Wie er wirklich hieß, wusste eigentlich niemand. Alle nannten ihn nur Jakob. Fragte man ihn nach seinem Namen, antwortete er mit einem verschmitzten Lächeln:
»Jakob.«
Einmal im Monat, und zwar wirklich regelmäßig, kam er vorbei, zog dann von Haus zu Haus, von Hinterhof zu Hinterhof. Es erschien allen, als hätte er einen Terminkalender und darin fein säuberlich alle Besuche eingetragen. Es war sogar fast immer die gleiche Zeit, wenn er auftauchte.
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Bei uns zuhause war es immer ungefähr 13 Uhr 45, oder wie man bei uns sagte: »Dreiviertel Zwei!«

         Jakob war vielleicht siebzig Jahre alt, genau konnte man es sicher nicht sagen, denn sein Aussehen war irgendwie zeitlos. Ein grauer Vollbart, graues langes Haar, das aber immer gepflegt war und eine wettergegerbte gerötete Haut voller Falten trugen dazu bei, dass er gemütlich aussah.
Gut, sein Outfit war nicht unbedingt ansehenswert, zur Sommerzeit ein schwarzer Anzug, der auch schon bessere Tage gesehen hatte und dazu ein schwarzer Hut, der sehr blank gebürstet war. In der Winterzeit kam dann noch ein langer dicker Mantel von unbestimmbarer Farbe dazu.
Ob es im Winter schneidend kalt war oder die Hitze im Sommer uns allen zu schaffen machte, Jakob schien immer putzmunter und gesund zu sein.
Gerade weil er so frisch daher kam, fröhlich den Leuten zuwinkte, niemals schlechte Laune hatte - mochten ihn alle.Ich auch, ich liebte geradezu diesen Jakob.
»No, mein Lorbassje,«
das war seine Begrüßung für mich, wenn er zu uns auf den Hof kam. Er streichelte mir dann kurz übers Haar und fragte dann freundlich: 
»No, hilfs’t mir heit’ wiedr?«
Und ob, ich freute mich immer, wenn ich ihm zur Hand gehen konnte, ihm fiel das Bücken doch ziemlich schwer. In allen Wohnungen öffneten sich die Fenster, die Hausfrauen  freuten sich über ein bisschen Abwechslung.
Ach so, ich vergaß ja zu sagen, wer Jakob eigentlich war. Er war ein Leierkastenmann!

       Auf ein altes Kinderwagengestell hatte er einen farbenfroh bemalten Leierkasten montiert, und zog nun damit durch die Strassen. Jakob hatte sogar einen Gewerbeschein! Ob er den damals schon brauchte, kann ich nicht sagen, jedenfalls betonte er das immer, wenn jemand misstrauisch blickte.
Seine Musikwalzen, die er besaß, beinhalteten nur zehn Lieder. Und die wurden dann jeweils gespielt - oder gedreeeht, wie er es nannte.
Der Favorit der Hausfrauen war dabei »Ännchen von Tharau«, ein altes ostpreußisches Volkslied.
Das spezielle Lieblingslied des kleinen fünfjährigen Jungen, der ich damals war, hieß »Im grünen Wald, dort wo die Drossel sang ...«
(Das war immer so schön traurig, weil darin der Jäger ein armes Rehlein tötet. Jakob sang dazu meist herzzerreißend den Text.)

      Am Ende seiner Darbietung, es waren meist fünf Lieder, die er »drehte«, klatschten alle Zuhörerinnen Beifall, dann flogen die »Sechser und Groschen« schön eingewickelt in Papier, aus den Fenstern, ich half dann dem Alten beim Aufsammeln der Münzen. Darauf bedankte Jakob sich bei allen, in dem er schwungvoll seinen Hut zog, dann schob er seinen Leierkastenkarren weiter. Er vergaß allerdings nie, mir einen Groschen für meine »Mitarbeit« zu schenken, den ich dann umgehend in Brausetütchen umsetzte.
Ein Jahr später kam Jakob nicht mehr auf die Hinterhöfe der Strassen. Auf Nachfragen von mir erhielt ich nur ausweichende Antworten. Irgendwann entschwand Jakob dann auch meinem Gedächtnis, bis er heute urplötzlich wieder vor meinen Augen erschien.
Niemand wusste, wo Jakob damals geblieben war. Er bleibt mir heute im Gedächtnis als ein sympathischer Mensch in meinem jungen Leben. Dass er Jude war, hörte ich erst viel später ...

©by H.C.G.Lux

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Kommentare (11)

ehemaliges Mitglied

Lieber Horst..wieder..eine wunderbare Geschichte hast du geschrieben...Vielen Dank....Henryk


Dass er Jude war, hörte ich erst viel später ... .....das kann jeden Mensch behrueren....⭐️


 

Pan

Lieber Henryk!
"Das kann jeden Menschen berühren ..."
Ich stelle fest, dass Du verstanden hast, was ich damit ausdrücken wollte! 
Dafür möchte ich Dir herzlich danken. 
Liebe Grüße - und bleib gesund -
Horst
🔯

ehemaliges Mitglied

Beim Lesen Deiner Geschichte, lieber Horst, kam bei mir auch die Erinnerung. Leierkasten- oder Drehorgel-Männer waren regelmäßig bei uns auf den dreimal im Jahr stattfindenden Send-Märkten. Aber in dem Gedudel der übrigen vielen Karussells gingen sie fast unter.

Ersetzt wurden sie später in meiner Heimatstadt durch s. g. Alleinunterhalter, die dann auf Hochzeiten oder Familienfeiern "gebucht" wurden, zum Tanz aufspielten. Aber das war nicht im Entferntesten das Erleben einer Drehorgel am Straßenrand …

Heutzutage machen fast alle einen Bogen um die Musiker, die in Fußgängerzonen vor Geschäften stehen und ihre Geige, Mundharmonika oder sonst ein Instrument spielen - die einen quälen ihr Instrument, die anderen kann man fast als Perfektionisten sehen … Zumeist werden sie nach  einer gewissen Zeit vor dem Geschäft vom Personal verscheucht, weil die sich wiederholenden Melodien nerven?!

Erinnerungen in einer Zeit, in der die derzeit fast brotlosen Musiker von ihren Balkonen gemeinsam Konzerte spielen …

Danke für Deine Erinnerung in Coronazeiten sagt

Uschi
 

Pan

Ihr lieben Commentatoris, sehe Euch alle vor mir, rundherum um den Leierkasten stehen,  gebannt den uralten Schmonzetten zuhörend und in sich hineinhorchen, was da noch für ein Echo hörbar ist.
So erging es mir jedenfalls, als ich diese Erinnerung aufschrieb. Etwas später erst wurde mir klar, welch ein Zeitzeugnis das eigentlich ist: Der (reiche) Jude, der mit seinem Kurbelinstrument durch die Straßen zog, (seine paar Kröten damit verdiente, superreich dabei wurde und dann sein Gold auf die jüdischen Großbanken transferierte !) leider dann aber wegen seines Reichtums von den schwarz-braunen Horden abgeholt wurde und in irgendeinem Ghetto verschwand.

Mein Jakob (wirklich 'mein!') war ein liebenswerter Mann, der stets lustig war und nie in seinem Leben auch nur einem Menschen Böses getan hatte, denke ich so bei mir. Jedenfalls blieb er mir so im Gedächtnis. Und ob ich heute irgendeinem Drehorgelspieler begegne oder nicht - es ist niemals dasselbe Erlebnis für mich! 
Shalom Alejchem -
wünscht
Horst

Monalie

hallo Pan,ja genau so habe ich den Leierkasten -Mann auch erlebt,ich habe ihn geliebt und habe auch das Geld für ihn eingesammelt,eine schöne Zeit so unbeschwert und rein. Danke für deine Geschichte habe sie gern gelesen,netten Gruß Mona

Syrdal


Und der Jakob der Kindertage war und ist ganz bestimmt eine der wichtigsten Lebensbegegnungen, selbst wenn man sich das lange Zeit nicht bewusst macht – eine Begegnung, die sich bis in die Altersjahre seelentief ins Gedächtnis „eingeschrieben“ hat...

...denkt
Syrdal
 

ehemaliges Mitglied

Eine wunderbare Geschichte und dann der letzte Satz, wie das Tor in eine dunkle Zeit...
danke für´s Erzählen

nachdenklichen Gruß
WurzelFluegel

Muscari


Genau das sind die Geschichten aus alter Zeit, die ich liebe.
Wie Renate schon schreibt, gibt es diese Jacobs immer noch, wenn vielleicht auch etwas verändert.
Doch zum 94. Geburtstag meiner Tante legten die Gäste zusammen, um einen solchen Jacob zu "mieten" und ihr damit eine Freude zu bereiten.
Sein Repertoire ließ keine Wünsche offen. Wir konnten aus einem Verzeichnis diejenigen Lieder auswählen, von denen wir wussten, dass Tantchen sie kannte und liebte.
Und das Beste: seine Einnahmen spendet er krebskranken Kindern.

So grüße ich Deinen Jacob und Dich ganz herzlich.
Andrea

ladybird

Lieber Horst,
diese "Jakobs" sind zum Glück noch nicht ausgestorben, sie gehen wohl nicht mehr zur Freude der Bürger, durch die Hinterhöfen. Doch man kann sie bei Hochzeiten und anderen Anlässen "mieten".
Und sie reißen ihr Publikum immer wieder in die Begeisterung, weil sie eine solch schöne, friedliche Erinnerung sind an die Vergangenheit sind.
Mit Dank und Freude für diesen Jakob, der auch mich an meine Jugend erinnerte,
herzlichst
Renate

Urseli

Eine schöne, wenn auch traurige Geschichte.

Lieben Dank für das Erzählen, mit uns Teilen.

Grüße, Ursel


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