Jugend in den Vierzigern

Autor: ehemaliges Mitglied



In unserem Dorf gab es keine Kirche, keine Glocken, doch jeder wusste genau, wann es zwölf wurde. "Ingeeee, Marliiiiis, Uuuwelein" tönte Großmutter vom Balkon, um uns zum Essen zu rufen. Stets war es Punkt zwölf. Gleich danach rief die Nachbarin "Walterle" und so schallte es reihum Kindernamen durchs Dorf, es gab ja noch keine Armbanduhren für jeden. Nun war Schluss mit spielen, Hände waschen, Nägel bürsten, zur Kontrolle bei Oma antreten und dann gab es Mittagessen.
Unsere Nachbarn hießen Glück, Hummel, Korn, Zahn, Aal, Taube, Rosenow, Baumbach, Kaul, Queck, Fünfstück, Domy oder Winkelbauer, aber wir Kinder hatten typisch norddeutsche Vornamen wie Uwe, Frietjoff, Silke, Sonja, Inge, aber auch Sybille, Marlis Ewald, Rolf usw.
Die Väter waren im benachbarten kriegswichtigen Rüstungsbetrieb tätig, waren dort gestorben bei Unfällen, bei den Bombardierungen oder als Werkschutz. Niemand war deportiert worden, Großmutter hielt ihre schützende Hand über sie. Dabei setzte sie in brauner Zeit Ihre gesamte Persönlichkeit und Ihren Ruf als Frau Direktor ein.
Irgendein kleines Zimmerchen unter dem Dach, im Kohlenschuppen oder im alten Hühnerstall fand Großmutter nach dem Ende 1945 immer, wenn sie bei ihr vorstellig wurden. Ihr großes Netzwerk an Bekannten setzte sie zur Vermittlung menschlicherer Behausungen ein, meistens noch, bevor die Flüchtlinge aus dem Osten einquartiert wurden.
Für uns waren sie Tante Anni, Tante Minna, den Zwangsnamen Sarah benutzte niemand mehr, aber einige waren auch nur Tante mit Nachnamen; da machte die Hierarchie schon feine Unterschiede, verwandt waren wir dennoch alle nicht.
Sie ernährten sich von Pilzen, Beeren und selbst angebautem Gemüse. Großmutter vergab kleine Parzellen in unserem großen Garten, kaufte Ihnen die im Wald gesammelten Kienäpfel oder Pilze ab. Gebadet oder die schönen langen braun-schwarzen Haare wurde mit Seife im Sommer in der Elbe gewaschen, im Winter gab es von Großmutter heißes Wasser. Dafür stapelten sie Briketts auf, hackten Holz, schippten Schnee oder fegten die Strasse. Niemand hatte das Gefühl, Almosen zu empfangen. Wir Kinder fanden aber schon, dass Großmutter ihre Lage ein wenig ausnutzte; aufmucken oder besprechen gab es allerdings nicht.
Um unsere Familie zu ernähren fuhr Großmutter oft mit der Fähre über den Fluss ins Bauernland, versetzte Ringe, Ketten und ihren Persianer gegen Kartoffeln, Gemüse zum Einmachen, (leider nicht koscheres) Fleisch und andere Lebensmittel.
Der Milchmann im Dorf hieß Howeyhe, er kam täglich um 8:00 Uhr mit seinem schweren Kaltblüter von der Molkerei und öffnete seinen Lieferwagen, später den kleinen Laden im Bunker in unserer Strasse, da hatte er aber auch schon ein Tempo Dreirad.
Zum seltenen Einkauf in die benachbarte Kleinstadt legte Großmutter ihre Kittelschürze ab und holte die nach Mottenkugeln riechende Nerzstola hervor, setzte sich den schwarzen Strohhut keck aufs frisch gebläute Haar und wartete mit Würde auf den nächsten Bus.
Ihr Gang war wackelig, bedingt durch ihr Hüftleiden, doch jeder kannte die alte Dame mit dem Necknamen Oma Trudel und grüßte ehrfurchtsvoll. Das genoss sie wirklich.
Ende der Fünfziger waren fast alle Nachbarn fortgezogen, es blieben nur die Hummels und die Korns, unsere heile Welt zerrann.
Auch meine Mutter heiratete erneut, wir zogen nach Hamburg, ein neues Leben wurde aufgebaut. Mit Wehmut denke ich an diesen Teil meiner Kindheit zurück. Welches heutige Kind sagt heute schon zu seiner Nachbarin Tante Hummel?

Kadosch

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