Inkognito
Seit Beginn der kalten Jahreszeit war ich stolzer Inhaber eines festen Wohnsitzes. Ich wohnte in einem Schloss am Stadtrand, im Prominentenviertel. Genauer gesagt, in der ehemaligen Schlossschänke, deren Bausubstanz nicht weniger baufällig war, als das Schloss selbst. Niemals hätte ich gedacht, dass in so einer feinen Gegend derart abgewrackte Löcher als Wohnraum vermietet werden. Meine soziale Situation ließ allerdings keine Kritik zu. Im Gegenteil, ich war froh, überhaupt ein Dach über den Kopf bekommen zu haben. Für einen obdachlosen Trinker wie mich, war das keineswegs selbstverständlich.
Ich wohnte nicht allein hier, meine Mitbewohner waren durchwegs verkrachte Typen oder sonstige Verlierer. In meinem Beruf als Fliesenleger arbeitete ich lange nicht mehr, bis vor kurzem war ich Tagelöhner, zuletzt konnte ich das auch nicht mehr machen, der Suff nagte zunehmend an Körper und Seele. Ich wurde immer schwächer, manchmal fürchtete ich mich vor dem eigenen Schatten.
Für mich war diese Bude trotzdem ein Glück, denn seit ich hier wohnte, sah ich den Kontrollen der Polizei gelassen entgegen. Wenn ich meine vornehme Adresse nannte, rollten sie mit den Augen. Manche hatten ihren Spaß daran, Leute wie mich ständig zu filzen. Sie nannten mich lachend den Schlossgeist und schüttelten den Kopf.
Zuweilen, in nüchternen Momenten, versuchte ich zu ergründen, was mit mir geschehen war – und wurde immer ratloser. Das Rad zurückdrehen? Aussichtslos. Es war schon zu lange her, dass ich ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft war. Damals, nach einem feuchtfröhlichen Absacker machte ich erstmals die Bekanntschaft mit meinem Dämon. Er saß auf meiner Schulter, entpuppte sich als unsichtbarer Einflüsterer. Er war es, der meine Wege bestimmte.
Ich nannte ihn „Inkognito”, er wurde mein Komplize. Niemand wusste, dass es ihn gab. Inkognito trieb mich an und jauchzte euphorisch, wenn ich in der Welle war. Es war mein erklärtes Ziel, diesen Level konstant zu halten. Doch das gelang mir nur selten, meistens stürzte ich ab und verfluchte meinen „Freund”, weil er immer mehr wollte. Manchmal, an nüchternen Tagen, probte ich den Aufstand, versuchte zu widerstehen und verweigerte ihm die Gefolgschaft, doch der Kerl war hartnäckig.
Aber dann kam der Tag, an dem ich beschloss, erstmals über IHN zu sprechen, ihn quasi zu verraten. Ich würde mit Ilse darüber reden. Ilse war ungefähr in meinem Alter, blitzgescheit und bildschön. Ich glaubte das zu wissen, obwohl ich sie noch nie gesehen hatte. Ich liebte ihre Stimme, ihr Timbre war etwas ganz Besonderes. Ilse konnte ich vertrauen, sie würde mich nicht auslachen, mich nicht für verrückt halten, wenn ich ihr von Inkognito, meinem Dämon erzähle. Ilse war meine große Hoffnung. Nicht als Frau, als Mensch. Sie wird mir den Pfad zeigen, der aus dem Dunkel führt. Voraussetzung war: Bloß nicht zu viel trinken, sonst vergesse ich den Termin heute Abend – am Telefon der Telefonseelsorge.
Kommentare (4)
@nnamttor44
Hallo Uschi, da gibt es nichts zu entschuldigen. Du warst die klassische Co-Alkoholikerin und hast nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Dass es eigene Selbsthilfegruppen für Angehörige gab und gibt, hat sich damals vielleicht noch nicht herumgesprochen.
Es gehört zum Krankheitsbild eines Alkoholikers, dass er seine Umgebung mit Lippenbekenntnissen und Lügen eindeckt. Ich selbst war ein begnadeter Schauspieler, wenn es darum ging, meine Abhängigkeit zu verbergen.
Ich will hier kein Referat halten du weißt ohnehin durch deinen eigenen langen Weg, was falsch war. In der Rückschau ist man immer gescheiter.
Er wollte und konnte nicht anders, das ist eine individuelle Form dieser verfluchten Krankheit, die dem Betroffenen vorgaukelt, dass er sie nicht hat.
Danke für deine Worte
und Machs gut!
Ferdinand
Liebe Andrea,
danke für deinen Kommentar! Und ja, du hast recht, ich hab ihn besiegt, aber ich bin auf der Hut, der Bursche ist zäh und wartet nur auf eine Gelegenheit. Irgendwann habe ich erkannt, dass er es gar nicht mag, wenn man über ihn spricht. Das ist meine Therapie, auch heute noch.
Liebe Grüße aus Salzburg
Ferdinand
Lieber Ferdinand,
es überrascht mich immer wieder, wie offen Du heute über "Inkognito" sprechen und schreiben kannst.
Das gelingt Dir sicher deshalb so perfekt, weil Du ihn endlich besiegt hast. Und das dank Ilse.
Deine Geschichten sind aufregend, spannend und berührend zugleich.
Danke, dass Du sie auch hier öffentlich machst.
Andrea
So ganz kann ich mich nicht wirklich in Deine Alkoholiker-Geschichte einleben, lieber Ferdinand, denn ich war nie in so einer Situation.
Doch ich weiß, dass mein Mann diesem Inkognito wohl schon mit 14, 15 Jahren begegnet sein muss, denn das war das Alter, in dem er nach seinem Azubi-Altag der seinem Zuhause gegenüberliegender Stammkneipe seine Besuche abstattete. Nach Hause zu gehen, wo der Tisch zwar für den Untermieter reich gedeckt war - aber nicht für ihn, lockte es ihn nicht! Seine Mutter war psychisch krank ...
Und wenn wir uns nach der Tanzschule trennten, er mich nach Hause gebracht hatte, erst dann ging er in seine Stammkneipe. Und wenn die Polizeistunde kam, verschwand er mit Freunden in einer Hotelbar einer Nachbarin, wo die Tochter des Hauses den Jungs noch einige Getränke spendierte ...
Er hat seine Alkoholsucht Jahrzehnte lang zu vertuschen verstanden. Es führte auch dazu, dass er - als wir geheiratet hatten - von mir ein Modellbau-Auto zu Weihnachten bekam, dieses noch im Wohnzimmer zusammen baute und dabei zwar eine Flasche Pils daneben trank, aber ich hatte nicht den Eindruck - jung und naiv wie ich noch war - dass es für ihn nötig war, Alkohol zu trinken. Erst als wir in eine Wohnung auf dem Land umgezogen waren, war der Keller groß genug, dass er sich eine Werkbank dort einrichten konnte und dort war die Versuchung größer, mehr Pils dazu zu trinken, wenn er nun Schiffsmodelle baute - reineweg als Alibi für mich Und sich. Es sah ja niemand, wieviel Pilschen er dau trank. Stattdessen erklärte er mir, dass er sich in diesem Ort nun keine Stammkneipe mehr aussuchen wolle ...
30 Jahre später wählte er bei Spaziergängen miteinander Umwege aus, die nicht in der "schrecklichen Haustür" des Blaukreuzes vorbeiführten! Und wenn es doch einmal nicht zu umgehen war, bekam ich böse Bemerkungen oder Blicke!! Da war dann ich Schuld daran, dass er denken sollte, ich würde ihn vielleicht für bedürftig halten, dort mal hinzugehen! So etwas dachte ich erst, als mir sein HA verriet, dass er - sollte er als Dozent seinen Studenten mal einen typischen Alkoholiker vorführen müssen - meinen Mann als bestens präsentierbar dafür hielt. Führte dazu, dass ich begann, ihm keine Bierkisten mehr zu besorgen, meine Unterlagen zu sammeln, um ihn dann zwei Monate später einfach zu verlassen ... Irgendwann hatte er es begriffen, Sein Inkognito hatte ihn längst dazu überredet, seine 0,3-l-Pilsflasche in ein 0,4-Glas zu schütten und den Rest mit Orangensprudel aufzufüllen. Er erklärte mir doch, dass er gar keinen Alkohol tränke, das sei doch Sprudel!! Dass so ein wenig Sprudel dem Alkohol vor dem Genuss den Garaus macht, glaubte er mir weis machen zu können, doch es war längst vorbei, zu späte. Zu ändern war nichts mehr, sein Krebs hatte ihn fast schon geschafft.
Er hat seinen Inkognito nie mehr abschütteln können. Sogar ins Krankenhaus musste ich ihm in einer Aktentasche, die extra für drei Flaschen umpräpariert war, Bier bringen, damit er schlafen könne ... Ich war so dumm ...
Entschuldige mein langes Geständnis
bittet Uschi mit liebem Gruß nach Salzburg