Im Cyberspace zum Abitur

Autor: ehemaliges Mitglied

Im Cyberspace zum Abitur
Geistige Singles durch Bits und Bytes im Internet-Highway?

Ich sehe Heinz-Peter zu ungewohnter Zeit auf der „Kö“. Er hat jetzt „Freizeit“ Irgendwann während des Tages, wenn er Bock drauf hat, finde ich ihn in seiner Workstation an seinem PC, verbunden übers Modem mit einem Internet-Special-File, wo er, mit Mouse und Click, Tastatur und Menü, Mathe von einem Wissenden, vorgekaut bekommt. Ich sehe, wie er lernt. Kapiert er es nicht gleich – return – Doppel-click, bis es sitzt. Mathe und alles andre auch. Mit Leichtathletik, Geräteturnen und Schwimmen hapert es allerdings „aber das kriegen die auch noch hin“, meint H.-P., mit „Virtual-Reality-System“ im Cyperspace. Dann, meint er lächelnd, zieht er sich seine Glove-Talkers an und schon schwimmt er. Mit Bill Gates Hilfe wird er auch noch im Ganzkörper-Daten-Outfit den Kurs >Tiefseefischverhalten< belegen können. Ich bin sprachlos. H.-P. auch.
Mit dem Cyberspace wird man eines Tages auch Stabhochsprung und Speerwerfen einloggen können. Räumliche Dimensionen spielen damit ja keine Rol-le. Selbst Anabolika erübrigen sich. Alles wird per Bildschirm erledigt. Und Touch-Screen. CD-ROM, DVD, iPod, Quad-Speed und Internet – sie ersetzen langwierige Aufenthalte in herkömmlichen Schulklassen. Sympathien und Antipathien gegenüber Lehrern und Klassenkameraden bedürfen keiner Wertung mehr. Selbst Drugs sind out. Hat er mal, H.-P., keine Lust mehr auf Latein oder Wirtschaftskunde , geht er auf die Kö, wo eben ich ihn neulich traf. Oder er haut sich hin und betrachtet seine Pins round-about. Abi modern? H.-P. und ich sind real, das mit dem Abi bei uns noch fiktiv.
In Californien hat man dagegen schon begonnen, auf diese Weise seinen Abschluß an der Highschool zu machen. Mit einem per Fax ausgedruckten Beweis-stück, dem „Certificate of - xyz“ kann man sich stolz der Industrie oder einer Uni präsentieren. Nervende Lehrer sind out, ebenso das Durcheinander in den Klassen, das ewige Frage- und Antwortspiel, die ständig anderen Meinungen, die nur „Streß machen“ – out! Nur das soziale Umfeld freilich, das Mit- und Füreinander, Entwickeln von Gefühlen, Liebe, Ärger, Mein, Dein und Unser, also Gemeinschaftlichkeiten, verkümmern. Dafür gibt´s im ständig laufenden TV die Zitter-Comics á la Space-Ghost oder Alf. Plus eingeblendetem Lachen. Die Verantwortlichen Initiatoren meinen, soziale Verhaltenslücken werden beim Football, in der Disco oder beim Harley-Davidson-Treff genügend gefüllt. Im Um-Alltag gäbe es ausreichend Ersatzgelegenheit, Kommunikationsdefizite zu minimieren, menschlich einfaches, soziales Verhalten abzugucken. Nacktes Wissen vermitteln, weltweit satellitenverbunden, auf Ressourcen zurückgreifen können, die fast universitär übers Internet angeboten werden, das sind immense „Vorteile“, die kein herkömmliches Schulsystem zu bieten vermag. Ist hier nicht Einsiedelei angesagt? Jeder für sich, alle Daten für einen! Bleibt die Intelligenz auf der Strecke, macht nichts: die gibt´s schon auf Chips: Stichwort KI, „künstliche Intelligenz“, natürlich!
Auch das ewig problematische Schreiben ist out. Dafür gibt´s WORD und OF-FICE, verbessert durch VISTA. Und das Rechtschreibprogramm? Auch out. Immer neue Rechschreibstrukturen machen Rotstifte überflüssig. Man schreibt, wie man spricht. Da man mit dem PC allein ist, wie ich es bei H.-P. gesehen und gehört habe, kommen verbal lediglich eine Reihe, immer wiederkehrende Anglismen oder ständig verfügbare Verbalinjurien zur Anwendung. Außerdem: Neue perfekte Generationen von Sprachsystemen, die, angeklickt mittels Laserdrucker randgenau und leserlich (!) schreiben, liegen schon einsatzbereit. Mit der japanischen und finnischen Grammatik muß man sich nicht mehr rumschlagen – der PC macht´s möglich. Schöne neue Welt.
Eigentlich bedauere ich H.-P. : Bei ihm und vielen anderen wird, ändert sich nicht der Ansatz der Methode, die Ich-Bezogenheit überwiegen, das Vereinsamen, das Verarmen der Gefühle. Die Ansprechbarkeit auf geistige und seelische Empfindungen wird verkümmern. Meinungsbildung durch Diskussion wird überflüssig, man holt sich die Verschiedenartigkeit global verteilter, bildschirmbetrachtender Singles und deren „Denke“ auf den eigenen grauen 91“ oder 21“-Kasten und gibt seine statements dazu ab. „Streit austragen“ – out.
Noch kostet drüben dieses PC-Internet-Wissensvermittlungssystem mit Abi-Ersatzdokument an die 4.000 – 8.000 $. Einige Youngsters haben sich schon eingeschrieben. Aber ist diese – sicher noch in den Kinderschuhen steckende multi-mediale Datenautobahn in die kleinen grauen Zellen der zukünftigen Wissenschaftler, Juristen und Manager, wirklich ohne Crash befahrbar? In dieser Form und mit diesen Folgen hoffentlich nicht. H.-P. wurde nachdenklich, als ich ihm sagte, er solle die Finger von http//www.xp.yp lassen.


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