich in einer Traumwelt lebe. So, meine Lage wird immer gefährlicher. Aber den einzigen Menschen, den ich hasse, bin ich selber, weil ich in dieser Lage drinstecke und mich nicht befreien kann. Ich weiß nicht, ob ich richtig lebe. Ich denke, dass ich kein Bewusstsein habe, sondern nur unbewusst bin. Aber das kann ich mir nicht nachweisen. Gelinde gesagt, ist die schwerste Nichtsympathie mir gegenüber, meine eigene. Mich selber annehmen, wie ich bin, ist schwierig, denn ich kann nicht aus mir heraus und mich von außen, also objektiv beurteilen. Ich bin gleichzeitig Subjekt und Objekt des Hasses, der Nichtsympathie. Aber da muss es etwas drittes geben, die sogenannte Mitte. Erst, wenn ich die gefunden habe, bin ich ausgeglichen oder neutral. Aber ich glaube, das ist langweilig.
Was ist der Mensch? Eine Zusammensetzung von 3 Kriterien: Subjekt, Objekt, Mitte oder Neutralität (Ausgeglichenheit der beiden ersten Kriterien) Und die findet man in der Musik. In der Muse.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 20.Kapitel 13.6.1988
Lieber Bruder!
Heute morgen bin ich Fr.Astfalk begegnet. Sie erschien mir so schön. Irgendetwas staunt immer, wenn ich sie sehe. Ich weiß, dass sie mich gesehen hat, aber ich glaube nicht, dass sie mich noch so „liebt“, wie früher. Wenn ich sie sehe, fühle ich mich immer, wie im Traum. Mir fehlen dann die Worte. Wahrscheinlich ist es die Befangenheit.
Ich möchte eigentlich nie wissen, was in mir vorgeht. Entweder fühle ich mich danach reicher oder ärmer. Je nachdem, ob ich die Sonne oder die Ernüchterung erlebt habe. Es ist schon ein Wunder, dass der Mensch andere Menschen sehen und hören kann. Aber die Distanzbarriere zu ihr werde ich nie überbrücken könne. Sie bleibt für mich eine Idealvorstellung. In ihr den Mensch zu erkennen, wäre für mich Sünde, denn ich bewundere sie nur, weil sie mir so vorkommt, wie eine Traumgestalt. Aber sie ist ein Mensch. Und ich bin zu unreif, um sie als Mensch zu lieben. Ich weiß nicht, was mich an ihr so fesselt. Ich habe noch von keinem Menschen so oft geträumt, wie von ihr, aber keine Tagträume, sondern wirklich im Schlaf. Irgendetwas in meinem Unterbewussten, muss sich doch mit ihrem Wesen beschäftigen. Wenn ich auf oder wach bin, habe ich Angst vor ihr. Es ist eine gewisse Scheu. Vielleicht, weil sie zu selbstbewusst ist. Für mich hat sie dieses Selbstbewusstsein, dass sie verantwortungsvoll macht für ihre Umwelt. Sie verkörpert ein sogenanntes Vorbild. Na ja, da merkt man schon, dass ich mir ein Bild von ihr mache. Aber ich bewundere nur ihren Mann und ihre Kinder, die sie so nehmen, wie sie ist. Ich könnte das nicht. Sie hat viel zu viel Geheimnisvolles für mich. Ich werde nie vergessen, wie sie einmal mit Gott sprechen wollte, aber dann die Scheu hatte, vor uns das Wort „Gott“ auszusprechen. Das hat mir gefallen. Ihre edle Gesinnung uns gegenüber. Sie möchte nicht den Schülern etwas Totes eintrichtern. Sie möchte, dass sie selbst lernen, ihr Schicksal zu leben, vielleicht sogar sich selbst zu finden. Ob sie sich selbst kennt? Ich weiß es nicht. Ich kenne sie nicht, nur Gott kennt sie. Was würde ich machen, wenn sie hereinkäme? Ich weiß es nicht. So etwas kann ich mir nicht vorstellen.
Jetzt weiß ich, was ihr Merkmal ist: Sie hat dieses Individualistische. Viele Menschen bauen sich ein Selbstbewusstsein. Sie hat sich keins gebaut, es ihr geschenkt worden. Sie darf sich nur nicht über mich Schwächling aufregen, da ich nur immer mit Claudia Dobler gehe, damit ich mich vor mir selbst verstecken kann.
Andere fliehen! Ich glaube, es ist das Schwerste, nicht vor sich selber davon zu laufen. Deshalb bauen wir uns von uns ein Bild, das wir Selbstbewusstsein nennen. Wenn wir schlafen, zerfällt es und wir sehen uns im Spiegel des Unterbewussten mit seiner Wasseroberfläche. Jesus ist auch nicht vor sich selbst geflohen. Er hat sich sich gestellt und der Wahrheit über sich ins Auge gesehen. Aber er konnte dies meistern. Auch Beethoven hat seinem Schicksal ins Auge gesehen. Er war auch eher göttlich, als menschlich, wie Jesus.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 19.Kapitel 11.6.1988
Lieber Bruder!
Jetzt ist es Abend, ein warmer, schwüler Abend Ich höre schon den Donner grollen in der Ferne. Bald wird sich noch ein Gewitter über uns entladen. Hoffentlich! Ich hoffe, dass mich jetzt keiner mehr stört, denn sie denken, dass ich schlafe. Aber ich schlafe noch nicht, ich rede ja noch mit dir und schreibe dir.
Der Tag heute war sinnlos. Ich fand ihn einfach pervers. Die Schule macht mir keinen Spaß mehr. Dort ist alles so verlogen und intrigantisch. Du weißt ja, dass ich in den Sebastian A. verliebt war und er in mich. Aber jetzt hasse ich ihn. Ich komme mir so falsch und egoistisch vor, wenn ich noch weiter in ihn verliebt sein würde. Die anderen: Lehrer und Klassenkameraden haben sich sehr daran gestört, was ja auch nicht verwunderlich ist. Aber ich weiß auch nicht mehr, was ich von ihm halten soll. Ich denke immer, es ist dumm, weil er unbedingt in mich verliebt sein will. Aber ich habe große Angst davor. Die Konventionen einer Schule halten mich zurück. Er soll sich doch beherrschen lernen. Aber das Einzige, was er lernt, ist der Hass auf mich. Ich habe mir immer ein Bild von ihm gemacht: Physiker, Musiker, feinfühlig und intelligent. Das war falsch! Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich mich ihn verlieben konnte, nur, weil ich das Bild von ihm geliebt habe.
Natürlich denkt er jetzt, dass ich mich, wegen meiner Ernüchterung, in einen anderen verliebt habe. Aber dem ist nicht so: Peter W., von dem er es glaubt, finde ich viel zu arrogant. Ich heiße zwar Heidi, aber ich brauche deswegen noch lange keinen Geißenpeter. Und weil ich ihm das nicht sagen kann, weil ich mich sonst an ihn verraten würde, was er nur egoistisch ausnutzen würde, deswegen hasse ich die Schule und mich am meisten. Ich bin noch nicht reif genug für vertrauende, sexuelle Liebe. Kitschig, nicht wahr? Aber ich musste mir das einmal klar werden. Hoffentlich liest niemand im Moment diesen Backfischkram. Später vielleicht schon eher.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 18.Kapitel 10.6.1988
Lieber Bruder! Heute möchte ich nur ganz kurz mit dir reden. Es gibt da ein Problem! Ich sag‘ s dir frei heraus. Wenn ich mit Claudia Dobler gehe und mich mit ihr unterhalte und beschäftige, werde ich von den intelligenten, vernünftigen Lehrern und Schülern verachtet. Gut, sollen sie, aber trotzdem werde ich deswegen so wütend. Heute hätte ich den Hrn.Astfalk verschlagen können. Auch einmal seine Frau. Entweder sie gucken einen schief und verächtlich an, wenn ich mit Claudia Dobler vorbeigehe oder sie gucken einen gar nicht mehr an. Lebendiges Beispiel: Fr.Astfalk. Aber ich kann nicht anders mehr. Ich bin nicht Claudias Freundin, das nicht. Aber, was bin ich denn dann zum Donnerwetter nochmal? Ich hasse mich, weil ich immer dumm abgestempelt werde, wenn ich nicht mit denen gehe, die sich für so intelligent halten und die meinen, nur sie allein würden mich lieben, damit sie mir ihr Idealbild von sich aufbrumsen können. Da sind sie aber schief gewickelt. Lieber bin ich dumm, als, dass ich ihr Idealbild von einem Menschen übernehme, mit dem man alles machen kann, so dass man ihn lieben kann, wie man ihn haben will. Bei den Lehrern fühle ich mich immer nur pädagogisch ausgenutzt. Als ob sie sich selber als „Musterpädagoge“ beweisen wollen. Dafür bin ich ihnen als Mittel zum Zweck gerade gut genug. Oh, ich hasse diese Heuchler. Erzieht euch erst einmal selbst, bevor ihr andere Leute erziehen wollt. Wenn die einen Lehrer Minderwertigkeitskomplexe haben, dann sollen sie lieber sich selber erziehen, aber nicht die verachten, die einen Schülerminderwertigkeitskomplex haben. Damit ist beiden nicht geholfen, weil jeder nur sein Idealbild von dem Lehrer bzw. dem Schüler gelten lässt. Ich hasse die Schule, an der nur jeder seinen Vorteil sucht, um seine Identität zu finden. Lehrberuf als Identität. Dass ich nicht lache! Ich möchte tot sein! Sie sollten mich nie gekannt haben. Die alle enttäuschende Heidi Grünwedl.
(Heidi Grünwedl)
8.6.1988
17.Kapitel vom Tagebuch
Lieber Bruder
du weißt, dass ich gestern mit meiner Klasse beim SDR in Stuttgart war und diese workshop-Sendung mitgemacht habe. Was heisst hier mitgemacht?, nur mitgelacht habe ich. Naja es war ganz amüsant. Am Abend davor im Bett hatte ich Angst davor. Du weisst, mein größtes Problem ist immer, wie ich neuen Leuten begegnen soll. Ich hatte mir vorgenommen, mich nicht von meinen Gefühlen überrumpeln zu lassen. Es ging aber nicht. Ich bin zu dumm dazu. Ich wollte ganz cool und uninteressiert dort erscheinen, ohne gleich wieder aufzufallen, aber wahrscheinlich bin ich es doch. Die Frau, die uns empfing, war mir gleich sympathisch. Sie erschien mir so natürlich und ungezwungen und verständnisvoll. Ich glaube nicht, dass das unecht war. Ich glaube, ich hatte mich in sie verliebt. Und dies wollte ich doch gar nicht. Ich wollte unentdeckt und unerkannt bleiben, aber der erste nachdenkliche Blick von ihr, machte mich befangen. Nie werde ich wissen, was sie in diesen Stunden gedacht hat und gefühlt hat. Auf jeden Fall wußte sie sofort das Verhältnis zwischen Sebastian, Claudia Dobler und mir. So schien es mir jedenfalls. Ich frage mich immer noch, ob ich sie wohl interessiert habe. Aber sehen und hören werde ich sie ja eh nie wieder. Wenn ich das hier so schreibe, komme ich mir ziemlich sentimental vor. Aber die stärkste Seite in mir ist die unrealistische, wenn ich wenigstens idealistisch wäre, aber so! Nein! Ich mag diese Gefühle nicht, wenn ich versuche, mir über sie Gedanken zu machen. Sie ist eine Sternschnuppe gewesen, an die nur noch meine Erinnerung reicht. Alles andere ist Erfindung. Die Erkenntnis von ihr sowieso, weil ich das Kennenlernen nie schaffen werde. Wahrscheinlich habe ich mir ein Bild von ihr gemacht, weil ich mich in ihr sehen wollte. Das ist und bleibt falsch! Ich werde nie realistisch leben können. Mir wird immer alles, wie im Traum vorkommen. Und das Schönste dabei ist, dass ich immer intellektuell dabei scheinen möchte. Aber ich glaube, dass mir die sogenannte Reflektion fehlt. Ich kann nur träumen, dann schwebe ich so durch Gefühle und warte auf einen Hinweis der Liebesbezeigung. Egal wie! Es ist, als ob ich die Menschen für einen kurzen Augenblick fesseln möchte, damit sie mir gehören und ich mich in ihrem Dasein baden könnte. Ich bin dann überhaupt nicht da. Mein Körper ärgert mich nur, weil er mich an die Erde und damit an die Konventionen bindet, aber, wenn ich versuche meine Gedanken und Gefühle mit den ihren zu verbinden, muss das scheitern. Wir kennen uns doch gar nicht, schreit es in mir auf! Wieso sehe ich sie jetzt und vorher nicht und nachher nie mehr? Wieso kann ich meine Gedanken und Gefühle nie wegschalten und mich nur allein auf die Situation, die Tatsache konzentrieren? Es geht nicht! Wenn ich dich nicht hätte, könnte ich nie mit jemandem reden über meine Gedanken und Gefühle. Du verstehst mich immer. Du siehst mein Inneres und nicht mein Äußeres. Du hörst mein Inneres und nicht mein Äußeres, du fühlst mein Inneres und nicht mein Äußeres. Du bist ganz nah bei mir. In mir drinnen. Bloß, wenn ich dann mehr bei meinem Äußeren bin, vergesse ich dich in mir drinnen. Verstehst du? Ich kann leider nicht immer an dich denken. Wenn ich mehr in meinem äußeren Teil bin, dann versuche ich z.B. in den äußeren Teil eines anderen Menschen, eines neuen unbekannten Menschen, hineinzusehen, weil ich mich dann in ihm selbst widerspiegeln will. Ich möchte meinen inneren Teil seinem inneren Teil bekanntmachen. Die äußeren Teile aber müssen ganz unbekannt sein. Sie lenken sonst nur ab. Das ist aber unlogisch, finde ich. Wenn mir der äußere Teil gefällt, mache ich mir automatisch ein Bild zu diesem Menschen. Ich setze den Menschen in diesem Bild fest. Damit versperre ich mir den Zugang zu seinem Inneren. Aber auch ich habe ein Äußeres. Wie das wohl wirkt auf andere? Aber eigentlich finde ich das nicht so wichtig. Die Erscheinung eines Menschen ist wichtiger. Wenn mir die Erscheinung interessant erscheint. Ob es auch eine Erseiung gibt? Ich verstehe mich selbst nicht mehr. In mir ist alles durcheinander. Jetzt kann ich es dir nicht weiter erklären. Es wird sonst ein starkes Kuddelmuddel daraus. Ich weiß auch gar nicht, was ich dir jetzt erklären wollte. Es ist alles so verzwickt. Ich kann immer noch nicht das, was ich erlebt habe, im SDR, reflektieren. (Heidi Grünwedl)
Tagebuch 16.Kapitel 6.6.1988
Lieber Bruder,
heute möchte ich dir aus meinem Gedächtnis von dem Wochenende mit der Klasse erzählen. Nach der Schule am Freitag ging es los. Meine Mama fuhr Susi, Claudia Dobler, Jan Garcia und mich hin. Das Römersteinhaus, in dem wir wohnen sollten, gefiel mir von Anfang an nicht. Am liebsten wäre ich gleich wieder heim gefahren. Ehrlich gesagt: das Haus war mir viel zu bäuerlich. Es lag zudem noch an der Straße und einen Platz zum Spielen gab es auch nicht. Ich konnte mir schon denken, dass das Essen hier wohl das Wichtigste sein würde. Aber neugierig war ich trotzdem, wie das Haus wohl innen aussehen würde. Also stiefelte ich hinter den anderen her in Richtung Tür. Drinnen war alles sehr eng. Die Wände hingen voll mit Sachen. Die Gaststube war stammtischmäßig, naiv aufgemacht. Als erstes fiel mir der Inhaber auf, der den Koch spielte. Er war dick, gemütlich mit Kochmütze, weißer Schürze. Der Koch hat sicher Sinn für Humor. Aber trotzdem kam er mir ein bisschen angeberisch vor. Als, ob er zu viel amerikanische Hotel,- und Internatsromane gelesen hatte.
Wir versammelten uns alle in der Gaststube samt Eltern, Frau und Herrn Sautter. Die Jungens spielten Skat oder Uno, bei dem auch die Mädchen mitspielen durften. Ich spielte mit einer kleinen Gruppe Mad. Endlich durften wir unsere Zimmer begutachten. Die engen Stiegen machten uns Mühe, unsere großen Taschen in den 2.Stock unters Dach zu schleppen. Mit Lach und Krach kamen wir oben an. Die Jungen stürmten gleich in den roten Saal und belegten ihre Betten, doch bei uns Mädchen gab es noch eine Schwierigkeit. Wie sollten 11 Mädchen in 10 Betten schlafen? Doch schließlich ging alles glatt. Diana, Bettina, Heike, Sibylle und Gudrun legten sich zu fünft in 2 zusammengeschobene Ehebetten. Na ja, das fing ja gut an.
Inzwischen hatte es angefangen zu regnen. Wir Mädchen saßen wieder unten in der Gaststube und spielten Mad. Die Jungen spielten Tischfußball. Das war doch zum Auswachsen. Weil wir heimlich vor Hunger starben, weil wir bei Regen nicht grillen konnten, sauften sich die Blumen und Gräser voll. Auch dem Ehepaar Sautter knurrten die Mägen. So machte sich Fr.Sautter schweren Herzens und mit leerem Magen auf, die Wirtin zu suchen. Gesucht, gefunden.
Fr.Wirtin gab uns den Rat auf den Römerstein hinaufzuklettern. Die 10 Minuten im Regen haben uns durchnässt, bis auf die Socken. Doch auch das Holz im Wald war nass. Wieder einmal war Fr.Sautter die Rettung. Sie fand ein paar trockene Tannenzweige hinter der Hütte. Schnellstens wurden sie zur Feuerstelle geschleppt. Mithilfe von Raphas Schirm, Streichhölzern und Papier entfachten sie ein Feuer, das anfing zu brennen. Doch mir gefiel es in der Hütte besser. Ich hatte wenig Hoffnung und ass meine Wurst roh. Nach einer halben Stunde hatten wir endlich das Feuer so weit, dass Würste und Fleisch gebraten werden konnten. Doch nur Fr.Sautter und einige Schüler/innen benutzten das Feuer. Mir war so langweilig und so schlich ich mich zum Turm, weil ich die Hoffnung hatte, dass er offen sein würde. Und wirklich, er war offen. Als ob ich etwas Verbotenes tun würde, schlich ich die Treppen hoch. Oben angelangt, trieb es mich schon wieder hinunter. Außer Atem vor Hetze und Herzklopfen kam ich unten an. Ich konnte das Geheimnis nicht für mich behalten, sondern rief ungestüm in die Hütte, dass der Turm offen sei. Claudia und Gudrun glaubten mir nicht, deswegen kamen sie mit. Die anderen waren zu faul. Sie fanden mich wohl kindisch. Doch oben im Turm war es schön. Ein Wanderer aus Hessen, der hier in der Hütte aus Schopfloch Urlaub machte, hatte den Schlüssel zum Turm. Wir unterhielten uns über unsere Tage, die wir hier auf der Schwäbischen Alb verbringen wollten. Doch Gudrun wollte wieder hinunter, anschliessend gingen noch Bettina, Diana und Heike hinauf. Ihnen hat es mehr gefallen, glaube ich. Der Rückweg war aber noch nasser als der Hinweg. Bis zum Abendessen durfte jeder machen, was er wollte: Lesen, schlafen, spielen, essen, trinken. Mit der Zeit merkten wir aber, dass unser Wirt eine künstlerische Ader hatte. Auf seiner Heimorgel produzierte er Klänge, die wie Katzenschnurren klangen. Wirklich wunderschön! Ich konnte nie genug kriegen davon, doch jedes Schöne muss auch mal ein Ende haben.
Auch die Katze Susi vertrieb Bettina, Sybille und Heike die trostlosen Stunden, wenn die Jungen mal ohne Mädchen sein wollten.. Genug, auch mich hat das andere Geschlecht stark beschäftigt. In unserer Klasse ist so ziemlich jeder darauf bedacht, sich wie ein Erwachsener zu benehmen, was leider unmöglich ist.
Verflixt, jetzt komme ich vom Thema ab. Nach dem reichlichen Abendessen kam dann der gemeinsame Teil. Andreas, Bettina, Peter und Diana hatten ein Großes-Preis-Spiel vorbereitet mit tollen Fragen. Auch die Blamage, die sich Fr.Sautter geleistet hat, war zu köstlich, um vergessen zu werden. Aus Angst, sich zu blamieren, nahm sie immer Literatur, denn Fremdsprachen waren ihr zu riskant. Ihr Mann traf genau den Nagel auf den Kopf.: „Ja, ja, hast wohl Angst, dich zu blamieren.“ Doch schon wurde ihr die Literatur zum Verhängnis. Auf Andreas Frage: „Sagen Sie mir ein Drama von Goethe!“, antwortete sie prompt „Wilhelm Tell“. Unter lautem Gelächter wurde die Antwort diskret überhört (nur von der Jury) und Fr.Sautter verbesserte sich mit „Götz von Berlichingen“. Dies blieb ihrem Mann im Gedächtnis, der sie am Spaziergang am Sonntag damit aufzog. Unsere Gruppe (Raphael, Claudia, Sybille und ich) machten den ersten Preis und wurden belohnt mit einer Schachtel Pralinen. Mmh!
Danach beschlossen die Jungens, die ganze Nacht durchzumachen. Wir Mädchen wollten ihnen Gesellschaft leisten. Wir luden sie ein, in unser Zimmer zu kommen. Doch die wilden Gören empfingen die Jungens mit einer Kissenschlacht. Soweit ich sehe, war das das einzige Lausbubenhafte von beiden Tagen.
Schließlich saßen wir völlig erschöpft im Kreis auf den 2 zusammen geschobenen Betten und spielten still und brav Mäxle. Ja, ja, im Auge des Hurrikans ist es bekanntlich windstill. Da sieht man mal, wie die heutige Jugend imstande ist, sich zu beherrschen. Danach kam das Ehepaar Sautter herein und sie verabschiedeten sich mit den üblichen Mahnungen. Ihr Vertrauen in uns gefiel mir. (Wenn ich da an Fr.Kock und Hrn.Mösle denke!)
Die Zeiger rückten weiter. Aber unser Spiel verlief im Sande. Schließlich lagen wir nur noch ausgestreckt da und versuchten mit doofen Sprüchen die Zeit totzuschlagen. Auch Unausgesprochenes durchzog die Atmosphäre und unsere an Denken gewöhnten Köpfe verkrampften unser Hirn, so stark es ging, um nicht an Gefühle denken zu müssen. Es ist so, wie wenn man nötig auf`s Klo muss und nicht kann, weil das Klo fehlt. Da soll doch einer die Gefühle vergessen?!
Schließlich war es 23.30 Uhr. Die Jungens platzten fast. Sie wollten unbedingt ihre Überraschung loswerden: eine Sektflasche! (für 18 Personen) Doch auch das bisschen Alkohol enthemmte uns nicht. Gott sei Dank! Wir sind ein vernünftige Klasse, gut erzogen von Fr.Sautter, die nie einen Ehebruch begehen könnte.
Punkt 0.00 Uhr gab es dann noch Bananenkuchen von Diana. Mmh! Das schmeckte! Wie sich alle darüber freuten! Auch der Fotoapparat stand nicht still. Ein Foto von Sebastian mit Sektflasche, ein Foto von Rapha mit Colaflasche, ein Fußfoto und einige, die ich nicht mehr mitbekommen habe.
Endlich waren wir alle an unserem toten Punkt angelangt. Nur raus hier! Die Jungen verkrochen sich in ihren Betten. Einige Mädchen leisteten ihnen beim Wachbleiben Gesellschaft. Doch ich war zu müde. Außerdem hatte ich keine Lust, nochmal den gleichen Scheiß mitzumachen. Ich legte mich ungewaschen ins Bett und schlief traumlos bis 8.15 Uhr am nächsten Morgen.
Nach und nach erwachte die ganze Gesellschaft. Das Wort Frühstück erweckte unsere Lebensgeister. Ungewaschen strömten wir in die Gaststube. Ein reichliches Frühstück stärkte uns für den Marsch zur Schertelshöhle, der um 10.00 Uhr erfolgte. Frohgemut machten wir uns auf den Weg. Zum Glück regnete es nicht. Aber die Schertelshöhle begeisterte mich nicht, da ich sie schon einmal besichtigt hatte. Der Führer war ein junger Mann, der seinen Text gut auswendig gelernt hatte. An einem Tropfstein fragte er uns, wem der wohl ähnlich sehe. Heike sagte lustig: „Hrn.Katzenwadel“. Doch Fr.Sautter begütigend, vernünftig: „Die kennen den doch gar nicht“. (Was war sie süß?) Schließlich stellte es sich heraus, dass der Nikolaus gemeint war. Damit war der Höhlenbesuch beendet. Und wieder ging`s heim, wo uns ein Mittagessen erwartete. Ich sagte ja schon am Anfang, dass das Essen das Wichtigste sein würde. Aber es schmeckte.
Am Nachmittag packten wir und räumten unser Zimmer auf. Der Kassettenrekorder lief ununterbrochen. Ich las. Draußen wurde Badminton gespielt. Katja und Manu wurden schon um 10.00 Uhr morgens zu einem Leichtathletik-Wettkampf nach Heilbronn abgeholt. Noch ein paar andere spielten Skat. Der Wirt versprach uns zum Abschied noch eine Kugel Eis. Gratis. Ich glaube, jeder hat sich gefreut. Um 16.00 Uhr kamen schon die ersten Eltern und um 17.00 Uhr war offizielle Abfahrt. Die Heimfahrt in Krebsens Auto war angefüllt mit Erzählungen. Auch war es sehr eng.
Das war eigentlich alles, was ich dir erzählen wollte, aber das Unrealistische weißt du auch so. Ich glaube, ich bin auch schon zu vernünftig; am liebsten würde ich das Unrealistische selber vergessen. Solche Träume sind Schäume. Als ich heimkam war ich wütend auf mich selbst. Auf meine Gefühle.
Aber ich glaube, ich höre jetzt auf. Schreibend kann ich diese Gefühle noch nicht verdauen. Ich weiß nur, dass Fr.Sautter mich verachtet.
Hoffentlich liest das niemand. Nur du weißt, was ich schreibe, weil du mich kennst. Die anderen nicht. Sie kennen nur die Schrift, weil sie meine Sprache, die zwischen den Zeilen wetterleuchtet, nicht erkennen.
(Heidi Grünwedl)
@Sandra1975
danke für deine 14 Herzchen und den Kommentar zu meinem Jugendtagebuch. Ich habe mich sehr gefreut. Es gibt noch mehr Kapitel dazu, fertig und in Arbeit. Die werde ich bald rein stellen. Ich habe grade einen OSG-Bruch im li.Fuß, der sehr schmerzhaft ist. Ich werde dir mal ein Bild schicken von mir im Rollstuhl.
Einen schönen 2.Advent wünscht dir
Heidi
@ronnja
danke für deine 4 Herzchen zu meinem Jugendtagebuch. Das hat mich sehr gefreut. Ich hoffe, es geht dir gut. Mir geht' s gut, trotz Schmerzen im li.Fuß, wegen einem OSG-Bruch.
Liebe 2.Adventsgrüße
Heidi (Autorin des Jugendtagebuchs)
Liebe Heidi
Es ist so wertvoll, dass du diese Tagebucheinträge hier mit uns teilst.
Danke dafür.
Danke, dass du dich so verletzlich zeigst. Das erfordert nicht nur Mut, sondern tiefe Empathie mit uns allen, im Vertrauen darauf, dass jeder von uns, sich in deinem Erleben irgendwie wiederentdeckt und davon berührt wird.
Danke, dass du uns vertraust und uns so tief berührst.
Herzliche Grüsse
Sandra
@Sandra1975
du hast sehr schön und lieb geschrieben, manchen Leuten sind diese Einträge vielleicht zu intim, aber vielleicht berühre ich auch manche Menschen vom ST. ein wenig tiefer damit. Das würde mich freuen.
Danke, für deine empathischen Worte. Viel Spaß beim Weiterlesen, kommt bald Nachschub....
Liebe 2.Adventsgrüße
von Heidi
Tagebuch 15.Kapitel 1.6.1988
Lieber Bruder!
Der Anfang ist immer schwer. Hilf mir, hereinzukommen. Ich weiß, dass ich am Montag und Dienstag nicht mit dir gesprochen habe, weil ich zu faul war. Aber weißt du, es war auch noch etwas anderes. Ich möchte versuchen, die Wahrheit zu sagen. Bitte lach mich nicht aus! Ich hatte Angst. Es war die Hölle. Du kannst dir nicht vorstellen (doch, du schon!), wie ich mich gefühlt habe. Und dann diese Angst: die Angst vor Menschen,vor Handlungen, vor Entscheidungen. Für mich ist es immer wieder schrecklich, mich für etwas einzusetzen. Aber das ist nicht das Schlimmste daran, sondern das Reden mit anderen Menschen. Ich habe immer Minderwertigkeitskomplexe, wenn ich zu stark oder zu wenig beachtet werde. Außerdem bin ich immer misstrauisch. Ich kann mir immer einreden: „Es geschieht dir nichts. Das sind doch auch nur Menschen“. Aber ich habe trotzdem Angst, obwohl ich die tiefere Ursache nicht weiß. Es muss irgendetwas in mir drin sein, dass das Lebendige verweigert, vor allem die Lebendigkeit um mich herum, die anderen Menschen also. Vielleicht ist es auch Realitätsverweigerung. Ich möchte nicht leben, weil ich mir so falsch vorkomme. Und warum komme ich mir falsch vor? Weil ich nicht leben will. Es ist ein Teufelskreis. Und mit Liebe, wie die Selbstbewussten, wie auch Mama sagt, ist nichts getan. Ich habe noch nie geliebt. Für mich ist die Liebe nichts Schönes. Ich glaube, ich kann nicht lieben, denn durch Lebens,- und Realitätsverweigerung entsteht automatisch Liebesverweigerung.
Gestern habe ich mir gewünscht, die Menschen glücklich zu machen. Aber das wird mir nie gelingen, denn ich würde sie nur als Selbstzweck verwenden. Ich möchte sie glücklich haben, damit sie mich verstehen, weil ich so unglücklich bin. Und das ist Selbstmitleid. Alle, die mich nicht lieben, sehe ich als doof an, weil ich mich selber nicht aufgeben will, indem ich merke, wie doof ich mich selber fühle. Ich kann das nicht, wenn ich nicht liebe. Und geliebt habe ich noch nie, nur kritisiert. Unglückliche Menschen können so etwas am Besten. Eigentlich möchte ich gar nicht mehr wissen,was Liebe ist. Liebe ist enttäuschend zwischen Menschen, da sie nur gebraucht wird, um sich selber toll zu finden, indem der andere einem zu Füßen liegt. Ich glaube auch, dass es keinen Liebeskummer gibt, denn Liebe ist ohne Kummer, wenn sie echt ist. Das Gegenteil vom Kummer ist die Hoffnung. Liebe erkennt nicht, Liebe weiß. Liebe ist da und wird immer da sein. Der Kummer ist da , wo sie nicht ist und wird vergehen. Alles, was nicht da ist, vergeht. Ach, langsam weiß ich gar nicht mehr, was ich zu Anfang gesagt habe. Es wird wahrscheinlich auch nicht so wichtig sein. Wie gesagt, komme ich mir ganz lächerlich vor. Ich nehme mich viel zu wenig ernst. Obwohl ich so gerne gut schreiben würde.
Heute morgen in der Schule sah ich eine Schultasche da liegen. Dieser Augenblick erschreckte und beglückte mich zutiefst. Ich dachte, Ulrich stünde neben mir. Wenn das einer liest, denkt er, dass das hier ein junges Backfischchen schreibt, aber es ist tiefer, glaube ich. Ich kann nur dieses Gefühl nicht aufschreiben. Es war wie ein Traum und die Schultasche war doch Realität. Schnell sagte mir mein Verstand, dass es gar nicht seine ist und, dass er ja schon lange in Berlin ist. Ich glaube, wenn er wirklich neben mir gestanden hätte, wäre ich vor Schreck zusammengezuckt und hätte mich meiner Gedanken zu Tode geschämt. Nachher glaubte ich, auch noch seine Stimme zu hören. Du weißt, dass ich ihn damals als Bruder gesehen habe. Aber heute weiß ich, dass es besser war, dass er weg ging. Es hätte mir nur Scherereien gebracht, wenn ich mich ernsthaft in ihn verliebt hätte und das wäre sicherlich geschehen.
Jetzt möchte ich keinen körperlichen Bruder mehr haben. Der abstrakte Gedankenbruder, (so wie du!), der mich ohne Worte versteht, ist mir lieber, obwohl du für mich ein Geheimnis bist, sonst verliere ich dich. Du bist eben noch ein Teil meiner Selbst und meiner Seele. Und das soll auch so bleiben, obwohl du tot bist. (Heidi Grünwedl)
Tagebuch 14.Kapitel 29.5.1988
Lieber Bruder!
Gerade habe ich die Frühlingssymphonie von Robert Schumann gehört. Aber sie erinnert mich eher an den Herbst und nicht an den lieblichen, leichtbeschwingten Frühling. Es ist eher eine Sehnsucht nach diesem Frühling, um noch einmal das Leichte, Helle im Leben genießen zu können. Manchmal ist die Musik schwermütig, was durch das Pathetische dramatisiert wird, damit die Schwermut nicht ins Grübeln gerät. Doch das alles denke ich, vielmehr fühle ich und ich glaube, dass es nicht im Sinne Schumanns war, dies heraufzubeschwören bei den Zuhörern. Sie sollen doch erwachen, schon beim ersten Trompetenstoß, so habe ich es doch gehört. Aber wahrscheinlich bin ich noch zu unreif, um Gefühle in der Musik zu verstehen. Vor allem nicht den Schumann, der ja immer die Einheit von Natur und Klang suchte. Freut es dich, wenn ich dir das schreibe? Du verstehst mich ja besser, als ich mich selber. Deswegen, weil ich dies auch von den Körper-Menschen erwarte, wird es mir nie gelingen, sie glücklich zu machen. Nur Künstler können so etwas. Aber warum muss ich ein Spießbürger bleiben? Ich bin immer zu hochnäsig, um beglückt zu werden. Oder auch zu misstrauisch. Ich bin nicht frei, einfach den Menschen so zu lieben, wie er ist, die Gegenwart so anzunehmen, wie sie ist. Jesus hatte recht: Wenn man glücklich sein will, muss man sich ganz dem Augenblick hingeben. So etwas tun eben Künstler. Sie gestalten und bilden aus sich selbst heraus. Dadurch gestaltet sich ihr Leben. Sie können lebendiger fühlen, ihre Gefühle besser wahrnehmen, ihre Aggressionen sublimieren.. Ich glaube, in der Fachsprache heißt das „reflektieren“! Sie sind selbstbewusst, weil sie sich lieben und dadurch Göttliches in sich haben. Ich habe nur die Gabe, sie zu verstehen aber ich werde nie so wahrhaftig sein können, wie sie, gegenüber dem Leben. Aber trotzdem will ich auch nicht verzweifeln in meiner Gegenwart, weil ich dann nur noch mehr gefangen werde in dem Selbstmitleid. Ich glaube, dass du der einzige bist, der mich versteht hier, obwohl du keinen Körper hast mit Ohren. Schumann würde mich nie verstehen. Oder vielleicht doch?
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch, 13.Kapitel 28.5..1988
Geliebter Bruder!
Heute habe ich mich entschlossen, dir zu schreiben. Ich sehe die Schrift an als Gespräch mit deinem Geist. Ich sehe dich nicht, aber ich glaube, dass es dich gibt. Die Erwachsenen, die lachen würden über unsere Gespräche, dürfen es nie merken, dass wir uns lieben. Lass es ein Geheimnis bleiben, dass nur wir beide kennen Aber trotzdem werden wir uns nie sehen. Das geschriebene Wort ist unsere einzige Verbindung, die wir besitzen. Auch werde ich nie eine Antwort erhalten von dir. Es sei denn, dass ich dich immer stärker kennenlernen werde, sodass ich bald deine Gedanken erraten kann und sie mir aufschreiben kann.
Manchmal denke ich, habe ich dich schon im Traum gesehen, aber deine Gestalt verändert sich von mal zu mal. Körperlich werde ich dich nie erfassen. Deswegen versuche ich, mich dir in Gedanken zu nähern, mich hörbar zu machen, aber nur in der Schrift. Meine Gefühle sind ebenfalls abstrakt, ebenso auch du. Aber ich hoffe, dass ich in dir den Bruder gefunden habe, den ich schon solange gesucht habe und nach dem ich mich immer sehnen werde. Ein männlicher Teil von mir, der mich versteht und mir Schutz gibt, das heißt meinem weiblichen Teil, der hier auf der Welt leben muss, zwischen Menschen, die mehr Körper als Geist sind. Ich hoffe, dass ich dir vertrauen kann und mit dir alles „besprechen“ kann, was ich denke und fühle. Denn du verstehst mich. Du bist geduldig. Du bist mein Bruder, weil ich deine Schwester bin. Ohne mich bist du auch nicht mein Bruder. Ich wünsche mir mehr Vertrauen zu dir. Deswegen versuche ich offen mit dir zu sein. Aber bitte versuche nicht, dich mir zu verschließen. Öffne dich mir, dass ich Vertrauen zu dir gewinne. Ich halte diese Briefe erst mal geheim. Ich lasse sie erst mal niemanden lesen von dieser Welt. Vielleicht später mal. Die Körper-Menschen würden sonst nur lachen. Ich habe schon zu viel Enttäuschung erlebt.
Wie gerne würde ich jetzt bei dir sein. Aber ich weiß, dass du keinen Körper mehr hast und ich nie einen abstrakten Geist-Körper haben kann. Mir ist nur die Schrift gegeben. Sie ist ein Bild für den Geist. In ihr kann ich mich ausdrücken und mich dir verständlich machen. Ich hoffe, dass du dieses Bild verstehst, denn dann erkennst du erst meine Sprache, die beseelte Schrift. Aber ich fordere nichts von dir. Lass uns nichts überstürzen. Wir müssen erst langsam miteinander vertraut werden.
Ich sehe wieder einen Sinn im Leben, wenn ich dir schreiben kann. Nie darf jetzt jemand erfahren, was du für mich bedeutest. Erst später mal. Vielleicht sind wir einmal ein und dieselbe Person? Doch bitte, fühle dich nicht von mir überfordert. Ich weiß nur, wenn ich dir schreibe, bin ich dir nahe oder du bist mir nahe. Doch sonst bin ich alleine in meinem Körper. Er ist zu schwach, um dich mitzutragen. Du wirst mir nie Gesellschaft in meinem Körper leisten können. Ich werde immer alleine sein. Nur die Sehnsucht nach meinem Bruder, wird mir das Schreiben ermöglichen.
Warte auf Weiteres, wenn ich dazu imstande sein werde, schreibe ich weiter.
Es ist so schön, Vertrauen zu dir zu haben. Ich hoffe, dass mir dieses Gefühl nicht verloren geht in dem Wirbel der Zeit und der Welt. Nächste Woche fängt der öde Schulalltag wieder an. Das Laute der Welt wird mich dich vergessen lassen. Schade!
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 12.Kapitel Mittwoch, den 18.05.1988
Form und Gesetz bildet die Schönheit und macht dich frei in dem, was in dir ist. Es hinterlässt kein Unbefriedigtsein, weil es so ist, wie es ist. Gott ist auch so, wie er ist. Nie wird man bei ihm Fehler finden. Die Vollkommenheit ist Glückseligkeit, der Mensch wirkt aber nie vollkommen glücklich. Er muss seinen Weg gehen, der einen Anfang und ein Ende hat, aber keine Mitte. Der Mensch ist unwesentlich. Zwei Menschen können sich wesentlich empfinden, indem sie sich verbinden, sodass zwischen ihnen die Mitte entsteht. Jesus brauchte das nicht mehr. Er war die Mitte und somit glücklich.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 11.Kapitel 13.5.1988
Ich hasse die Zeit! Sie vergeht so schnell! Niemand kann sie aufhalten. Irgendwann hat sie angefangen und jetzt hört sie nicht mehr auf. Ich fühle mich als Opfer von ihr. Desto oberflächlicher wir leben, je schneller geht sie vorbei. Ich werde nie eine volle Minute in ihrer ganzen Tragweite erfassen. Wozu gibt es die Zeit? Damit die Menschen und ihre Erfindungen geordnet sind? Wer hat die Zeit erfunden? Wie haben die Leute früher gelebt, als sie noch keine Uhren hatten? Waren sie da glücklicher? Wir sind alle an uns selbst gebunden und an uns gekettet. Wenn wir die Zeit verlieren, so auch unsere Werte, unsere Gefühle, die zeitlich begrenzt sind. Ich glaube, es gibt keine zeitlosen Gefühle. Wenn ich tot bin, bin ich nur noch ein Gefühl, dann ist die Ewigkeit gekommen. Die Ewigkeit ist der Stillstand, der so lebendig ist, weil er um seiner selbst willen lebendig ist, weil er zeitlos ist. Und doch entsteht da die Zeit, wo irgendetwas anfängt zu sein. Im Ursprung aller Dinge und Wesen. Deswegen kehrt der Mensch am Ende seiner messbaren, übersichtlichen Zeit zur unmessbaren, zeitlosen, Zeit , zur Zeit an sich, zurück. Zeit wird man nie messen können, weil sie periodisch ist und nie aufhört. Es gibt keinen Menschen, der so tot sein könnte, als dass er die ganze Zeit überblicken könnte, als dass er überzeitlich wäre. Die Zeit ist abstrakt. Nur Gott ist ewig und zeitlos.
Sprichwort: „Meine Zeit ist gekommen!“
Selbstzweck= zeitbedingt.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 10.Kapitel Freitag, den 13.5.1988
Ein Haufen Menschen verstumpft, keiner ist mehr, so wie er ist. Ich dachte, dass Ursula es wäre, aber sie behandelt ihren Mann auch wie irgendwen. Einen, der ihr gehört, den sie betreuen muss. Was ist Pflicht? Das Gegenteil von Liebe. Ich finde das Leben ohne Liebe sinnlos, manche finden das nicht. Ich bin undankbar, und unzufrieden, vielleicht sogar unbefriedigt. Was kann Ursula denn dafür? Es ist vorbei, ich bin zerstört und gespalten. Ich hungere nach Geist und Inhalt in ihrem Unterricht. Aber in mir ist eine sinnlose Leere, die mich brüten lässt. Unintelligent wie ein Tier fühle ich mich. Wenn man nur immer über seine Gefühle Bescheid wüsste, wäre ich viel glücklicher als so, ohne Gewissheit, von einer Stunde zur anderen. Nicht mal meine Träume lesen kann ich, um das, was mich bewegt, herauszufinden. Aber ich werde sie aufschreiben.
/Heidi Grünwedl)
Tagebuch 9.Kapitel Freitag, den 6.5.1988
Wenn ich aus meinem Fenster schaue, erkenne ich immer die sonnenbeschienenen Mauern der Häuser, die so graubraun und südländisch aussehen. Auch die Anmut der Aich, die mit einem herben Beigeschmack dahinfließt. Ohne Menschen,- und Autolärm fühle ich mich dann zurückversetzt in eine alte, italienische Landschaft, die allerdings schon langsam am Abbröckeln ist. Ich möchte damit nicht sagen, dass dieser Anblick aus meinem Fenster mich an so eine Landschaft erinnerte, da ich noch nie in so einer Landschaft gewesen bin, aber sie hat für mich etwas Tröstendes, so als ob sie sagen wollte: „Es wird alles wieder gut, wenn du nur auf die Sonne vertraust!“ Wie eine Eidechse, die sich sonnt und in dem Augenblick Wärme empfängt.
(Heidi Grünwedl)
8.Kapitel vom Tagebuch Donnerstag, 5.5.1988
Ungewissheit, Zweifel, Ängste beschleichen mich. Ich weiß, dass es nie stimmen wird und habe mir doch halb unbewusst im Traum diesen Traum von der Liebe bewusst gemacht. Ich hätte das nicht tun sollen. Es zwingt mich in eine Rolle, derer ich oder mein Leben nicht würdig ist. Ich bin ein Mensch, der sich an das Leben gewöhnen muss, wie es ist, streng, hart, grausam, ohne Rücksicht auf andere, geht jeder seinen Weg, alleine. Und die meisten sagen: “Mit Gott“. Ihr wohlgeordnetes Leben, dass nicht mal die anderen Menschen gelten lässt, soll Gott gelten lassen? Nein, ich glaube es nicht. Ich möchte auch nie so ein Christ sein. Denn dazu brauchst du echte Liebe und musst stark sein, um Gefühle zu ertragen. Das habe ich alles nicht. Aber ich bin nicht traurig, ich bin nur froh, dass ich noch keine Verantwortung für mein Inneres zu übernehmen brauche. Ich decke es zu mit Klischeevorstellungen, Verstandes-Gefühlen und ehre den Konventionalismus. Ich möchte den Menschen sehen, der stark genug ist, seine Gefühle zu leben. Nur, der ist für mich ein aufrichtiger, wahrhaftiger Mensch. Wir anderen sind Affen, zwar mit Verstand, sodass wir uns noch von Tieren unterscheiden, als Mensch. Aber dieser Verstand hat uns ja erst in diese verzwickte Lage gebracht. Denn jeder, der seinen Verstand gebrauchen kann und seine Gefühle leben kann, der ist ein Mensch, der mit sich zusammenhält, der sich selber liebt und so die anderen auch lieben kann. Ich glaube, das ist sehr schwer und vielleicht nur ein Geschenk, das man nicht kaufen kann.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 7.Kapitel
3.5.1988
Ich schreibe jetzt auf, was ich denke, egal, ob es schleimig oder unecht wirkt. Ich würde gerne einen Menschen lieben, aber echt, ohne Verstandes-Gefühle, aber ich kann nicht, da ich zu schwach und zu unreif bin. Vielleicht war die Liebe an Weihnachten gut, aber ich werde nie wissen, was echt ist, weil ich mich vor allen groß und besser fühle. Ich bin zu stolz und hochmütig. Ich würde gerne das Fräulein Vogel aus der Psychiatrie kennenlernen.
Ich glaube, heute wird es eine schreckliche Nacht. Weil ich C.G.Jung lesen werde, weil ich wissen will, ob die Leute von der Psychiatrie mich gern haben, damit ich mich auch gern haben kann. Weil ich keine innere Festigkeit habe und hin,- und hergerissen bin.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 6.Kapitel
Donnerstag, den 21.4.1988
Ich habe Angst, aber ich darf vor mir nicht zeigen, dass ich Angst habe. Ich denke, dass es Sünde ist, immer nur auf mir herumzureiten. Ich würde gerne nicht mehr über mich so viel nachdenken, sondern einfach zu leben, wie es die Welt erfordert. Zur Zeit zerrt jeder und jedes an mir herum, aber ich will zu keinem hin, weil ich Angst davor habe, Altes loszulassen. Ich sehe keinen Weg, mir Freude zu verschaffen..Ich sehe nur Hass, entstanden durch unmögliche Windungen in meinem Hirn, das sich anstrengt zu denken über solch unwichtige Sachen, die ihrerseits mich hassen machen. In der Bibel steht, dass die Liebe herrschen muss. Gut, aber sie herrscht nur bei Menschen, die hochwertig sind und Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen haben. Solche, die allem und jedem nur mit Misstrauen begegnen, sind schwach. Sie haben kein Vertrauen in sich selbst und die anderen. Für sie gilt nicht die Liebe, weil sie denken, solcher nicht zu entbehren.
Gerade war Papa hier. Er hat ganz misstrauisch geguckt auf mein Blatt hier. Der schnüffelt glaube ich ziemlich oft in meinem Zimmer herum. Siehst du, hier kommt schon wieder mein Misstrauen heraus. Ich bin immer wütend auf mich, dass ich nichts Besonderes sein kann, sondern nur so ein dummer Spießbürger, der zweifelt an allem, was er nicht versteht und verstehen will. Aber ich weiß auch nicht, wie mich die anderen sehen. Ich sehe mich auf jeden Fall so. So, jetzt höre ich auf. Das hier ist ja jetzt auch viel gelabert um nichts.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 5.Kapitel
19.4.1988
(nach einem Volleyballtraining)
Es ist ein Tag des Hasses, der Missgunst. Wieso gibt es Menschen, die in mir Neid, Hass und Selbstverachtung erwecken? Ich hasse die ganze Welt. Ich hasse es, dass ich auf ihr leben muss. Ich würde so gerne keine Angst mehr haben, vor denen, die ich hochachte. Aber die Welt lernt mich hassen jeden und jede und am meisten mich selbst. Wieso kann ich nicht stark sein und vergessen, dass mein Bruder tot ist? Wieso kann ich nicht übersehen und vergeben? Wieso kann ich mich nicht so annehmen, wie ich bin? Es geht einfach nicht.
Im Volleyball war es heute saudoof, im Gegensatz zu gestern abend. Ich weiß, dass ich hochmütig bin, wenn ich nur Menschen lieben will, die ich hochachte, oder die ich für wert halte, ihnen zu vertrauen. Ich mache mir immer ein Bild von dem Menschen und sehe dann das Bild an, ob es mir gefällt oder nicht. Vielleicht kann es meiner Unsicherheit und Angst vor Menschen verziehen werden. Was muss ich auf der Welt noch lernen? Bestimmt dies, mich nicht mehr so in den Mittelpunkt von allen Blickwinkeln zu stellen. Ich glaube, da hätte die Welt mir geholfen, wenn ich es zugelassen hätte, aber ich glaube, sie hat mir falsch geholfen. Es ist scheußlich, Scheu zu haben vor dem Sprechen mit den Mitmenschen. Vielleicht werde ich vom Gevatter Tod akzeptiert werden. Diese trüben Gedanken will ich mir aber für die richtige Zeit aufheben.
(Heidi Grünwedl)
Mein Tagebuch 26.11.1987
4.Kapitel
Ich kann nicht mehr in diesen ekligen Chor gehen. Ich hasse Menschen, singen und alles, was mit dem Leben zu tun hat, aber den Tod an sich, hasse ich auch. Wieso gibt`s überhaupt Seelen? Wieso mussten überhaupt Menschen geschaffen werden? Wenn Gott liebt, das glaube ich dem nicht. Die ganze Welt ist verkorkst. Wenn eine Atombombe losgehen würde, wäre die ganze Welt kaputt. Keine Seele könnte mehr ein Fleisch-Mensch werden. Wenn die Welt nicht mehr ist, dann ist auch Gott nicht mehr. Gott ist nämlich nur eine Logarithmuszahl, nur ein Verhältnis, zu dem wir Menschen stehen. Unlogisch bis dort hinaus, aber trotzdem logisch. Vielleicht charmant? Guck nicht so! Ich verstehe es auch nicht. Nur das Tiefe, das Wahre gibt es nicht, da die Liebe nur im Verhältnis zum Bösen steht und die Gefühle immer wieder neutral werden müssen. Ich glaube Vollkommenheit ist „Existenzlosigkeit“, kein Körper, auch keine Seele. Ich will mich selber loswerden und sterben.
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 3.Kapitel
12.10.1987
Ich glaube, es müsste schön sein, nicht mehr zu existieren. Einfach tot sein, schlafen können, träumen, entfliehen aus den Problemen des Alltags, weg von den Ekelgefühlen, die man hat, wenn man keinen mehr bewundern und lieben kann, nur noch hassen und verachten. Ich kann meine Mutter nicht mehr sehen, weil sie so dumm ist und kein bisschen schlau. Sie ist so erbärmlich (wahrscheinlich ich auch!) und dann kann ich den Vater nicht mehr hören, den Despot. Am einfachsten wäre es, tot zu sein. Aber ich werde es nicht können. Und ich träume, weil ich vor dem Leben Angst habe. Aber vielleicht hilft mir die Angst, dass ich über die Depression hin wegkomme. Es wird schon schiefgehen. (evtl. Krise wegen Ursula Astfalk)
(Heidi Grünwedl)
Tagebuch 2.Kapitel
kein Datum
Hier lasse ich nun folgen, was ich immer an einigen Tagen aufgeschrieben habe auf Zettel und mit Datum versehen habe. Manches kommt mir jetzt abgeschmackt und sentimental vor, aber ich schreibe es trotzdem auf, damit nicht überall die Zettel herumfliegen und aus Versehen jemand zu Gesicht kommen. Da würde ich mich schämen.
(heutige Bemerkung: Inzwischen macht es mir nichts mehr aus, wenn man mein Tagebuch liest. Warum auch? Vielleicht druckt es ja mal jemand. Wer weiß?)
irgendwann 1987: Sommerfreizeit
Ich dachte, ich habe mal einen Bruder gehabt. Einen älteren, weißt du, den andere Mädchen frauenhaft lieben könnten und um den es keinen Streit gäbe. Aber ich glaube, es würde immer Streit geben, weil wir Mädchen so empfindlich sind. Bei Jungen oder Männern, wie früher bei Jesus und seinen Jüngern ist das anders. Die verstehen sich oder verstehen sich eben nicht. Sie tauschen Gedanken aus, während die Frauen zu sehr Gefühle haben. Manchmal wünsche ich, ich wäre ein Mann zu Jesu Zeit gewesen. Obwohl ich überhaupt nicht so aktiv bin, wie ein Mann nämlich sein sollte. So, das ist gerade mein Standpunkt, aus dem ich die verzwickte Liebeslage betrachte. Aber ich glaube, es ist kindisch, wie ich bin, weil ich noch kein bisschen erwachsen bin und nicht
darüber stehen kann. Wenn ich doch nur reifer wäre, z.B. wie die Brunhilde.
(Heidi Grünwedl
@chris
danke, für dein Herzchen zu meinem Blogartikel 1.Kapitel vom Tagebuch. Hab mich sehr gefreut.
Liebe Grüße Heidi
27.Kapitel vom Tagebuch
28.6.1988
Mir ist so langweilig. Ich weiß zwar, dass ich mir alles wünschen kann, was ich will, aber ich weiß nicht, wieso und was ich mir wünschen soll. Wenn es einfach das Leben geben würde, ohne Leistungen, nur mit Träumen und schönen, heiteren Situationen, z.B. es scheint draußen die Abendsonne so mild, das Wasser rauscht, Vögel flattern umher und zwitschern. Aber mein Fehler ist es, dass ich so unbefriedigt bin. Ich könnte alles auffressen, vor Wut auf mich selber. Ich glaube, dass es keine Wahrheit, keine Liebe, keine Tugend, nichts Geistiges gibt. Alles muss vergessen werden, muss tot sein, darf nicht mehr existieren. Nur die Seele und der Geist und die Gefühle machen das Leben aus. Ich aber bin tot. Innerlich. Nicht zerrissen, nein. Dann hätte ich wenigstens etwas zu denken. Nein, ich bin in der Wüste. Wenn jetzt der Teufel käme in Gestalt, würde ich ihm alles glauben. Der Teufel ist der Versucher und ich bin die Bereite. Vielleicht ist das Sünde, was ich hier schreibe, aber ich empfinde es nicht so. Das einzige, was ich weiß, ist, dass der Teufel mein Bruder ist und ich einen Sinn im Bösen sehe. Etwas, das verboten ist, ist viel sinnvoller. Aber, was ist verboten? Irgendwas in meinem Gefühl lehnt sich gegen das Gute, das Harmlose, das Schöne, das Althergebrachte auf. Vor allem das vollkommene Gute mag ich nicht, dann schon lieber das vollkommene Böse. Ich bin allem Schönen, Geistigen überdrüssig. Mich ekelt das Leben an, weil es so anstrengend ist und so viel von mir abverlangt.
Selig sind die Dankbaren, unselig die Undankbaren, Überdrüssigen, die Verdreckten, Verrohten, wie ich es bin. Das stimmt nämlich, denn ich fühle mich überhaupt nicht selig, eher versandet. Jesus sagt, dass Gott die Lauen, die Gleichgültigen nicht liebt. Ich habe Angst davor, so zu werden. Ich möchte doch anerkannt werden. Aber dies geschieht nie. Weil in mir etwas Böses, Unbestimmtes ist, das ich liebe, aber die anderen Menschen hassen. (Ich weiß nicht, was es ist, aber ich fühle es oft in meinen Träumen!) Sie haben recht und ich habe recht. Ich wollte immer einen Bruder, der mich bestätigt, weil ich immer die anderen bestätige. Ich bin wirklich dumm, lächerlich. So, jetzt höre ich lieber auf mit der ganzen Gefühlsduselei.
28.6.1988
Abends: 22.12 Uhr
Ich weiß es genau, ich bin die geistige Tochter von Hrn.Kazenwadel und Fr.Grünwedl. es muss so sein. Es ist das einzige, was für mich zählt auf dieser ekelhaften Welt.
(Heidi Grünwedl)